Warum schreiben?
Zunächst einmal eine Enttäuschung: Schreiben wird dein Leben nicht für immer verändern, es sorgenfrei, hell und rundherum perfekt machen. Keine der Supermethoden, die uns als lebensverändernd verkauft werden, kann es. Wenn du hoffst, dass Schreiben besser funktionieren wird als Yoga oder eins der anderen Gewohnheiten und Routinen, die du in den letzten Monaten und Jahren ausprobiert hast, könntest du recht behalten – und du könntest falsch liegen. Menschen sind komplizierter als Werbeslogans, Veränderungen langwieriger als angebliche Wundermittel.
„Allzu einfachen Erklärungen für eine gute Gesundheit sollten wir mit Skepsis begegnen, etwa Sätze wie ‚Ich gehe jeden Tag joggen, und deswegen bin ich so gesund.‘“ Ken Mogi, Nagomi
Köln Universitätsviertel, September 2010 © Kristina Klecko
Ende der Neunziger wurden auf Shoppingkanälen Fitnessgeräte mit dem Versprechen verkauft, man werde mit diesen nicht nur schlanker, vitaler und gesünder, sondern insgesamt besser: ein besserer Partner, eine bessere Kollegin, ein besserer Vater. Die meisten, die sich so ein Gerät damals gekauft hatten, haben es in den späten Nullerjahren auf dem Sperrmüll entsorgt. Seitdem ist die Zahl der Gurus und Anbieter gestiegen. Wer einmal zu oft „Businessplan“ bei Google eingibt, bekommt vor jedem Video auf YouTube einen Typen vorgesetzt, der einem erzählt, dass man mit KI-generierten Ausmalbüchern nächste Woche vierstellige Summen verdienen könnte. Selbst schuld, wer es nicht macht.
Sie alle möchten, dass wir besser werden. Wir möchten besser werden. Wir fallen nicht darauf rein. Wir hoffen.
„Mittlerweile gibt es zahlreiche Untersuchungen zum Thema Schreiben und Gesundheit, und die meisten zeigen, dass sich durch das Schreiben sowohl körperliche Beschwerden verringern lassen als auch die psychische Verfassung sich verbessert.“ Prof. Dr. med. Silke Heimes, Ich schreibe mich gesund
Das stimmt – und doch wird Schreiben nicht reichen. Nur gelegentlich zu schreiben, wird sehr wahrscheinlich nicht reichen. Wer sagt, DAS hat mein Leben verändert, verheimlicht in aller Regel, was alles zuvor nicht funktioniert hat und welche Methoden kombiniert werden mussten, bis es endlich klickte und sich langsam zu bewegen begann. Was immer an Angst, Wut und sonstigen Gefühlen da ist, wird vielleicht nicht über Nacht verschwinden, weil du geschrieben hast, vielleicht wirst du dir dafür professionelle Hilfe suchen müssen.
Trotzdem schreiben?
Die meisten von uns erlernen das Schreiben in der Schule. Es gehört zu den Grundtechniken unserer Bildung und unserer Kommunikation. Ich erinnere mich an meine Schreiblernhefte. Wie jeder Strich und jeder Schwung eine eigene Position hatten, wie mühsam es war, nicht über Linie und Rand zu schreiben. Schrift begleitet uns täglich. Wir schreiben Einkaufslisten, E-Mails, Kurznachrichten, manche von uns Urlaubspostkarten oder Konzepte, ganz wenige Essays oder Romane.
In einem Interview sagt die Autorin Nicole Krauss, sie habe im Schreiben eine Möglichkeit erkannt, sich selbst zu „erschaffen“, sich klar darüber zu werden, wer sie sein will. Durch das Schreiben stellen wir Fragen und beantworten diese, wir nehmen uns Zeit und entwickeln eine Haltung.
„Kulturelle Bildung ist Persönlichkeitsbildung mit und in den Künsten, mit kulturellen Ausdrucksformen und im Spiel. Sie ist zugleich eine Voraussetzung für kulturelle Teilhabe und Bestandteil von Allgemeinbildung.“ Kirsten Witt, Politische Bildung in der Kulturellen Jugendbildung
Doch nach wie vor umweht das Schreiben ein unangenehm elitärer Hauch. Die Branche diskutiert in regelmäßigen Abständen, wie notwendig diverse Stimmen in einer Literaturlandschaft sind, aber diese werden nicht vom Himmel fallen und die Einrichtung von Instituten für literarisches Schreiben an allen Universitäten wird es nicht richten. Autorin und Schreibpädagogin Betina Aumair führt in ihrem Artikel Schreibpädagogik und Klassismus aus, dass an künstlerischen Hochschulen seltener Kinder von Arbeiter:innen studieren, weil finanzielle Mittel für Materialien benötigt werden, aber auch weil die Laufbahn als freie:r Künstler:in keine finanzielle Stabilität verspricht. Es ist nicht zu erwarten, dass es an Instituten für literarisches Schreiben anders läuft, auch wenn man für Schreibmaterialien nicht so tief in die Tasche greifen muss, wie für andere Kunstformen.
Als Hobby schreiben?
Wer durch Hobbyabteilungen in Buchläden läuft, findet Ratgeber fürs Häkeln, Gärtnern oder Aquarellieren, aber kaum Schreibratgeber. Ausgerechnet Buchläden, die vom fixierten Wort leben, bieten kaum Hinweise zum Entstehungsprozess. Als fielen Bücher aus dem Nichts in die Regale. Deshalb fremdeln viele. Deshalb erzählen Menschen, die schreiben, nur selten, dass sie es tun, bis sie veröffentlicht und noch besser, ein großes Publikum gefunden oder einen renommierten Preis abgeräumt haben.
Schreiben ist mehr als das, was publiziert wird.
Das heißt nicht, dass alle Autor:innen sind oder es sein müssen. Schreiben kann ein Zeitvertreib sein, der Selbsthilfe dienen oder ein Schritt zur Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Diskurs sein. Das Schreiben ist eine alte und wertvolle Kulturtechnik, auch jenseits von Einkauflisten.
Ohne Anspruch auf Genialität. Ohne Anspruch darauf, dass es alles besser macht. Einfach, weil wir es können.
Danke, dass du mitliest und bis in zwei Wochen.
Kristina
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Vielen Dank, dass du mein Schreiben unterstützt.
“Und dann hast du diese leere Seite und auf dieser Seite kannst du entscheiden, alles zu werden und alles zu sagen.” Nicole Krauss
https://www.youtube.com/watch?v=2WrCIY3T8zs (Abre numa nova janela)Den Artikel zu Schreibpädagogik und Klassismus findet ihr hier (Abre numa nova janela).
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Für den Blog von Susanne Kleiner, wortwörtlichwirken, habe ich geschrieben, wie die Essays für diesen Newsletter entstehen. > lesen (Abre numa nova janela)