Rostocker Jungs: Die kleine Legende einer großen Mannschaft
Kann sich in der größten Niederlage der größte Triumph einer Sportmannschaft verbergen? Die Rostock Piranhas spielten eine bemerkenswert wechselhafte Saison. Die am Ende in der Niederlage das hervorbrachte, was sich alle Eishockeyfans wünschen. Als ehrenamtlicher Helfer der Kommunikationsagentur sweet & salty (Abre numa nova janela) habe ich die Piranhas ein Jahr begleitet. Ein Saisonbericht, eine Reportage und eine Milieustudie.
Text: Hannes Hilbrecht Fotos: David Garbe | Bastian Horn
Geschätzte Lesezeit: 15 Minuten
Prolog
Die Saison der Rostock Piranhas beginnt an einem unwirklichen Ort für eine professionelle Sportmannschaft.
Es ist ein warmer Spätsommerabend im August 2023. Die Sonne hängt mittlerweile so tief, dass sie nicht mehr über die zumeist vierstöckigen Häuser der Kröpeliner-Tor-Vorstadt lugen kann. Dunkle Wolken, die sich nicht ergießen werden, sorgen für zusätzlichen Schatten. Die Stadt erholt sich von einem schweißtreibenden Tag.
Es ist seltsam, dass Eishockeymannschaften in den heißesten Phasen des Sommers geschmiedet werden, aber so will es der Spielplan. An diesem Abend treffen sich die 22 Jungs das erste Mal zu einem gemeinsamen Abendessen.
Wenige sind das dritte oder zweite Jahr in Rostock, für die meisten ist es eine Premiere. Angereist sind sie aus Budapest, Calgary, Oslo oder dem tiefsten Bayern. Sie alle werden im nächsten halben Jahr fast jeden Tag trainieren, mindestens zweimal die Woche gegen teils (wirtschaftlich) übermächtige Gegner antreten. Insgesamt, so eine grobe Schätzung, werden sie mehr als 330 Stunden auf der Autobahn verbringen. Die Liga erstreckt sich von Erfurt über das Ruhrgebiet bis ins niederländische Tilburg.
Der erste Abend, sagt Spieler Kilian Steinmann, sei aufgrund der baldigen Strapazen besonders wichtig. Er erklärt: »Die Mannschaft findet sich meist schon in der ersten Woche. Da merkt man, ob es passt, oder ob zu viele komische Typen dabei sind.«
Kilian Steinmann weiß damals noch nicht, dass er seine Mannschaft bald als Kapitän anführen wird. Er wirkt vermeintlich zu jung für den Job. Tage zuvor feierte er seinen 22. Geburtstag. Auf dem Eis ist er eher ein Rollenspieler, einer, der sich die Hände dreckig macht, einer, der auch mal zuhaut, trotz Kinderschokoladenverpackungs-Gesicht. Ein älterer Mitspieler taufte ihn deshalb Killer. Der alte Teamkollege ist lange weg, der Name ist geblieben.
Kilian Steinmann hat dieses erste Abendessen mitorganisiert. Anders als in den Jahren zuvor ging es für das Team nicht zum Italiener in Hafennähe, der Trüffel über die Pasta reibt.
Die Mannschaft ist stattdessen im »Marktkrug am Ulmenmarkt« eingekehrt, einem der kultigsten Läden der Stadt. Von außen und innen etwas abgewrackt, aber auf seine verschrobene Weise schön. Das Inhaberpaar Babsi und Holli führt die Kaschemme mit guter Küche und wildem Humor. Beide besitzen eine Dauerkarte für die Piranhas.
Für Kilian Steinmann ist letzteres der entscheidende Grund, den Marktkrug als Schmiedeofen auszuloten. Er sagt damals:
»Ich glaube, es ist viel besser für uns als Team, wenn wir dahin gehen, wo unsere Fans sind. Dass wir in einen Laden abhängen, der die Stadt, für die wir am Ende spielen, repräsentiert. Nicht immer schön, aber ehrlich und herzlich.«
Lenny Soccio, der Trainer, scheint zunächst am Urteil seines designierten Kapitäns zu zweifeln. Beim Blick auf seinen Teller mischt sich Panik in seinen Blick, er schüttelt mit dem Kopf.
Auf seinem Teller, so gestikuliert er mit dem Händen, liegt ein Schnitzel so groß wie ein halbes Schwein. Garniert ist es mit Bohnen, Bacon und Barbecue-Soße. Das Western-Schnitzel, ein Klassiker, für den Gaumen und den Cholesterinspiegel. Mit einem bangen Grinsen fragt der langjährige deutsche Nationalspieler Soccio weiter: »Das soll ich essen? Das ist ein potenzieller Herzinfarkt!«
Was er wahrscheinlich eher fragt: »Das sollen meine Spieler essen?«
1. Der Start
Rein »Voronoffen«.
Das erste Saisontor der Rostock erzielt Thomas Voronov, ausgerechnet der Spieler, der mit Unterbrechung am längsten da ist. Es ist kein schönes Tor, aber ein wichtiges. Zwischen die Beine des Duisburger Torwarts reingevoronofft. Es wird sinnbildlich für die ersten Spiele der Piranhas stehen.
Die Rostocker spielen kein wunderschönes Hockey, aber sie hauen sich rein, bringen sich füreinander ein. Nach dem 5:2 beim Saisonauftakt in Duisburg, das deutlich deutlicher ist als der Spielverlauf, siegen sie auch mit 3:1 gegen Herne. Die Jungs »fressen« Pucks, werfen sich immer wieder in die bis zu 100 km/h harten Schlagschüsse der Gegner. Die Schillingallee kocht, brüllt das Team über die Zeit.
Auch am dritten Spieltag bleiben die Rostocker Jungs ungeschlagen – und das, obwohl sie gegen die Favoriten aus Halle schwimmen müssen. 1:3 steht es nach 20 Minuten, dann gehts aber nicht mehr weiter. Die Eismaschine in Halle muckt bereits den ganzen Abend. Auf dem Eis bilden sich ständig Pfützen, in denen der Puck absäuft. Ein Weiterspielen ist nicht möglich. Das Spiel wird abgebrochen.
Für die Piranhas tut sich eine überraschende Chance auf. Da der Gastgeber das Spiel nicht ordnungsgemäß über die Zeit bringen kann, wird der Deutsche-Eishockey-Bund die Partie wahrscheinlich mit 5:0 für Rostock werten.
In der Baracke, der Geschäftsstelle der Piranhas unweit des populären Ostseestadions, wird tags darauf hitzig diskutiert. »Nehmen wir die drei Punkte, oder treten wir freiwillig noch mal an?« An dieser Frage scheiden sich die Argumente.
Die Sache ist die: Die Piranhas kommen aus einer unfassbaren Durststrecke. Zwei Jahre verliefen sportlich ernüchternd. Davor mussten die Raubfische aufgrund einer Eishallen-Havarie ihre Heimspiele in Hamburg austragen. Als es noch gut lief, grätschte Corona dazwischen. Damals gewannen die Piranhas das letzte deutsche Eishockey-Profispiel vor dem Lockdown. Verwegene vermuten darin einen Meisterschaftsgewinn.
Und irgendwo in all den Jahren gab es eine Mannschaft mit speziellem Charakter. Manche Spieler buchten ihre Heimflüge noch vor den Begegnungen, in denen sich die Rostocker für die Playoffs qualifizieren konnten. Andere lebten ihr Leben als Profisportler etwas »origineller«.
Jeder Punkt, so eine Argumentation, sei für die Piranhas, den Vorletzten des vergangenen Jahres, unverzichtbar. Auch dass es die Zähler gegen die Halle Saale Bulls geben sollte, sprach dafür. Immerhin hatten die Hallenser die Piranhas in den Vorjahren regelmäßig aus der Arena geschossen.
Am Ende trifft Vorstand Tobias Mundt eine klare Entscheidung. Der 40-Jährige, ein kauziger Typ, das Grinsen liegt ihm nicht, dafür könnten seine Kiefer Getreide mahlen, steht in Sachen Sportsgeist für eine gerade Linie. Das heißt: Die Rostocker verzichten auf den Sieg am grünen Tisch. Tobias Mundt sagt:
»Wir haben uns am Ende gefragt, wie wir behandelt werden möchten, wenn unser Eis kaputt geht und ein Spiel abgebrochen werden muss. Würden wir hoffen, dass der Gegner uns eine Chance auf eine sportliche Entscheidung gibt? Natürlich würden wir das. Also gab es da nur einen Entschluss: Wir fahren noch mal nach Halle. Alles andere hätte auch unser Vertrauen in die Mannschaft infrage gestellt. Es hätte ja suggeriert: Ey, die Rostocker glauben nicht mal selbst, dass sie sportlich gewinnen können.«
2. Der Frühling im Herbst
Die Piranhas gewinnen. Und gewinnen. Und gewinnen. Nachdem der heiße Saisonstart kurzfristig abgeflaut war, spielen sich die Rostocker ab Ende Oktober von Sieg zu Sieg. Mehrere Top-Teams werden beeindruckend niedergerungen.
Besonders das erste Novemberwochenende prägt seine Gravur in den Stolz der Rostocker Eishockeyfans. Innerhalb von zwei Tagen bezwingt ihre Mannschaft den Tabellenführer, beide Male in der Verlängerung, Essen und die Hannover Scorpions gehen drauf. Aber fast noch erstaunlicher ist das, was am Rande der Eisfläche passiert.
Ein Beispiel: Nur etwa zehn Stunden nach einem dramatischen 3:2-Sieg nach Verlängerung gegen die Moskitos Essen, dem damaligen Ersten, steht die halbe Mannschaft wieder auf dem Eis in der Rostocker Schillingallee. Nicht für das Auslaufen, sondern weil drei- bis zehnjährige Kinder am »Kids on Ice Day« das Schlittschuhlaufen lernen. Die Profis unterstützen die Kids freiwillig und ohne Anweisung des Vereins bei diesem Nachwuchs-Event.
Kurz darauf pilgert das Team geschlossen ein paar hundert Meter weiter ins örtliche Universitätsklinikum. Ein Leihspieler aus Weißwasser, der trotz Kieferbruch ein Spiel für die Piranhas bestritt, wurde zuvor operiert. Obwohl Ilja Fleischmann nur als Gastspieler bei wenigen Auftritten sporadisch mitwirkt, will die Mannschaft für ihn da sein. Ihm zeigen, dass er Teil des Teams ist. Das gehört sich so, sagen die Jungs später.
Eine weitere Woche darauf startet das Team eine Spendenaktion für die Rostocker Kinderklinik – und sammelt bei einem Heimspiel eine vierstellige Summe. Auch in diesem Fall ohne mediales Trara und aus Eigeninitiative. Am Neujahrstag geht fast das komplette Team – und Trainer Lenny Soccio – in der drei Grad kalten Ostsee für den guten Zweck baden.
Kapitän Kilian Steinmann erklärt das damals zur Mitte der Saison so:
»Wir waren in den Vorjahren schlecht, weil wir vielleicht mit dem Kopf nicht richtig da waren. Man geht zu einem kleinen Verein, will sich dort präsentieren, und dann im nächsten Jahr woanders mehr abräumen. Das mag legitim sein – macht aber eine Mannschaft nicht zu einer Mannschaft. Wir wollten uns mit der Stadt identifizieren. Ich glaube, über solche Aktionen haben wir uns sichtbar für die Fans anstrengen wollen. Wir wollten ausdrücken, dass uns die Piranhas und Rostock wichtig sind.«
Die Piranhas leben in diesen herbstlichen Tagen wie im Rausch. Und dann ist da das Nachholspiel in Halle. Der übermächtige Gegner, die Nemesis. Wenn die Piranhas der Fiat Panda unter den Oberliga-Klubs sind, gehen die Saale Bulls als A-Klasse Mercedes durch. Dieser erleidet jedoch an diesem besonderen Sonntagabend einen Totalschaden.
Wie entfesselt aufspielende Raubfische gewinnen beim Angstgegner mit 5:3, holen die Punkte nicht am grünen Tisch, sondern auf dem dieses Mal spielfesten Eis. Ein Mitglied des Halle Staffs fragt im letzten Drittel fast erschüttert: »Seit wann seid ihr so gut und wir so schlecht?«
Was kein Rostocker an diesem Abend ahnt: Es wird schon bald darauf einiges zur Bruch gehen.
3. Der Bruch
Zehnmal infolge punkten die Piranhas in der Oberliga – ein Vereinsrekord. Doch die Serie reißt so schnell, wie sie begonnen hat, ein brutaler Absturz folgt. In den nächsten 17 Spielen gewinnen die Rostocker nur zweimal.
Und selbst die beiden Siege sind schmerzhaft. Beim 6:1-Erfolg in Duisburg blockt Verteidiger Jan Tramm einen Schuss mit dem Rücken. Die Hartgummischeibe trifft eine der wenigen Stellen des Oberkörpers, die nicht gepolstert sind. Trammi, ein harter Hund, sackt zusammen, erbricht Blut auf das Eis und wird mit Blaulicht in die Notaufnahme gefahren. Zwischendurch wird eine schwere innere Verletzung befürchtet. Die schlimmsten Vermutungen bestätigen sich nicht.
Beim nachfolgenden 5:4-Sieg in Herford verspielen zunächst souveräne Piranhas tranig eine 4:0-Führung und zittern sich zum Sieg. Das Team, das Wochen zuvor durch die Liga pflügte, hat seinen Flow verloren. Besonders schlimm wird es am 26. Dezember.
Damals herrscht Aufruhr im Vereinsheim der Piranhas. Der Onlineverkauf für die Halle explodiert, dreimal so viele Karten wie üblich werden über den Ticketshop abgesetzt. Dirk Weiemann, der Mannschaftsleiter, aktualisiert minütlich das Computerprogramm und gibt immer neue Wasserstandsmeldungen raus. 650. 700. 750. Abends um 18 Uhr, zwei Stunden vor Spielbeginn, sind inklusive Dauerkarten 1.400 Karten verkauft. Saisonrekord und mehr als das.
Die Schillingallee ist für 1.650 Fans ausgelegt. An die Grenzen kam sie lange nicht mehr. Hektisch wird überlegt, wo noch Platz zu schaffen ist, damit es nicht zu eng wird. Als die Spieler zum Warm-up aufs Eis gehen, stehen manche Münder sperrangelweit offen. Thomas Voronov, der alteingesessene Junge aus Oberbayern, sagt auf dem Weg zum Eis: »So viele Zuschauer hab ich in den fünf Jahren noch nie gesehen.«
Der Abend, der der größte Piranhas-Abend seit mehreren Jahren werden soll, fällt wie ein aufgeplatzter Luftballon in sich zusammen. Mit 7:1 revanchieren sich die Hallenser für die Schmach aus dem November.
Noch schlimmer: Vier Tage später, wieder sind mehr als 1.500 Leute in der rappelvollen Eishalle Rostock, gibt es ein 1:3 gegen den direkten Rivalen aus Herne. Und der Tiefpunkt der Krise ist damit nicht erreicht.
In den darauffolgenden sechs Spielen schießen die Piranhas nur drei Tore und verlieren jedes Mal deutlich. Verzweiflung und Wut machen sich breit bei den Fans – und bei den Spielern.
An einem Abend, die Piranhas verloren nach couragierter Leistung mit 1:4 gegen Tilburg, hält Coach Lenny Soccio vor einigen Großsponsoren eine flammende Rede auf sein Team.
»Die Jungs arbeiten in jedem Training an ihrem Limit. Sie kämpfen. Sie spielen sich Chancen raus. Sie belohnen sich nicht. Es liegt nicht am Herz, sondern nur am Kopf, und das ist gut. Wir schaffen das, wenn das Selbstvertrauen zurückkommt.«
Der Coach selbst setzt ein Zeichen. Trotz besser dotierter Angebote verlängert er in Rostock, will seinen Weg weitergehen.
Und auch die Spieler stecken die Köpfe zusammen. Führungsspieler entscheiden sich noch vor dem Tilburg-Spiel für einen offenen Brief an die Fans. Kapitän Kilian Steinmann erklärt:
»Wir haben andauernd verloren und manchmal auch wenig bis gar nichts gezeigt. Wir fanden es krass, dass die Fans trotzdem kamen, weit mehr als in den vergangenen Saisons. Und dennoch war spürbar, dass das irgendwann kippen kann. Das wollten wir als Team vermeiden. Wir wollten schlicht verhindern, dass der Eindruck entsteht, dass uns das egal ist. Dass wir nicht hier in Rostock sein wollen. Dass wir uns aufgegeben haben. Das war zu keinem Zeitpunkt der Fall.«
4. Der (letzte) Lauf
Plötzlich ist da diese staubtrockne Versagensangst in der Kehle.
Draußen tobt ein Sturm, es ist nasskalt, ein Scheißtag Ende Januar. Die Piranhas spielen gegen Herford, den Tabellenletzten. Ein Sieg ist Pflicht, sonst ist der Pre-Playoff-Platz, das Minimal-Ziel, akut gefährdet.
Nach 20 Minuten sieht es schlecht aus. Die Piranhas liegen mit 1:2 gegen das Schlusslicht hinten, zeitgleich führt der ärgste Rivale aus Duisburg. Der Vorsprung auf den elften Platz, der nicht mehr für die Pre-Playoffs berechtigt, schmilzt auf imaginäre sechs Punkte.
Doch dann macht es klick. Innerhalb von drei Minuten und acht Sekunden schießen die Piranhas drei Tore, drehen das Spiel. Keegan Dansereau, der Spieler, der mit Handgelenksschüssen das Sicherheitsglas splittern lassen kann, trifft wieder das Tor. Kilian Steinmann geht als Kapitän voran, nagelt einen Schuss mit roher Gewalt in den Winkel.
Die Piranhas sind zurück – und kommen wieder in ihren Fluss. In acht von zehn Spielen werden sie im Endspurt punkten, sieben davon gewinnen.
In den letzten Begegnungen der Hauptsaison schlagen die Rostocker Jungs den Ersten, Zweiten und Dritten der Tabelle. Besonders das 7:4 gegen die Tilburg Trappers wird zu einem Abend, der bleiben wird.
Von ungefähr 39 Spielen (geschätzte Zahl) gegen die Trappers haben die Piranhas 36 zumeist klar verloren. Die Tilburger sind die inoffizielle niederländische Nationalmannschaft. An diesem Abend im Februar kommen sie mit ihrem besten Team. Tilburg muss gewinnen, wenn sie Zweiter bleiben wollen. Rasch führen sie 2:0, sind deutlich dynamischer.
Aber die Rostocker Jungs zeigen vor heimischer Kulisse die beste Saisonleistung. Der Satz, ein Spiel zwischen Rostock und Tilburg dauert 60 Minuten und am Ende gewinnen immer die Tilburger, wird an diesem Abend seine Gültigkeit einbüßen. Die Piranhas siegen – verdient – mit 7:4, und belohnen endlich eine rappelvolle Halle.
Spät am Abend, das Team erholt sich, muss zwei Tage darauf in den Pre-Playoffs ran, sitzen Vereinsvertreter der Piranhas mit Teilen des Tilburger Vorstands zusammen. Es gibt reichlich Bier und einen Schnaps, der einem verstorbenen Piranhas-Sponsor gewidmet ist. Aus den Boxen knarzt »Don't Stop Believing« von Journey.
Einer der Holländer, selbst Vater eines Spielers, sagt nach dem zweiten Drink: »Ich habe euch noch nie so gut gesehen. Das habt ihr heut verdient gewonnen. Ihr wart besser. Ihr kommt weit, wenn ihr so spielt.« Der Satz fühlt sich an wie ein Ritterschlag. Und doch wird er die letzte Siegesfeier der Saison beschließen.
5. Der Knockout
Die Piranhas können sich für die richtigen Playoffs qualifizieren, und die Chancen scheinen gut. Erfurt, der Gegner, hat wochenlang nur kassiert. Aus dem vermeintlich sicheren vierten Platz wurde im Endspurt noch der achte Rang.
Unter Experten gehen die Raubfische sogar favorisiert in die Best-of-Tree-Serie. Aber es kommt anders: Ausgerechnet der gute Lauf wird sich nun als nachteilig erweisen.
Krisengeschüttelte Erfurter erzielen mit Glück das 1:0, und bäumen sich danach auf. Man sieht sogar im TV, wie sich plötzlich die schlaffen Muskeln der Thüringer blähen. Die Piranhas finden ihr Zutrauen nicht, wirken teilweise derangiert. Erfurt kämpft, giftig, hart, verbissen, so wie man in den Playoffs spielt, und die Rostocker sind chancenlos. Vielleicht auch, weil der Stammtorhüter Sebastian Albrecht verletzt fehlt. 3:7 heißt es am Ende.
Zwei Tage später, es ist das vierte Spiel in sechs Tagen, müssen die Piranhas gewinnen. Das Spiel kippt dieses Mal nicht in eine Richtung, es hält sich in Balance.
Sebastian Albrecht, der Torwart, spielt unter Schmerzen, und das wie immer gut. Jan Tramm, der Abwehrchef, ist ebenso angeschlagen wie Kapitän Kilian Steinmann, der eigentlich gar nicht mitwirken sollte. Dass er beim Warm-up mitmachen und bei der Aufstellung ausgerufen wurde, sollte ein Täuschungsmanöver sein. Ein Bluff. Dem Gegner bis zum Schluss vorgaukeln, er sei fit, so das Kalkül. Bei Steinmann ist es die Schulter, ein neuralgisches Gelenk für einen Eishockeyspieler. Am Ende wird der Kapitän trotzdem seine Checks auf dem Eis fahren.
Das Spiel läuft irgendwann gut, Emil Bejmo, der schwedische Virtuose, schießt das 1:0. Die Rostocker kontrollieren das Spiel, doch Erfurt wehrt sich. Immer wieder ist es ein Spieler, der wahrscheinlich zufällig die größten Rostocker Stars in gefährliche Situationen verwickelt. Keegan Dansereau erleidet bei einem harten Check gegen den Kopf eine Verletzung, sein Blick wirkt danach glasig.
Kurz darauf eskaliert Emotion zur Schlägerei. Nolan Renke, ein Rostocker Verteidiger, sucht den Konflikt mit dem am härtesten spielenden Erfurter, der zuvor den Kopf von Dansereau attackiert hatte. Es kommt zu einem Handgemenge. Renke, der sich die Handschuhe abstreift, setzt einen »Glückstreffer« Die Halle tobt. Der Erfurter quält sich mit einer klaffenden Wunde vom Eis. Die Eisaufbereitungsmaschine muss die Spielfläche vom Blut befreien. Zum Glück kann der Erfurter zwei Tage später wieder spielen.
Die Piranhas kassieren in der folgenden – umstrittenen – fünf Minuten Unterzahl zwei Gegentore. Erfurt dreht das Spiel, aber es hat sich etwas verändert. Ein Spieler sagt später:
„Natürlich hat uns die Prügelei geschadet, aber mit ihr hörten auch die Aktionen des Gegners auf. Danach war das Spiel noch umkämpfter, aber sauberer.«
In einem nun dramatischen Spiel kommen die Piranhas zum hochverdienten Ausgleich. In der Schlussphase folgt Chance auf Chance, dem überragenden und sonst brutal effektiven Hünen Mike Mieszkowski fehlen nur Zentimeter zum Sieg. Der Puck bleibt aber irgendwie am Schultersaum des Torhüters hängen.
Verlängerung. Do or die. Fußballfans werden das Konzept als Golden Goal kennen. Wer trifft, gewinnt.
Und wieder erweist sich Strafe als fatal. Erfurt bekommt ein Powerplay, und nutzt dieses eiskalt. Die Schönheit und Brutalität des Sports konzentriert sich in einen Moment. Während eine weiße Jubeltraube kreischt und schreit wie Teenager auf einem Konzert von Taylor Swift, sacken viele Rostocker Jungs zusammen, schlurfen zwei Köpfe kleiner über das Eis.
Einige werden noch in der Halle bitterlich weinen, andere sind nach 46 Saisonspielen zu erschöpft dafür.
Die Halle, die brodelte, ist nun ganz ruhig. Die Stille wirkt ohrenbetäubend laut. Dann raffen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer auf und verlangen nach dem Team. Kaum ein Fan geht, die Ehrenrunde wird von Tröten und Sirenen begleitet. Es sind nicht die Akteure, die sich vor dem Fall des Vorhangs verneigen, sondern das Publikum.
6. Das Glück
Eine Woche nach dem finalen Spiel treffen ein paar Spieler auf einer öffentlichen Veranstaltung mit Fans zusammen. Die Jungs nehmen sich Zeit, hören zu, erzählen von sich und ihren Sommerplänen. Jan Tramm, der die letzte Strafe zog, ärgert sich über die spielentscheidende Szene. Die Fans wiegeln ab, bauen auf, sprechen zu. Es scheint fast so, dass manche Spieler mit der Zuneigung überfordert sind.
Doch warum wird eine Mannschaft, die an ihrem Ziel scheiterte, so krass gefeiert?
Vielleicht ist die Antwort ganz einfach.
Die Fans haben eine Mannschaft zu lieben begonnen, weil für jeden greifbar war, dass dieses Team nach Jahren der Egalität wieder für die Rostock Piranhas brannte. Und das spürten die Anhänger selbst ohne die kleinen großen Szenen, die sich hinter den Kulissen zutrugen.
Nur ein Beispiel: Ein Keegan Dansereau, dem im finalen Spiel gegen Erfurt eingebläut wird, dass er nicht weiterspielen muss. Er soll an seine Gesundheit denken, an seine Zukunft, an die Familie, mahnt ein Vorstand. Aber Keegan ist trotzig, sagt immer wieder, dass er spielen wird.
»Ich spiele. Ich spiele. Ich spiele.«
Im Schlussdrittel zeigt er eine fantastische Leistung.
Am markantesten: Während Jahre zuvor ein Team auf gepackten Koffern saß, das Saisonende kaum abwarten konnte, kauerte nur ein Team am Boden zerstört in der Kabine. Dieses Team wollte nicht gehen, dieses Team war gekommen um zu bleiben. Das spürten alle Fans. Ein Anhänger sagt damals, um vier Uhr morgens, einige Stunden nach dem Erfurt-Spiel:
»Weißt du, was noch viel toller ist als eine Mannschaft, die viele Spiele gewinnt? Eine Mannschaft zu haben, mit der man sich identifizieren kann. Die Persönlichkeit hat. Die einem das Gefühl gibt, als Anhänger nicht egal zu sein. Man merkt manchmal erst, wenn man verliert, wie dankbar man für sein Team sein darf.«
7. Die Zukunft
Wer verstehen will, warum Leute, die erstmals aus Oslo, Calgary oder Oberbayern nach Rostock kamen und so mit dem Verein zusammen wachsen konnten, muss verstehen, wie die Organisation der Piranhas funktioniert.
Bis auf den Trainer und den Mannschaftsleiter gibt es keinen im Verein, der abseits des Teams ein Gehalt bezieht. Die Last eines Profiklubs in der Oberliga ruht komplett auf ehrenamtlichen Schultern. Die Betreuerinnen und Betreuer investieren jede Woche Stunden, um Wäsche zu wachsen und das Team auswärts zu begleiten.
Sie schleifen Kufen oder pflegen das teure Material. Andere kümmern sich um Sponsoren, um die Medien, um die Finanzen. Stellen das Kampfgericht. Kochen Königsberger Klopse für die Spieler. Stehen als Sicherheitsdienst parat. Wer da ist, macht keinen Job, der lebt eine Leidenschaft. Das hilft auch bei den irdischen Problemen.
Wenn das Kleinkind eines Spielers unter starkem Fieber leidet, fährt schon mal ein Vorstand die Familie in die Notaufnahme. Harrt dort drei, vier Stunden mit aus. Ein Profi, der die halbe Welt gesehen hat, sagt, dass er bislang nicht wusste, wie familiär und aufrichtig ein Verein seine Spieler behandeln kann. Er erklärt:
»Die Piranhas kümmern sich nicht nur um Spieler. Sie kümmern sich um die Familie. Sie kümmern sich um Menschen.«
Man könnte meinen, die Zuneigung von Profisportlern hört spätestens dann auf, wenn um neue Verträge geschachert wird. Tobias Mundt, der Vorstand, kennt das nur zu gut. Seit Beginn seiner Amtszeit vor vier Jahren haben sich die Gehälter fast verdoppelt. Die Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen. Der Etat wächst, und das in Zeiten der Rezession.
Die meisten Drittligavereine haben im neuen Jahrtausend mindestens eine Pleite hinter sich. Die Rostocker sind stolz darauf, dass der REC, keine GmbH, sondern ein Verein mit Nachwuchs und alten Herren, nicht dazugehört. Zur Wahrheit gehört auch: Manchmal war es eng.
Auch deshalb gilt die oberste Maxime des »Erhalten«. Vorstand Mundt sagt:
»Dass noch mehr Rostocker Kinder diesen tollen Sport entdecken, dass 80-Jährige noch viele Jahre in unserem Verein aktiv sind, ist für mich genauso wichtig wie ein guter Tabellenplatz. Wir investieren daher nicht jeden Cent in den Profisport, sondern müssen auch das Gemeinwesen, die soziale Aufgabe unseres Vereins wertschätzen.«
Normalerweise haben sich die Piranhas in den vergangenen Jahren immer von mindestens der halben Mannschaft verabschiedet. Entweder, weil es spielerisch nicht reichte, oder meist, weil andere Vereine das Doppelte boten. In Rostock werden finanziell eher kleine Fischbrötchen belegt.
In diesem Jahr haben sich viele Spieler ins Schaufenster gestellt, sich zum Abräumen woanders aufgeschwungen. Aber dieses Jahr ist anders. Auch nach der Saison.
Mindestens 13 Spieler werden bleiben, vielleicht sogar 15 oder 16. Wie viele genau, das hängt an laufenden Verhandlungen mit Sponsoren. Was Vorstand Mundt besonders überraschte: Sogar absolute Leistungsträger schlagen besser dotierte Offerten bei anderen Teams aus. Andere boten sogar einen Gehaltsverzicht von selbst an, nur um zu bleiben. Bei Trainer Lenny Soccio rufen fast täglich Spieler an. Es hat sich rumgesprochen, dass Rostock ein guter Ort ist, um Eishockey zu spielen. Tobias Mundt sagt:
»Unsere Spieler haben das Gefühl, dass hier etwas entsteht, was sie nicht verpassen wollen. Dafür verzichten sie auch auf Geld, das Vereine mit deutlich dickeren Schatullen bieten könnten. Als Verein kann man sich über diese Charaktere nur freuen. Sie sind besonders. Um nicht zu sagen: einmalig.«
EPILOG
Apropos Charakter. Die letzte Anekdote.
Es ist Mitte März, der Frühling ist in Rostock eingezogen. Nicht der sportliche, sondern der richtige. Im Marktkrug zapft Holli ein paar Helle. Alte Skatbrüder beugen sich über Sauerfleisch mit Bratkartoffeln. Plötzlich taucht wieder eine Gruppe aus der Mannschaft auf. Sie wollen sich bei Holli und Babsi bedanken, bevor sie in die Heimat fahren und erst in fünf Monaten wiederkommen.
Eine schnelle Nummer wird der Abschied nicht. Die Jungs lassen sich ein Bier anquatschen. Und bleiben.
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