Dieses schnelle Jahr
Deutschland am Rande des Nervenzusammenbruchs/Bruno Le Maire/ Black Earth Rising / Artischockenhuhn und Gewissenskonflikt
Ich kann den Kalender nur schwer begreifen: Nähern wir uns wirklich schon den längsten Tagen? Wo ich an den Fenstern noch die Enden der von mir ungeschickt wie immer angebrachten Dichtungsstreifen sehe, die mich an die drängende Sorge vor dem nun schon überstandenen Winter erinnern. Es ging alles glimpflich aus, aber es gab seitdem keinen Moment, um innezuhalten und das zu bedenken. Die Sommergeburtstagskinder der Familie sind schon mitten in ihren Planungen und Wunschlisten. Bis zu meinem im November ist es zwar noch etwas hin, aber so schnell, wie dieses Jahr saust, kann ich schon mal Wein bestellen.
Die Oberflächen sind ruhig, aber einiges ist in Bewegung. Die heutige Wahl in der Türkei ist eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres. Vor Jahren schrieb der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy ein Buch über die fünf Könige, die davon träumen, ein altes Reich wieder auferstehen zu lassen, in der Türkei, China, Russland, Iran und den arabischen Ländern. Endet die Herrschaft Erdogans, ist es auch für die anderen ein wichtiges Signal. Und auch mit dem Blick auf die Ukraine muss man den Atem anhalten. Andere kämpfen gerade für die Freiheit und die Zukunft der offenen Gesellschaft: im Iran, in der Ukraine, in der Türkei und den USA. Für uns, für Europa sind diese Kämpfe existentiell wichtig, aber das Risiko tragen andere Menschen. Tun wir genug?
Da ist auch die Erschöpfung: 11. September, Kriege in Afghanistan und Überfall des Irak, Krise des Finanzsystems, Syrienkrieg und alle, die Schutz suchen mussten, die Digitalisierung und die Klimakrise, die wahnsinnigen Trump-Jahre und der Brexit, der Zusammenbruch der europäischen Sicherheitsordnung durch den Überfall auf die Ukraine und nun noch eine Inflation, die gehörig an den Nerven zerrt. Es wundert mich nicht, dass ungefähr jedes zweite Ladenlokal in unserem Viertel etwas zur Entspannung durch Yoga oder Massage anbietet. Die globale Krise soll am Körper der einzelnen bewältigt werden und warum auch nicht. Ab und zu ist es aber auch wichtig, sich an die Mühen der Gegenwart zu erinnern, an die blöden Morgenstunden, an denen man den Kindern beibringen muss, dass Trump gewonnen hat oder die Ukraine überfallen wurde. Der Stress unserer Zeit entsteht aus dieser intensiven Unterrichtung über die Dinge in der Welt und unseren begrenzten Möglichkeiten, sie schnell zu verbessern. Deutschland scheint mir gerade besonders orientierungslos oder überfordert. Krieg durch Russland und Inflation – zwei nationale Alpträume laden sich zum Frühstück ein. Was nun? Viele einst angesehene Intellektuelle sind in der Abfolge von Corona und Ukrainekrise untergegangen, die Politik ist gut damit beschäftigt, unter verrückten Umständen den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten und dem Land die fossile Energie abzugewöhnen. Es ist einfach eine Menge auf einmal. Dass die Absage des Muttertagsbastelns einer oberhessischen Kita zu einem tagelangen innenpolitischen Aufreger mutiert, ist schon ein Symptom für ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs. Es sind Zeiten für verstärkte Sorge um sich, wie sie Michel Foucault in seiner Geschichte der Sexualität dargestellt hat: Lesen, sich austauschen, Tagebuch schreiben.
In Paris habe ich mir den Roman des französischen Wirtschafts- und Finanzministers Bruno Le Maire gekauft. Ich mochte schon seine früheren Bücher, meist literarische und politische Tagebücher. Hier macht er etwas ganz anderes, aber wenn man die Handlung zusammen fasst, klingt es seltsam. Es geht um zwei Brüder, die den Pianisten Wladimir Horowitz kennenlernen, nämlich 1949 auf Kuba. Einer von ihnen spielt auch Klavier, beendet das aber, nachdem ihm der Meister eine Stunde gegeben hat. Der jüngere Bruder studiert Medizin und wird der Arzt von Horowitz, vermag aber wenig. Dieses Setting hätte mich nicht besonders angesprochen, aber nach wenigen Seiten war ich völlig begeistert. Le Maire schreibt mir viel Humor, einer kaum zu bändigenden Lebenslust und echter literarischer Virtuosität. Zwischendrin hat er Reflexionen über den politischen Betrieb und das Älter werden versteckt, aber im Wesentlichen ist der Roman eine Studie über die Freude an der Kunst, am Leben und an der Liebe. Es finden sich auch einige erotische Szenen in Fugue Américaine, was der linke Politiker François Ruffin in der in Frankreich derzeit gängigen Übertreibung als erneute Demütigung der Arbeiterklasse durch die Macron-Regierung verteilt hat.
Ich höre jedenfalls seit einigen Tagen Horowitz auf Apple Classic und staune mit den Ohren.
In der Mediathek von Arte kann man nun eine Serie schauen, die schon einige Jahre alt ist, zuvor auf Netflix angeboten wurde. Es geht in ihr um Fragen, die unserer Gegenwart nach wie vor beschäftigen: Warum beschäftigt sich der Strafgerichtshof in DenHaag vorwiegend mit afrikanischen Tätern? Welches Menschenbild inspiriert diese Justiz? Wie kann man die Beziehungen zwischen Europa und Afrika denken und gestalten, ohne von einem Klischee ins andere zu stolpern? Ist unser Konzept von der Identität der Person noch zeitgemäß? Es ist eine Serie, die von der ersten Folge an die Komplexität ihres Themas erhöht. Und sie kommt ganz ohne Voyeurismus aus, die Gewaltszenen aus dem Bürgerkrieg in Ruanda werden durch Zeichnungen illustriert.
https://www.arte.tv/de/videos/RC-023738/black-earth-rising/ (Abre numa nova janela)Bei diesem Rezept gerate ich in eine Art Gewissenskonflikt, denn tiefgekühlte Lebensmittel verwende ich nur im Notfall. Und dann noch ein sizilianisches Rezept aus einer amerikanischen Zeitung vorstellen – mein französischer Großvater und seine Freunde wären jetzt schon in spöttisches Gelächter ausgebrochen und würden fragen, ob nicht auch Coca-Cola in die Soße kommt, zufällig? (Mein Großvater hat einmal ein Glas Cola probiert, auf der Weltfachausstellung im Palais Chaillot in Paris 1937 - da war er 19 - und hat es bis zu seinem Tod 2003 nicht wiederholt)
Aber meine Neugier trumpft über die Meinungen der Alten und ich hege den Verdacht, dass das Ergebnis doch überzeugen könnte.
https://www.washingtonpost.com/food/2023/05/11/one-pot-chicken-braise-recipe-frozen-arichokes/ (Abre numa nova janela)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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