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Wenn man von Freunden, die beim Finanzamt arbeiten, auf Vorgänge im US-Historikerverband angesprochen wird, dann kann man davon ausgehen, dass drüben die Luft brennt. Und tatsächlich wird dort gerade erbittert gestritten, und weil noch jede US-Debatte irgendwann als halbvertrockneter Ableger in Deutschland angekommen ist, wo er mit Empörungsdünger von Debattenmagazinenauf die Größe eines Mammutbaumes hochgepäppelt wird, müssen wir uns gleich damit beschäftigen.

Was ist passiert? Der amerikanische Historiker James H. Sweet ist in diesem Jahr zum Präsidenten der American Historical Association (AHA) gewählt wurden und hat in diesem Amt das Privileg und die Bürde, für das Verbandsmagazin eine monatliche Kolumne zu verfassen. Im August äußerte er sich zu dieser Gelegenheit unter dem Titel „Is History History?“ über einen ganzen Wust von Entwicklungen, über die er unzufrieden ist. Was folgte, lässt sich am besten in den Worten des geschätzten Johannes Franzen zusammenfassen, der das über das elende Winnetou-Thema schrieb (Abre numa nova janela):

„Der Schematismus, mit dem diese Debatten geführt werden, verbreitet inzwischen vor allem ein Gefühl von intellektueller Klaustrophobie, von lähmendem geistigen Überdruss.“

Tatsächlich haben wir mittlerweile fast jede Woche einer dieser „Debatten“ in der sich eine Gruppe zu Wort meldet, die vor der Dezentralisierung der Massenkommunikation, also vor dem Social Web, eher selten gehört wurde. Solche neuen Impulse, mal ganz wertungsfrei gesprochen, rufen natürlich Widerspruch hervor bei denen, für die der Status quo bisher ganz bequemwar – es ist kein Zufall, dass sich fast immer Sigmar Gabriel aus dem politischen Ruhestand zu Wort meldet. Es sind also immer Zielkonflikte zwischen Emanzipation und Besitzstandswahrung oder, wenn man es andersherum werten möchte, zwischen Unruhestiftenden und einer befriedeten Kulturgegenwart. Im Fall von James Sweet ist ein wenig Hintergrundwissen nötig, also erspare ich es den geneigten Lesenden nicht, sich auch noch diesem Schematismus auszusetzen.

Sweet ist unzufrieden mit der Gegenwart der amerikanischen Geschichtswissenschaft. Das allein dürfte der übliche Aggregatzustand von Verbandschefs internationaler Geisteswissenschaften sein und ist nicht allzu verwunderlich. Er macht das aber am grassierenden „Presentism“ seiner Disziplin fest, und damit wird es zu der Diskussion, die er jetzt an der Backe hat. Je nachdem wo man guckt wird Presentism mit „Präsentismus“, „Gegenwartsdenken“ oder „Gegenwartsbezogenheit“ übersetzt. Das trifft es nicht so richtig, es geht um eine Einengung auf unsere Gegenwart auch in der Forschung, die sich eigentlich der Vergangenheit widmen soll.

Sweet wirft das der gesamten Disziplin in den USA vor, auf zwei Weisen: Einmal sieht er eine Einengung von Forschungsgebieten, -förderungen und der Ausbildung auf historische Gebiete der Zeit nach 1800, also grob der Entstehung des demokratischen Staatswesens in den USA, unter Vernachlässigung der Colonial Times, des europäischen und globalen Mittelalters oder gar der Antike. Das ist, soweit ich das überblicken kann, nicht sonderlich strittig und auch empirisch belegbar, wobei die Frage ist, über wen er da eigentlich klagt: Die individuellen Historiker:innen, die sich nun einmal gegenwartsnäheren Themen (die auch schon 222 Jahre alt sein können) widmen? Der Forschungsförderung? Den Universitäten? Oder richtet er das Lamento an sich selbst?

Der zweite, gravierende Vorwurf den Sweet als „Presentism“ bezeichnet, betrifft seine Beobachtung, dass die Geschichte nur noch durch die Linse der Gegenwart, durch die Perspektiven des 21. Jahrhunderts analysiert und mit unseren moralischen Vorstellungen bewertet würde:

„Wenn wir die Vergangenheit nicht durch das Prisma zeitgenössischer Fragen der Sozialen Gerechtigkeit - Race, Geschlecht, Sexualität, Nationalismus, Kapitalismus - lesen, machen wir dann Geschichte, die relevant ist?“

Der Vorwurf ist nicht neu, er kam schon auf, als sich in den 1950er Jahren Historiker anmaßten, eine deutsche Zeitgeschichtsforschung einzurichten, die sich auch mit dem Nationalsozialismus beschäftigte – und darunter dann eben zwangsläufig immer mehr jüngere Forschende waren, die selbst nicht in der Diktatur in Verantwortung gewesen waren. Was bildeten die sich ein, Urteile über die Mitläufer- oder gar Täterschaft der Älteren zu formen, wenn sie selbst nicht den Druck des Systems gespürt hatten und in einer ach so bequemen Demokratie lebten?

Auch heute wird dieser Vorwurf immer wieder laut, er ist mir in meinem Studium oft begegnet. Er ist mitunter durchaus berechtigt – nehmen wir mal einen eher banalen, aber populären Vorwurf als Beispiel: den, dass die Serie „Friends“ homophob sei, weil Chandler oft mit der Homosexualität seines Vaters, eines Dragkünstlers, hadert. Die Witze dazu würden heute sicher so nicht mehr in einer Mainstreamserie vorgebracht, sie müssen aber im Kontext betrachtet werden, in der Zeit, in der sie entstanden – und da sieht „Friends“ dann deutlich besser aus, weil es als eine der ersten Serien eine gleichgeschlechtliche Hochzeit (liebevoll, nicht als Witz, negative Reaktionen der Familie thematisierend) zeigte und in Nebenrollen ein banal-langweiliges lesbisches Paar mit Kind noch dazu. Wir haben hier also zwei Maßstäbe anzusetzen: Den von heute, der vieles (fangen wir vom Fatshaming gar nicht erst an!) verurteilenswürdig findet, und den im Zeitkontext, der die Fortschritte würdigt, die von der Serie in ihrer Gegenwart mitbetrieben wurden.

Es ist also eigentlich ganz einfach: Historiker:innen betrachten die Vergangenheit nicht so, als würden deren Akteure in unserer Gegenwart agieren und unsere Standards von Logik, Ethik und Entwicklung kennen – wir maßen uns aber auch nicht an, unsere eigene gegenwärtige Prägung, die Themen, die uns und unsere Zeit prägen, komplett ausblenden zu können. So eine Vorstellung von vollständig „objektiver“ Geschichte wäre unehrlich und ohnehin zum Scheitern verurteilt.

James Sweet sieht das offenbar anders. Er ist Fachmann für Afrika und Afrikanische Diaspora und damit Teil eines gerade sehr stark diskutierten Gebietes gerade der amerikanischen Geschichtspolitik. Einen großen Teil seines Artikels macht die Kritik am „1619 Project“ aus, einem großen journalistischen Projekt der New York Times, das amerikanische Geschichte durch die Linse von Sklaverei und Rassismus erzählt. Das Projekt ist einflussreich und heiß debattiert, Historiker:innen haben viele kleine und große Entgegnungen dazu verfasst, Sweet gehört dazu. Ihn stört daran so viel, dass er in seinem Artikel wild springt zwischen verschiedenen Zeitebenen und der Frage, was eigentlich Geschichtsschreibung ist. Sein Argument dabei: Das „1619 Project“ ist Journalismus und nicht Wissenschaft, und darf deswegen Geschichten von „Gut und Böse“ aus einer Gegenwartsperspektive erzählen. Weil es aber hinterher zu Unterrichtsmaterialien umgearbeitet wurde, nimmt es für sich in Anspruch, „History“ zu sein und wird diesem Anspruch aber nicht gerecht. Als Beleg dafür zieht er anekdotisch seinen Aufenthalt in Ghana heran, wo er ein für den Sklavenhandel wichtiges Fort besichtigte und bemerkte, welchen Einfluss das „1619 Project“ auf die Art hat, wie in Afrika die Geschichte der Sklaverei vermittelt wird. Das Problem: Er belegt das durch die Beobachtung, dass ein Schwarzer amerikanischer Besucher das entsprechende Buch gelesen hatte und der bestellte Reiseführer auf seiner Tour hauptsächlich über die versklavten Menschen redete, die ins Gebiet der heutigen USA gebracht wurden.

Das Argument fällt wie ein Kartenhaus zusammen, weil Sweet keinerlei Belege dafür anführen kann, wie die Führungen aussehen, wenn sie sich nicht an Amerikaner:innen richten. Ungefähr die Hälfte der jährlichen Besucher:innen des Forts kommen aus dem Ausland, es wäre geradezu absurd zu glauben, dass den Interessierten aus Ghana, den vielen Schulklassen von dort, eine Geschichte der US-Sklaverei erzählt würde. Sweet beklagt den Fokus auf die USA, obwohl nur 1% der aus Afrika verschleppten Versklavten dorthin gebracht worden seien und vergisst dabei, dass er selbst nur aus der Perspektive des Amerikaners sprechen kann.

Zunächst hat mich die Vehemenz der Kritik, die Sweet entgegenschlug, auch verwundert – was auch an meiner eigenen Perspektive lag. Viele kleine Sätze habe ich einfach überlesen oder nicht zu Ende gedacht, bis ich merkte, wie sehr sie am Selbstverständnis gerade Schwarzer Kolleginnen und Kollegen nagen. Sweet fordert eine Rückbesinnung auf eine klassische historische Forschung, die sich freimacht von den die Gegenwart bestimmenden Themen: Das ist ein Luxus, den er als Weißer sich leisten kann, weil er weder in der Gegenwart noch in der von ihm erforschten Vergangenheit jemals als er selbst, als Person, systematisch bedroht war. Wer eine „Rückbesinnung“ auf „objektive“ historische Perspektiven fordert, möchte gerne zurück in eine Geschichtswissenschaft, die nahezu vollständig weiß dominiert war und Weißsein (und Männlichkeit selbstverständlich auch) als den Normalfall annahm. Ich denke nicht, dass man das „White Supremacy“ nennen muss, wie einige amerikanische Stimmen das taten, aber kritikwürdig ist es allemal. Der Präsident der AHA sollte in der Lage sein, seine eigene Situation zu reflektieren, bevor er solche Forderungen aufstellt – das wäre auch Grundvoraussetzung für jede von ihm geforderte Objektivität.

Dass das Thema so groß wurde, dass es auch in deutsche Finanzbeamtenzirkel vordrang, lag an der Folge der Veröffentlichung: Fachpublikum widersprach vehement, in Blogs, auf Twitter und sicher auch per Mail. Anderes Fachpublikum sprang Sweet beiseite. Und dann kamen Weiße Nationalisten wie Richard Spencer hinzu und verteidigten einen Professor für die Geschichte Afrikas, der sich das sicher niemals gewünscht hätte. Auch der ehemalige AfD-Kommunalpolitiker, regelmäßige „Tichys Einblick“-Autor und emeritierte Freiburger Frühneuzeitler Ronald G. Asch (Abre numa nova janela)sprang Sweet bei, indem er einen „Presentism“ ablehnte, der beispielsweise von einer Person des 17. Jahrhunderts dieselben Ideen einer Trennung von Kirche und Staat erwarte die wir heute anwenden. Asch blieb einen Beleg schuldig, dass das irgendwann jemand Ernstzunehmendes aus der Geschichtswissenschaft getan hätte, aber gut klang es natürlich erst einmal.

Es ist also wie so oft: Es wird ein Kulturpessimismus formuliert, der Belege schuldig bleibt, weil diese ja angeblich offensichtlich seien. Weder Asch noch Sweet würden so eine Behauptung ohne Fußnote ihren Studierenden durchgehen lassen. Sweet hat sich mittlerweile für seinen misslungenen Artikel entschuldigt, was natürlich wiederum als Beleg von „Cancel Culture“ gesehen wird, dabei geht es gar nicht so sehr um die Meinung, sondern schlicht um die Textqualität. Die schematischen Debatten taugen nämlich als Perpetuum mobile der Empörung. Das macht sie so attraktiv. Bis zur nächsten Woche. Ich bin gespannt, was dann wieder schlimm ist.

Was sonst noch war

Vor 30 Jahren begingen Deutsche das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Vor fünf Jahren hat Stefan Niggemeier über die Rolle der deutschen Medien geschrieben: https://uebermedien.de/19234/die-leute-werden-aus-den-fenstern-schauen-und-beifall-klatschen/ (Abre numa nova janela)

Die bekannteste unbekannte Veranda der USA steht in einem Suburb von Washington D.C.: Hier entstand das wichtigste Hardcore-Label der Musikgeschichte, hier schleichen sich immer wieder Fans und Nachwuchsbands hin, um ein ikonisches Foto nachzustellen. Mehr dazu bei Zocalo: https://www.zocalopublicsquare.org/2021/09/30/the-red-brick-bungalow-where-hardcore-made-a-home/ideas/essay/ (Abre numa nova janela)

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