Eine Reise
Was Europa sein könnte/Doku über Putins Pläne/Wer ist Bayrou?/Poule au Pot
Meiner vermutlich letzte Dienstreise in diesem bewegten Jahr führte mich nach Dijon. Dort las ich im phänomenalen Maison Rhénanie, einer Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz in Burgund. Die machen, orchestriert vom stets souveränen Impresario Bernhard Schaupp, die Arbeit eines Goethe-Instituts in der weiten Provinz.
Ich nahm Züge in drei Ländern. Die deutsche Bahn, keine Überraschung, bot die ärgste Erfahrung. Verspätungen, halbierte Züge, lange Wartezeiten an zugigen Bahnsteigen und der nun schon vertraute Verspätungsgrundbingo: Technischer Defekt/Personen im Gleis, Verzögerungen im Betriebsablauf spontane Erkrankung der Mitarbeiter.
Im französischen TGV gab es diese Probleme nicht, nur der dunkle Schatten eines bösen Streiks waberte herum. Hier fiel mir die Stille im Wagen auf: Bei jedem Gespräch, jedem Anruf wurde der Großraumwagen verlassen, um niemanden zu stören. Als eine Dame mit ihrer Begleitung ein Dauergespräch begann, machte sich die Reisende hinter ihnen diskret bemerkbar: Sie leide unter Kopfschmerzen und könne sich jetzt nicht die ganze Fahrt über dieses Gespräch anhören. Ob sie es wohl im Speisewagen fortsetzen könnten? Das wirkte sofort.
Im TGV sitzt man behaglich, das Licht ist perfekt eingestellt – allerdings wurde nicht ans Gepäck gedacht. Die SNCF geht von Yves Montand als idealem Reisenden aus: Hut im Nacken, Hände in den Hosentaschen und leise summend. Ohne jedes Gepäck außer einer Zeitung – für mehr ist kein Platz.
Ich saß auf einem Fensterplatz , als ein schon klappriges Rentnerpaar mit Koffern den Wagen betrat. Der Mann mühte sich mit einem schweren Gepäck ab, wollte es in eines der schmalen Regal hieven und wackelte bedrohlich. Neben mir, zum Gang hin, saß ein nervöser und nicht besonders sympathischer Mann in den Vierzigern. Der Alte kam nicht klar und ich dachte: Wenn Frankreich noch so ist, wie ich es von klein auf kenne, dann muss der Mann neben mir aufspringen, ungefragt und tatkräftig helfen. Ich sagte leise einen Countdown und war kurz davor, selbst aufzustehen, als mein Nachbar tatsächlich seine Privatbubble vergaß und wie ein Rugbyspieler los hechtete. Es war beruhigend.
In deutschen und französischen Bahnhöfen gilt die gleiche Überlebensregel: Keinesfalls irgendwelche der dort angebotenen Speisen kaufen oder verzehren. Billigster Fraß zu überhöhten Preisen. Trostlose Systemgastronomie und Bäckereiketten, die einen an der Menschheit verzweifeln lassen. Ich warte noch auf den Sushiberliner mit Mayofüllung zu 99 Cent, dann wäre restlos alles klar. Von Berlin bis Bordeaux, von Leipzig bis Brest empfehle ich: Zug nur mit Picknick.
Dann kam ich nach Basel. Hier geht, was sonst nirgends geht: ein Reiserestaurant wie früher. Hohe Decken, viele Sitzplätze und drei Garküchen mit zeitgemäßen Angeboten. Viel Personal, gute Belüftung und Beleuchtung. Es ist kein Hexenwerk. Warum schafft die Schweiz pünktliche Züge, passende Anschlüsse und eine menschenwürdige Verpflegung?
Auf jeder noch so kurzen Reise durch Europa lässt sich so viel lernen. Zusammen könnte man viel und viel mehr bewegen. Aber derzeit geht die Reise in Berlin und Paris nach innen und unten, tief in die Kaninchenbaue der nationalen Politik und ihrer Details.
Zur Geschichte unserer Gegenwart gehört ein seltsamer Reflex: Angesichts der organisierten Bedrohung aus Russland, die kein Geheimnis ist, schauen alle weg. Das ist kein Vorwurf an handelnde Personen: Wer zu Zeiten der großen Koalition forderte, sich vor Russland in acht zu nehmen und weniger Gas zu kaufen, ist ausgelacht worden. Viele in Berlin und Paris mussten erst den Januar 2022 erleben, um die wahre Natur des Putin-Regimes zu erkennen. Und immer noch gibt es viel zu viele gebildete Zeitgenossen, die sich weigern einzusehen, wie groß und wohlorganisiert die Bedrohung ist.
Es ist ein Wechselspiel aus diffuser Angst vor der Supermacht und einem Gefühl der Überlegenheit: Was wollen die uns schon anhaben?
Dem liegt ein anthropologisches Missverständnis zugrunde: Materielle Interessen werden das Handeln Putins leiten, das war die bundesrepublikanische Annahme. So wie D-Mark und Wirtschaftswunder die Deutschen erst im Westen vom Faschismus, später im Osten vom Sozialismus gelöst haben, so wollte man auch die russische Elite zähmen. Pustekuchen: Kultur trumpft Interessen.
Diese Dokumentation belegt noch einmal, wie langfristig, planmäßig und geschickt Moskau die offene Gesellschaft zu unterminieren versucht und wie tief hier gepennt wurde.Manchmal kommen mir Deutschland und Frankreich vor wie der Dodo oder die Pinguine: Ganz ohne Fähigkeit zur Selbstbehauptung.
https://www.arte.tv/de/videos/122846-000-A/putins-netzwerk-in-europa-1-2/ (Abre numa nova janela)Emmanuel Macron ging es am Freitag wie mir, wenn ich unter Zeitdruck in einer Papeterie stehe und von einem Bein auf das andere springe: Ich nehm dieses Notizbuch, nee, ich nehm das! Halt – doch lieber dieses. Um dann an der Kasse umzukehren und nochmal zu wechseln, ein Elend. Nur dass er eben einen Premierminister für Frankreich auszuwählen hatte. Bis kurz vor Bekanntgabe soll er gezaudert haben, rief dann Bayrou an, um ihm feierlich abzusagen – was der, nach Berichten, nicht duldete, sondern in den Élysee fuhr, um dem so viel jüngeren Präsidenten zu drohen und den Kopf zu waschen. Hat dann auch geklappt. Macron mag darauf spekulieren, dass Bayrou, notorischer Dampfplauderer, seine vielen politischen Gegner einfach in tiefen Schlummer quasselt.
Verrückte Zeiten: Erst vor einer Woche war Emmanuel Macron der Star der Notre-Dame Neueröffnung und berühmtester Mann der Welt, nun fährt ein 73 jähriger Provinzpolitiker mit ihm Schlitten. Und wer ist nun dieser Bayrou? Er ist schon so lange dabei, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Eine ganz ordentliche Biographie über Henri Quatre hat er geschrieben, ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Pau und kommt aus kleinen, aber belesenen Verhältnissen. Und er kann den Beginn von Michel de Montaignes Essais auswendig aufsagen. Ein Portrait gibt es hier:
https://www.youtube.com/watch?v=fC0O8a7bwx0 (Abre numa nova janela)Noch heute kann man Pau nicht betreten, ohne an jeder Ecke über Henri Quatre zu stolpern. Legendär ist das nach ihm benannte Rezepte des Huhn im Topfs, das übrigens auch am Schluss meines Romans “Montaignes Katze” vorkommt. Hier die Originalversion der unübertrefflichen Maité.
https://www.youtube.com/watch?v=gU5Qlgynhgs (Abre numa nova janela)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Ich bin, was Weihnachtsgeschenke angeht, ein notorischer Spätzünder. Vielleicht Berufskrankheit, denn als Journalist kommt man erst dann in Aktion, wenn die Deadline mit bloßem Auge zu sehen ist. Wenn es Ihnen ebenso geht, gibt es hier die Möglichkeit, eine Geschenk-Mitgliedschaft abzuschließen.
Bonus: Die ersten Beschenkten erhalten zusätzlich, wenn gewünscht, ein signiertes Taschenbuchexemplar von “Montaignes Katze”
https://steadyhq.com/de/nminkmar/gift_plans (Abre numa nova janela)