Vierundzwanzig Tage
Ampel auf Standby /Caroline Peters/Levit und Thielemann/Marengo
Die Zeit der Ampel neigt sich ihrem Ende zu. Im kommenden Jahr wird jede Partei für sich alleine Wahlkampf machen. Grüne und SPD bewerben sich darum, möglichst starker Juniorpartner der Union zu werden. Die Liberalen haben durchweg eine schwache Leistung gezeigt und können von Glück reden, noch einmal über 5% zu kommen. Wenn die Grünen beschleunigen wollten, zog die FDP die Handbremse, so drehte sich diese Koalition im Kreis.
Auf zahlreichen Feldern – Energiewende, Gesundheitsreform – wurden wichtige Reformen vollbracht, aber auf dem wichtigsten leider nicht: Der strategischen und militärischen Autonomie der Bundesrepublik und Europas.
Am Freitag war der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj in Berlin, man merkte es an Hubschraubern, Motorradeskorten und Stau überall. Immer noch wirkt es wie der Besuch eines entfernten Cousins in der Krise – man muss ihn schon empfangen, atmet aber auf, wenn er wieder geht. Derweil thront die russische Botschaft unter den Linden und Passanten müssen auf die Straße ausweichen, um den Bürgersteig davor nicht zu betreten. Und das russische Haus ist in Betrieb, als hätte der Kreml der europäischen Friedensordnung nicht den Krieg erklärt. Die Sanktionen werden nicht so streng kontrolliert, wie es sein müsste. Deutsche Firmen, die über Drittländer an Russland verkaufen, haben nichts zu fürchten. Die Politik der Zeitenwende ist halbherzig. Der Journalist Stefan Lamby stellt in seinem Buch Ernstfall die zutreffende Diagnose: Die Ampel hat mehr Angst vor deutschen Autofahrern als vor Wladimir Putin.
Der Gipfel, um die Hilfe für die Ukraine zu koordinieren, musste abgesagt werden, weil Joe Biden wegen der Stürme in Florida nicht nach Europa kommen konnte. Nun ruht alle Außenpolitik bis zur US-Wahl. Weder im Libanon, noch in Israel und Gaza, noch in der Ukraine geht es vorwärts oder rückwärts ohne die amerikanische Regierung. Zweieinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch der europäischen Nachkriegsordnung durch den russischen Überfall auf die Ukraine ist das schon ein erschütternder Befund.
Also wartet Europa. Ich glaube fest daran, dass Kamala Harris gewinnt – wie Michael Moore (Abre numa nova janela), Alan Lichtman (Abre numa nova janela) und das Wall-Street Orakel. Aber diese Wahl dürfte niemals jene existentielle Dimension haben, die ihr nun zukommt. Alles oder nichts.
Europa sollte sich selbst verteidigen können, sollte seinen Gegnern überhaupt mal entschlossen entgegentreten. Doch so gut wie alle russischen Propagandaoffensiven bleiben unbekämpft. Niemand tritt Putin entgegen. Gerade in Deutschland wird aber immer noch die Nostalgie nach einer Ostpolitik vergangener Tage gepflegt. Der heiße Tipp in Richtung Kiew, man solle es mal mit Frieden versuchen, erinnert mich an den Vorschlag des Satiremagazins Titanic zur Lösung der Hungerkrise in Ostafrika: Einfach mehr spachteln!
Olaf Scholz und Emmanuel Macron können für sich beanspruchen, Schlimmeres verhindert zu haben. Die Folgen der Pandemie wurden gemildert, der Energieschock abgefedert, Selenskyj lebt noch und wir sind nicht im Krieg mit Russland. Nun geht sogar die Inflation zurück.
Doch wo die Öffentlichkeit nach klaren Linien verlangte, verliefen sie sich in kommunikativer Konfusion. Macron vernachlässigte die Bildung sozialer Koalitionen und seiner Partei, Olaf Scholz wühlt in Sacharbeit, kümmert sich nicht um sein Image und die Leute verstehen ihn nicht. Beide agierten als Solisten in einer Zeit, die ein deutsch-französisches Duo gebraucht hätte.
In meinen Studententagen im schönen Saarbrücken wohnte ich mit meiner damaligen Freundin in einer Altbauwohnung mit Ölofen und Toilette auf halber Treppe. Eines Tages zog nebenan eine Schauspielstudentin ein und sie kam alle paar Tage zum Kaffee vorbei. Dann erzählte sie von ihrer großen, sehr begabten und auch etwas verrückten Familie, die ich später auch kennenlernen durfte. Ihr Mantra war damals Wir müssen versuchen, so normal wie möglich zu sein. Und ihr künstlerisches Vorbild war Daffy Duck.
Long story short - nun erscheint ihr erster Roman. Zuvor wurde sie eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen und, super selten, bei Theater, Fernsehen und Kino gleichermaßen sehr erfolgreich. In E wie U alle Punkte gemacht, völlig zu recht ausgezeichnet mit allen Preisen, die es gibt. A propos normal.
Das nach Motiven aus ihrer Familiengeschichte komponierte Buch ist eine Ethnologie des westdeutschen Bildungsbürgertums, eine Liebeserklärung an schräge Familien und enthält einige der schönsten, schrecklichsten und komischsten Mutter-Tochter-Szenen, die ich kenne. Sehr spannend ist auch der Aspekt der literarisch motivierten Russlandliebe in Teilen des deutschen Bürgertums, die bis heute die Beurteilung des Ukrainekonflikts in gewissen Kreisen beeinflusst.
Ideales Geschenk für alle, die Eltern hatten, haben oder sind.
https://www.rowohlt.de/buch/caroline-peters-ein-anderes-leben-9783737101653 (Abre numa nova janela)In diesen polarisierten Zeiten vergisst man, welche beträchtliche künstlerische Energie aus der Kooperation gegensätzlicher Charaktere entstehen kann. In vielen Firmen und Redaktionen setzt man eher auf die Harmonisierung von Teams, die Harmonisierung der Temperamente und das allseitige Coaching, um es zu erreichen.
Insofern ist die Kooperation von Christian Thielemann und Igor Levit ein echter Schock in der Kultur. Ein Hass-Troll in Levits Youtube-Kanal kommentierte fatalistisch Zionist und Neonazi na toll!
In ihrem zauberhaften Brahms-Album (Abre numa nova janela) erwecken sie den oft unterschätzten Komponisten zu ganz verblüffend aktueller Form. Thielemann gilt als eher konservativer Mensch, Igor Levit als progressiver Aktivist und beide schwärmen von der Zusammenarbeit. Es bestätigt, was ich oft in meinem Job erlebt habe: Die Menschen, mit denen ich gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte, waren nicht unbedingt jene, die weltanschaulich mit mir auf einer Linie sind.
https://www.youtube.com/watch?v=37_fcFGKLSI (Abre numa nova janela)Am Freitag war unser Podcast Was bisher geschah (Abre numa nova janela) beim Wissenschaftspodcast-Festival Beats and Bones im Berliner Museum für Naturkunde zu Gast.
Unser Thema waren Power Couples in der Geschichte, da durften Napoléon und sein treuer Schimmel Marengo nicht fehlen – eben Weltgeist zu Pferde wie Hegel meinte. Benannt wurde das Pferd nach dem Sieg Napoléons in der gleichnamigen italienischen Stadt und weil Bonaparte so ein Marketinggenie war, gibt es auch ein Rezept zu Ehren der Schlacht!
https://www.youtube.com/watch?v=a_P8KJuXrYc (Abre numa nova janela)Schimmel Marengo hatte mehrfach Glück, nicht ebenfalls im Schmortopf zu enden. Das Pferd war aber schlauer als Napoléon und überlebte ihn um ein ganzes Jahrzehnt, wohlversorgt auf einem Gut in England.
Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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