47 Saiten Arbeit
Marcel Tournier: Vers la source dans le bois (1922)
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Charlotte Cassedanne, die Mutter des Autors, in den 1970ern (Foto: privat)
Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen ist Sortieren. Ich knie auf dem blauen Teppich im Wohnzimmer, vor mir ausgebreitet hunderte knisternde, quadratische Papiertütchen mit dem dramatisch geschwungenen Aufdruck Pirastro.
47 Saiten hat eine Konzertharfe, jede ist anders und kann jederzeit reißen. Deshalb müssen Harfenist*innen – wie meine Mutter – immer Ersatz dabei haben. Einen ganzen Koffer voller Ersatz. Mein Job als Zehnjähriger war es, herauszufinden, von welchen Saiten nur noch bedenklich wenige da waren, damit sie rechtzeitig nachbestellen konnte. Also sortierte ich. Von der längsten dicken Stahlsaite bis zur zartesten, kürzesten Darmsaite. 47 Stapel, in der richtigen Reihenfolge zurück in den Koffer, damit Ersatz im Notfall schnell zur Hand ist.
47 Saiten, von denen sich vor allem die aus Schafsdarm gerne verstimmen, insbesondere bei Temperatur- oder Luftfeuchtigkeitsschwankungen. Weshalb damals (in den 1990ern) die Harfe immer als erstes auf der Bühne saß – und stimmte. Zu den stapelweisen Ersatzsaiten kommt also noch der Stimmschlüssel mit in den Harfenkoffer. Plus Schere und Kneifzange, um die Saiten zu kürzen. (Heute sieht die Welt anders aus: Saiten aus Nylon oder Kohlefaser müssen viel seltener gestimmt werden, da entfällt ein Großteil des Aufwandes, aber dafür haben die modernen Saiten nicht den berühmten “warmen Darmklang”.)
47 Saiten, die zu zupfen für ordentlich Hornhaut an den Händen sorgt. Und da auch wunde Finger keine Seltenheit sind, haben Harfenist*innen immer eine Packung Hirschtalg dabei. Auch dieses blaue Plastikröhrchen aus der Apotheke gehört in den Harfenkoffer.
47 Saiten, die nicht so laut sind wie die Blechbläser, die manchmal direkt neben der Harfe auf dem Podium sitzen. Deshalb hatte meine Mutter immer ein Stimmgerät dabei, dessen Mikrofon wie ein Stethoskop auf den Resonanzkörper gedrückt wird, um den Ton selbst in lauter Orchesterumgebung abzunehmen (was auch nicht immer geklappt hat). Das kleine Gerät, in meiner Erinnerung von der japanischen Firma Korg, kommt auch in den Harfenkoffer.
Und hat man das ganze Setup beisammen, ist noch kein Ton geübt. Harfe ist Arbeit, das “Instrument der Engel” ein komplexer Apparat aus tausenden Einzelteilen. Davon ahnt das Publikum nichts. Es darf sich, so der Titel des heutigen Stücks, an eine “Quelle im Walde” versetzt fühlen, die der französische Komponist und Harfenist Marcel Tournier in seinem kurzen Stück von 1922 vertont hat.
“Vers la source dans le bois” ist ein beliebtes Zugabenstück: Effektvoll, suggestiv und komponiert mit einer solch intimen Kenntnis des Instruments, wie man sie nur als Harfenist*in hat. (Und es ist gar nicht mal so schwer zu spielen, sagt meine Mutter.)
Achtet mal genau auf die Hände des Harfenisten im Video bei 3:33. Er drückt eine Saite auf halber Höhe mit dem Zeigefinger ab, zupft dann den oberen Teil der Saite mit dem Daumen und zieht dabei fast gleichzeitig den Zeigefinger weg: So entsteht ein doppelt so hoher, gedämpfter Ton, ein sogenanntes Flageolett [Fla-scho-LETT]. Hört es euch an:
https://www.youtube.com/watch?v=rDMPO3Q6Tws (Abre numa nova janela)Hier gibt es das Stück im Streaming (Abre numa nova janela).
Schöne Grüße aus dem unglaublich heißen Berlin
Gabriel
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