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Der Moment des Verstehens

John Adams: Harmonielehre (1985)

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Der Moment, in dem man etwas verstanden hat, das Verständnis aber noch nicht selbstverständlich geworden ist – das ist der wertvollste Moment. In diesem Moment fühlt man noch Empathie für das Nichtverstehen. Je länger dieser Moment zurückliegt, desto selbstverständlicher wird das Wissen und desto schwerer wird seine Vermittlung. Man vergisst, wie sich das Leben vor dem Wissen angefühlt hat. Und irgendwann weiß man nicht mehr, wie das ist, etwas nicht zu wissen. 

Wissen überschreibt Nichtwissen und wenn man nicht aufpasst, überschreibt es auch die Empathie für das Nichtwissen. Gute Lehrer:innen aber kennen Wissen von beiden Seiten. Deshalb können sie ihre Schüler:innen sicher über die Grenze führen, die je nach Gegenstand eine scharfe Demarkationslinie ist oder ein weites Niemandsland. 

Der Wiener Komponist und Kompositionslehrer Arnold Schönberg schrieb: “Aus den Fehlern, die meine Schüler infolge ungenügender oder falscher Anweisungen machten, habe ich gelernt, die richtige Anweisung zu geben.” Der Lehrende lernt von den Belehrten. Sie erinnern ihn daran, wie es war, noch nicht zu wissen; sie erinnern ihn, dass der zurückgelegte Weg irgendwo einmal begonnen hat. Schönbergs Lehrbuch, das mit diesem Dank bei den Schüler:innen beginnt, erschien 1911 unter dem Titel “Harmonielehre”. 

Und diesen Titel übernahm der amerikanische Komponist John Adams für ein großes Orchesterwerk, das er 1984 nach einer langen Schaffenskrise zu komponieren begann. Im Verlauf der des dritten Satzes, den ich euch heute vorstellen möchte, wird eine einfache Idee, es ist nicht mal eine richtige Melodie, mit immer mehr Material angereichert, das Gewebe verdichtet, der Klang immer mehr gesättigt, bis man unmerklich an einem Punkt angekommen ist, bei dem der Zuhörende nicht mehr fragt, wohin die Reise geht, sondern sagen kann: Wir sind da.

Das klassische Harmonieverständnis befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Krise, Schönberg selbst arbeitete maßgeblich an seiner Überwindung mit. Und auch Adams zweifelte gut siebzig Jahre später an der Zukunft tonaler Musik, also der Musik, die seit Jahrhunderten das europäische Verständnis von “schöner” Musik prägt. Adams wollte die Tonalität nicht aufgeben und auch davon handelt seine “Harmonielehre”. Der Titel ist eine Reappropriation von Schönbergs Buchtitel. Adams respektiert Schönberg, aber er liebt ihn nicht. Denn ohne das tonale Harmonieverständnis ist Adams’ Arbeit undenkbar. Seine Musik ist in dieser Hinsicht also völlig unmodern, die Lehre aus seiner “Harmonielehre” aber ist: Die Harmonie lebt.

Hört euch den letzten Satz aus John Adams’ “Harmonielehre” an:

https://www.youtube.com/watch?v=peuuOYs5o38 (Abre numa nova janela)

Hier gibt es das Stück bei den gängigen Streamingdiensten (Abre numa nova janela) zu hören.

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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Tópico Moderne

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