KI vs. Bauchgefühl – Wie Daten die Format-Entwicklung verändern
Jeder, der schon mal ein Format entwickelt hat, scheitert an der Frage: Wird die Sendung, die Serie, der Podcast beim Zuschauer funktionieren? Präzise Prognosen sind schwierig und wir haben uns damit abgefunden, dass man einfach viele Torten werfen muss, bis eine kleben bleibt. Dabei wird bis heute immer noch das gute alte Bauchgefühl der Content-Macher bemüht, um kreative Entscheidungen zu rechtfertigen. Dieses Bauchgefühl könnte nun endgültig von KI abgelöst werden. Taucht man tief in die Struktur von Inhalten ein und verknüpft diese Formatbausteine mit Daten, kann man sehr granular analysieren, was Zuschauer und Nutzer mögen und was nicht. Und diese Erkenntnisse lassen sich für die Entwicklung und Produktion von Inhalten nutzen.
Das holländische Start-up Content Intelligence Agency (CIA) (Abre numa nova janela) hat genau dafür ein Tool entwickelt und setzt es u.a. bei Banijay Holland bei „Surviver“ und „Big Brother“ ein. Die Köpfe hinter dem Start-up sind Mark Ramakers und Hans Bouwknegt. Ich kennen die beiden seit viel Jahren und habe mit den beiden schon öfter in Beratungsprojekten zusammengearbeitet. Wir haben dabei oft über die Frage diskutiert, warum Programmentscheidungen von der Einschätzung einzelner Personen abhängen und wie man das objektivierbar machen könnte. Für Mark, einen hochintelligenten Mathematiker und Finanzexperten, war das berühmte Bauchgefühl nie eine ausreichend logische Begründung. Nun hat er mit Hans und seinem Team ein datenbasiertes Tool entwickelt, mit dem man KI für die Formatentwicklung noch viel wirkungsvoller einsetzen kann als nur mit generativen Modellen wie ChatGPT. Ich habe mit Mark gesprochen, über Formatstruktur und Daten, wie überlegen die Streamer in Sachen Digitalisierung sind und wie man mit KI kreativ sein kann. Und natürlich haben wir wieder über das Bauchgefühl diskutiert.
Tanja Deuerling: Du hast zusammen mit Hans Bouwknegt die Content Intelligence Agency gegründet, kurz CIA. Was war der Impuls?
Es ist uns nie so richtig gelungen, die Botschaft zu übermitteln. Da haben wir gesagt, dann machen wir es halt selbst und zeigen, wie man das machen sollte.
Mark Ramakers: Wir sind ja schon länger als Berater im Medienbereich tätig. In den letzten fünf bis sogar zehn Jahre haben wir immer versucht, den Medienunternehmen zu erklären, dass die Digitalisierung etwas ist, das man umarmen muss. Man sieht das große Wachstum der Streaming-Unternehmen. Sie haben sich von Grund auf digital aufgestellt und setzen auf Daten. Die klassischen Sender und auch die Medienproduzenten haben viel weniger Kenntnisse über ihren Content als die Streamer. Wir haben immer versucht, sie da mitzunehmen, aber es ist uns nie so richtig gelungen, die Botschaft zu übermitteln. Da haben wir gesagt, dann machen wir es halt selbst und zeigen, wie man das machen sollte.
Tanja: Und was genau macht ihr?
Wir dekonstruieren ein Format in die unterschiedlichen Segmente und können diese framegenau mit KI analysieren.
Mark: Unser Ausgangspunkt war immer Content. Jede Art von Content, egal ob Fiction oder Entertainment, hat eine Struktur, die schon von der Filmwissenschaft analysiert wurde. Es gibt eine Mise en Scène, es gibt Protagonisten, es gibt eine Storyline und so weiter. Diese Struktur von Content macht es einfach, KI anzuwenden. Wir dekonstruieren ein Format in die unterschiedlichen Segmente und können diese framegenau mit KI analysieren. Dazu nutzen wir im Moment 19 verschiedene KI-Algorithmen. Zum Beispiel die Gesichtserkennung: Wir können sehen, wie lange welcher Schauspieler oder welcher Teilnehmer im Bild ist. Und wenn er im Bild ist, welche Emotionen zeigt er dann? Über Speech-to-Text können wir sehen, was gesagt wird, was wichtig ist und wo die Highlights sind. Und diese Daten, die verknüpfen wir mit Einschaltquoten, mit Streaming-Daten und mit Social Media.
Tanja: Also das heißt, ihr analysiert die Reaktion der Nutzenden auf einzelne Teile von Content auf eine so granulare Art und Weise, dass Inhalte Schaffende die Ergebnisse wieder für neue Produktionen umsetzen können?
Diese Einsichten waren für Banijay nicht neu. Sie wussten das schon, aber jetzt haben wir es mit Daten bewiesen. Und das ist etwas anderes als das Bauchgefühl, also das Wissen, das in den Leuten ist.
Mark: Richtig. Das zeigt dann den Produzenten oder auch Sendern, auf welche Bestandteile das Publikum wie reagiert. Damit kann der Produzent besseren Content entwickeln. Oder es hilft vielleicht beim Product Placement. Wenn wir wissen, dass bei „Survivor“ der Archetyp Drama-Queen am längsten in der Sendung bleibt, dann wäre das ja eine super Möglichkeit für Hennes & Mauritz, eine neue Bikini-Linie einzuführen, weil die Drama-Queen am längsten im Bild ist. Oder man kann die Drama-Queen von Format zu Format vergleichen. Funktioniert der Archetyp Drama Queen zum Beispiel besser in Big Brother oder in Survivor? Gerade haben wir sämtliche Episoden von drei Jahren Big Brother in Holland, Belgien und England verglichen. Wenn man das tut, sieht man, dass Konfrontation zum Beispiel in Holland wichtig ist. In Belgien aber wird die Konfrontation nicht so gemocht, sondern eher das Zusammenarbeiten. Man kann dann die Show so bauen, dass man die Ansprüche des Publikums genau erfüllt. Diese Einsichten waren für Banijay nicht neu. Sie wussten das schon, aber jetzt haben wir es mit Daten bewiesen. Und das ist etwas anderes als das Bauchgefühl, also das Wissen, das in den Leuten ist.
Tanja: Das finde ich total spannend. In der Fernsehbranche ist das Bauchgefühl quasi eine Kernkompetenz der Content-Macher. Bauchgefühl ist wissenschaftlich betrachtet eine Sammlung von tief verankertem Wissen. Auf dieser Basis „fühle“ ich schon die Entscheidung, weil ich darüber nicht mehr nachdenken muss. Ist das Bauchgefühl eine Kompetenz, die durch KI ausstirbt?
Wir geben den Unternehmen ein Tool, um ihr Wissen zu datafizieren, damit sie in der Zukunft sowohl ihr Bauchgefühl als auch ein gutes Tool haben, um den Vorsprung zu behalten. Das ist eigentlich das Ziel.
Mark: Nein, das glaube ich nicht. Andererseits setzen die großen Player so wahnsinnig viele Mittel für die Datafizierung ein, dass sie das Bauchgefühl überholen werden. Und das sieht man eigentlich jetzt schon in der Industrie. Netflix ist ein gutes Beispiel. Die großen Datenmodell sagen Netflix jetzt schon, was sie wo einkaufen müssen, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, ohne dass sie externe Daten brauchen. Und das wird immer mehr und mehr. Wir nutzen zum Großteil Open-Source-Algorithmen, die in unsere Plattform eingebaut sind. Unsere Nutzer behalten dabei die Daten für sich und trainieren auch nicht die großen Systeme. Die Erkenntnisse, die wir generieren, sind komplett für das Unternehmen. Für uns ist es nicht interessant, die Daten zu haben, wir geben sie wieder zurück. Für uns ist das Koppeln und das Strukturieren das Wichtigste. Das ist unsere Arbeit. Und: wir geben den Unternehmen ein Tool, um ihr Wissen zu datafizieren, damit sie in der Zukunft sowohl ihr Bauchgefühl als auch ein gutes Tool haben, um den Vorsprung zu behalten. Das ist eigentlich das Ziel.
Tanja: Ihr habt euer Tool mit über 1000 Reality-Folgen trainiert, vor allem mit den Staffeln von Big Brother und Survivor. War es schwierig, die Medienunternehmen zu überzeugen, das Tool zu trainieren und überhaupt in diese Idee zu investieren?
Mark: Es hat bei Banijay zwei Jahre gedauert, und da haben wir eigentlich einen relativ guten Zugang. Es geht immer über vier Schienen bei so einem Unternehmen, die alle überzeugt werden müssen. Es gibt die Content-Abteilung, dann die Abteilung, die sich um die Technik kümmert. Es gibt die Datenabteilung, und schließlich den Vorstand. Wir haben zuerst versucht, die Content Leute zu interessieren, indem wir ein paar Formate dekonstruiert und gezeigt haben, was man da rausholen kann, wenn man so systematisch vorgeht.
Tanja: Ich komme ja selbst von der Content-Seite. Ich kann mir vorstellen, dass die Kreativen da zumindest Fragen gestellt haben. Seid ihr auf Widerstände gestoßen?
Auf der einen Seite finden sie es gut, weil es viele neue Erkenntnisse gibt. Auf der anderen Seite empfinden sie es ein kleines bisschen als eine Bedrohung.
Mark: Ja, ja. Auf der einen Seite finden sie es gut, weil es viele neue Erkenntnisse gibt. Auf der anderen Seite empfinden sie es ein kleines bisschen als eine Bedrohung. Die Kunst ist halt, sie zu überzeugen, dass es nur ein Hilfsmittel ist, ihre tagtägliche Arbeit noch einfacher zu machen, damit sie sich hundertprozentig auf die Kreation von neuen Sachen konzentrieren können.
Tanja: Wenn man immer nur schaut, was in der Vergangenheit funktioniert hat, macht man dann in Zukunft nicht immer More of the Same?
Mark: Sehe ich nicht so. Das ist wie bei Lego. Man hat unendlich Bausteine, aber wie die Steine aufeinander gebaut werden, das ist noch immer eine kreative Sache. Wir bauen die kleinsten Lego-Steinchen und was der Kreative damit tut, das ist noch immer die Sache des Kreativen. Aber: wir wissen, wenn ich diese Steine so oder so zusammenlege, dann hat das in der Vergangenheit funktioniert. Ich glaube, dass man mit dem Tool eher kreativ sein kann. Man weiß schon vorher, ob etwas funktioniert.
Man hat unendlich Bausteine, aber wie die Steine aufeinander gebaut werden, das ist noch immer eine kreative Sache.
Tanja: Ich kenne Dich als Finanzspezialist. Du bist kein Kreativer, würde ich jetzt mal so sagen. Würdest du dir zutrauen, eine eigene Show zu konzipieren?
Mark: Ja, absolut, hundert Prozent.
Tanja: Scary.
Mark: Ich habe Mathe studiert und deswegen ist es für mich normal, große Sachen in kleineren Blöckchen zu bauen. Ich glaube an das Tool, aber ich bin kein Kreativer. Ich sehe Elemente, die funktioniert haben und würde das inhaltlich nicht in Frage stellen. Ich würde darauf vertrauen, dass die Kreativität, mit der die Elemente zusammengebaut wurden, und die Erkenntnisse des Tools zum Erfolg führen.
Tanja: Vielen Dank!