Text für eine Anthologie
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Am 22.1. ist im Diogenes Verlag die Anthologie Eltern werden (Abre numa nova janela) erschienen. Die Herausgeberin Kati Hertzsch hat hier Originalbeiträge versammelt, die sich mit den Gefühlen rund ums Kinderhaben und auch Nichthaben beschäftigen. Warum bekommt man viele Kinder, warum entscheidet man sich für ein Leben ohne Kinder? Von den Wundern und Wunden der Elternschaft wird auf literarische und essayistische Weise so vielseitig erzählt, wie in keinem anderen Band zu diesem Thema. Ich bin sehr dankbar, dass ich in dieser Sammlung dabei sein darf. Meine Freund:innen Clara Schaksmeier und Tobias Schiller haben zum Beispiel darüber geschrieben, wie man sich selbst beeltert und über Aspekte von Elternschaft und Queerness.
Mein Text ist mir tatsächlich im letzten Sommer direkt aus der Seele in die Tasten geflossen und ich bin sehr froh, dass ich ihn euch, jetzt wo das Buch erschienen ist, hier auch zeigen und sogar vorlesen (Audiodatei kommt ganz am Ende) darf.
Wer mir auf Steady schon länger folgt, wird das Kaff am Oderhaff wiedererkennen. Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen.
Das Kirschenkind und ich
In diesen magischen Tagen wird mein großes Kind einundzwanzig Jahre alt. Einundzwanzig. Jahre. Alt. So alt wie ich damals war, als ich dieses Kind bekam. Bis vor ziemlich genau fünfzig Jahren war man erst dann volljährig. Nur auf dem Gebiet der DDR galt man schon immer mit achtzehn als erwachsen, dort, wo ich vor der Wende geboren bin, er lange danach.
Ich bin gerade zweiundvierzig geworden, bin jetzt also doppelt so lange auf der Welt wie dieses mein erstes Kind – und nehme immer häufiger Momente wahr, die mich in das grenzenlose Staunen über dieses Wunder zurückwerfen, ein Staunen, das ich so gut aus unseren Anfängen erinnere. Seinem Beginn in dieser Welt, meinem Beginn als Mutter.
Die Magie dieser Tage kommt nicht nur von den Zahlen, sondern vor allem von der Erinnerung an diesen Jahrhundertsommer 2003, die mich jedes Jahr im Juli überkommt, in dem wir beide geboren sind, das Kirschenkind und ich. Ich stand bis in den achten Monat hinein auf einer klapprigen Leiter in einem kleinen Dorf am Oderhaff und habe den biestigsten Staren und höchsten Ästen Kilo um Kilo abgetrotzt. Bis heute esse ich keine Kirsche, ohne daran zu denken, ohne mich an dieses Gefühl zu erinnern, das Kind in meinem Bauch strampeln und glucksen zu spüren, die Holzsprossen unter meinen nackten Füßen zu tasten, die würzige Wärme der Kiefernwälder rund ums Dorf zu riechen und den algenschillernden See, dessen Wasser sich seit Wochen zurückzog und faulenden Schlick am kleinen Strand hinterließ, der das Baden unmöglich machte, gerade als wir Abkühlung dringend nötig hatten.
Auf diesem See war ich im Winter zuvor Schlittschuh gelaufen. Nachdem sich die letzten Gäste Anfang Oktober verabschiedet hatten, war in der Villa nicht mehr viel zu tun. Ich putzte nach und nach vom Keller bis unters Dach, sortierte den Sommer aus, machte das Haus winterfest, lagerte die Terrassenmöbel ein, lockte die Rehe mit Eicheln an. Ich versuchte jeden Tag
Diesen Text habe ich für Diogenes geschrieben und darf ihn hier für Mitglieder zugänglich machen. Ich freue mich, wenn du auch dabei sein möchtest.
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