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Zwischen Chiffre und Strategie – Antisemitische Flugblätter im öffentlichen Raum

Vor einer Kirche wurden antisemitische Flugblätter verteilt – nicht nur an Erwachsene, sondern gezielt auch an Kinder. Der Inhalt bedient sich völkischer Geschichtsrevision, antisemitischer Chiffren und verschwörungsideologischer Rhetorik. Was einst hinter verschlossenen Türen oder in digitalen Echokammern zirkulierte, tritt 2025 mittlerweile ganz offen zutage. Antisemitismus – unverhohlen, aggressiv, strategisch. Die Sprache codiert, doch ihre Botschaft eindeutig. Es gilt, sie zu entschlüsseln.

Die folgende Analyse nimmt die ideologischen Motive und rhetorischen Techniken dieser Flugschriften in den Blick – und zeigt, wie sich alte Feindbilder in neuer Form ins Heute retten.

“Lasst sie lügen”

Ein Flyer mit der Überschrift in roter Handschrift: „Lasst sie frei! Uns fehlen noch mehr als 9.000 palästinensische Gefangene!“. Darunter folgt ein mehrspaltiger Text in roter Schrift, der Israel beschuldigt, seit 1967 über eine Million Palästinenser:innen, darunter Frauen und Kinder, willkürlich in „zionistischen Gefängnissen“ inhaftiert zu haben. Es wird von Folter, Hunger, Gewalt und systematischer Unterdrückung gesprochen. Eine Zahl von 9.000 aktuellen Gefangenen wird genannt. Im unteren Bereich des Flyers sind zwei schwarz-weiße Hände mit Ketten dargestellt, die in einer Geste des Protests geballt sind. Daneben befinden sich rote Strichlisten (Kerbmarkierungen), wie man sie zur Zählung verwendet. Unten rechts ist ein kleines Logo einer Organisation sowie ein QR-Code zu sehen.
"Lasst sie frei"

Wer den Flyer mit dem Slogan „Lasst sie frei“ in die Hand bekommt, liest von „zionistischen Gefängnissen“ und „über einer Million palästinensischer Gefangener seit 1967“. Was auf den ersten Blick wie ein Aufruf zu Solidarität erscheinen mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als geschichtsrevisionistisches und antisemitisches Framing. Der Begriff „zionistisch“ wird nicht als Beschreibung einer politischen Bewegung verwendet, sondern als abwertender Kampfbegriff. Gemeint ist der “böse” Staat Israel. In diesem Kontext ist „zionistisch“ ein Code – ein Platzhalter für ein dämonisiertes Israel, das entmenschlicht und als illegitim markiert wird. Wer so spricht, spricht über ein Feindbild.

Die behauptete Zahl von „über einer Million Gefangenen seit 1967“ wirkt wie aus der Luft gegriffen. Eine seriöse Quelle gibt es hierzu nicht. Stattdessen eine dramatisierende Zahl, die Wut mobilisieren soll – losgelöst von Kontext, losgelöst von Tatsachen. Kein Wort darüber, dass unter den Inhaftierten auch Mitglieder terroristischer Organisationen sind. Kein Wort darüber, dass Haftstrafen oft in direktem Zusammenhang mit Gewaltakten stehen. Wer solche Zahlen ohne Kontext verbreitet und israelische Gefängnisse als „zionistische“ dämonisiert, bedient nicht nur antizionistische Ressentiments – sondern greift auf die klassische Erzählung antisemitischer Agitation zurück, von “dem Juden” als Unterdrücker, der Staat Israel als ewiger Täter. Das ist kein Antikolonialismus. Das ist Antisemitismus.

„50.000 Kinder und Jugendliche“ – diese Zahl steht fett auf dem Flyer. Ohne Quelle. Ohne Zeitangabe. Ohne Kontext. Gemeint ist offenbar, dass Israel Kinder in Massen wegsperrt. Wer sich auf Daten seriöser Organisationen wie UNICEF, B’Tselem oder Human Rights Watch stützt, landet eher bei ein paar Hundert Fällen pro Jahr – und findet dort auch die entsprechende Einordnung. Inhaftierungen finden im Kontext von Gewalttaten, Messerattacken oder Mitgliedschaften in terroristischen Gruppen statt. Das steht natürlich nicht auf dem Flyer, denn es passt nicht zur Dramaturgie.

Auch die Behauptung, „unsere Geschwister wurden mehr denn je gefoltert“, bleibt vage – bewusst. Keine Namen, keine Zahlen, keine rechtliche Prüfung. Stattdessen eine maximale Emotionalisierung. Dass einzelne Organisationen immer wieder Missstände in Haftanstalten kritisieren, steht außer Frage. Aber die Pauschalisierung hier soll nicht informieren, sondern inszenieren, vom Bild eines Staates, der nicht Justiz, sondern Folter organisiert. „Nicht nur in Betsa – auch in Misgav.“ Vermutlich ist damit Megiddo gemeint, vielleicht auch andere Haftanstalten. Egal. Hauptsache viele Namen. Die Suggestion hier ist, dass Israel ein einziges Folterlager. Juristische Unterschiede? Militärrecht versus Zivilrecht? Existieren im Flyer nicht.

Wer die Sprache des Flyers liest, weiß schnell, wohin die Reise geht, es ist die Sprache von „Folter“, „Vergewaltigung“, „massiver Hunger“, „zionistische Kriegsgefangenschaft“. Das ist keine Kritik an konkreten Missständen. Das ist eine Dämonisierung Israels als sadistischer Unrechtsstaat. Solche Narrative sind ein fester Bestandteil antisemitischer Israelfeindschaft – wie sie im sogenannten 3-D-Test beschrieben werden: Delegitimierung, Dämonisierung, doppelte Standards.

Der Begriff „zionistische Kriegsgefangenschaft“ tut so, als würde es sich bei israelischen Haftanstalten um kriegsrechtlich illegitime Lager handeln. Das ist nicht nur juristisch falsch – es ist auch ideologisch aufgeladen. Israel wird hier mit totalitären Regimen auf eine Stufe gestellt. Das Ziel soll erzählerisch der Entzug jeglicher Legitimität sein. Das Mittel ist dabei antisemitische Rhetorik.

Wenn pauschal von „massiver Folter“, „Kollektivstrafen“ und „Massentötungen“ gesprochen wird, ohne jeden Beleg, entsteht ein Zerrbild. Dieses Zerrbild zielt auf mehr als nur Kritik – es schreibt eine Täter-Opfer-Umkehr. Israel, das als Zufluchtsort nach der Shoah gegründet wurde, wird in dieser Erzählung zum neuen Täterstaat erklärt. Eine perfide Logik, die nicht selten in eine unterschwellige Holocaustrelativierung mündet. Wenn alles Lager ist, ist irgendwann auch nichts mehr Lager.

Von Rom nach Ramallah

Schwarz-weißer Flyer mit wenig Text, gestaltet im selbstgemachten, aktivistischen Stil. Der Flyer stammt von einer pro-palästinensischen, progressiv-linken Organisation. Die Typografie wirkt handgemacht Grafische Elemente wie Linien oder Rahmen zur Strukturierung, Jesus in der Mitte zwischen Mistelzweigen. Insgesamt wirkt das Layout roh.
Jesus als Palästinenser

Wenn Jesus im Flyer als „Mitbürger Palästinas“ beschrieben wird, geht es nicht um Theologie. Der jüdische Rabbi aus Nazareth wird hier instrumentalisiert, um ihn als palästinensischen Märtyrer umzudeuten – als Symbol für Standhaftigkeit unter „zionistischer“ Fremdherrschaft. Diese Figur kennt man. Sie stammt nicht aus den Evangelien, sondern aus der Rhetorik der PLO, der BDS-Bewegung und christlicher Israelfeinde. Jesus als erster „Widerstandskämpfer“ gegen die jüdische Besatzung. Eine absurde Umkehr der Geschichte, die das Ziel hat, Jüd:innen aus ihrer eigenen Geschichte zu verdrängen. Jesus war kein Palästinenser. Jesus war Jude. Wer ihn ethnisch oder national uminterpretiert, betreibt nicht nur Geschichtsrevisionismus, sondern entkoppelt das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln – eine uralte Strategie christlichen Antisemitismus.

Wenn die Leiden Jesu unter der römischen Besatzung mit dem heutigen Schicksal der Palästinenser:innen gleichgesetzt werden, ist das kein theologischer Kommentar – es ist politischer Kitsch mit antisemitischer Schlagseite. Der Vergleich ist nicht nur historisch grotesk. Er relativiert auch die Shoah, wenn israelische Sicherheitsmaßnahmen mit römischer Gewalt verglichen und in eine Linie mit NS-Verbrechen gestellt werden.

Der Flyer spricht von „Belagerung“ und „permanenter Bedrohung durch israelische Besatzung und Siedlergewalt“. Was fehlt sind Fakten und der Kontext. Die Hamas. Der Islamische Dschihad. Die Realität von Raketenangriffen, Messerattacken, Busbomben. Stattdessen bedient man auch hier eine Täter-Opfer-Rhetorik, die Siedler pauschal zu Schlägern erklärt, die israelische Armee zur Vernichtungsmaschine stilisiert – und jegliche Sicherheitslogik ausblendet. Das Ergebnis ist auch hier ein Bild Israels, das nur noch als Aggressor existiert.

Der Flyer spricht schließlich von „systematischer Entmenschlichung“ christlicher Palästinenser:innen. Das ist ein Begriff, den man aus der Forschung zu Völkermorden kennt – aus Ruanda, Bosnien, der Shoah. Ihn auf die Situation im Westjordanland zu übertragen, ist nicht nur eine semantische Entgleisung. Er zielt auf die Gleichsetzung Israels mit NS-Deutschland – ein klassischer Topos des israelbezogenen Antisemitismus, wie ihn die IHRA-Arbeitsdefinition beschreibt.

Schwarz-weißer Flyer mit viel Text, gestaltet im selbstgemachten, aktivistischen Stil. Der Flyer stammt von einer pro-palästinensischen, progressiv-linken Organisation. Die Typografie wirkt handgemacht oder mit Schreibmaschine erstellt, teils mit Marker hervorgehoben. Der Text thematisiert Solidarität mit Palästina, fordert ein Ende der Besatzung und kritisiert Israels Politik. Forderungen nach Menschenrechten, Freiheit und Gerechtigkeit stehen im Mittelpunkt. Einzelne Wörter oder Slogans wie „Free Palestine“ oder „End Apartheid“ sind plakativ hervorgehoben. Keine Fotos, lediglich grafische Elemente wie Linien oder Rahmen zur Strukturierung. Insgesamt wirkt das Layout roh.
Jesus als Palästinenser

Dass der Flyer nicht nur israelbezogenen Antisemitismus verbreitet, sondern auch klassischen Geschichtsrevisionismus bedient, zeigt sich in dieser Passage: Dort ist von einer „jüdischen Kriegserklärung“ an Nazi-Deutschland die Rede – ein antisemitischer Mythos, der direkt aus dem Werkzeugkasten der NS-Propaganda stammt. Bereits in den 1930er Jahren konstruierten nationalsozialistische Medien diesen Vorwurf, um den Boykott jüdischer Organisationen gegen das Hitler-Regime als Aggression umzudeuten. Aus einem Akt legitimen Protests wurde ein Vorwand zur Entrechtung, Vertreibung und Ermordung.

Der Flyer recycelt diesen Mythos, als hätte es die Aufklärung darüber nie gegeben – und reiht sich damit ein in eine lange Tradition antisemitischer Legendenbildung, die die Schuld am Holocaust externalisieren will. Nicht die Täter sind schuld, sondern – wie immer – „die Juden“. Dass diese Behauptung längst widerlegt ist, stört nicht. Es geht um Deutungshoheit.

Die jüdische Weltverschwörung lebt – auch 2025

Wenn im Text suggeriert wird, jüdische Organisationen hätten globale Ereignisse gesteuert, Kriege provoziert oder übermächtigen Einfluss auf Politik und Medien genommen, dann ist das kein Betriebsunfall. Es ist antisemitische Ideologie in Reinform. Diese Erzählung – die vom „ewig Anderen“, das im Hintergrund die Fäden zieht – zieht sich durch die Geschichte, vom Stürmer bis zu QAnon, vom Protokolle der Weisen von Zion bis zu den Telegram-Gruppen der Gegenwart. Das verbreiten solcher Narrative knüpft nicht nur an eine gefährliche Vergangenheit an – er verschafft ihr Aktualität.

Die verteilten Flyer geben sich menschenrechtlich, antikolonial und solidarisch – und sind in Wahrheit ein Manifest des Antisemitismus. Von geschichtsrevisionistischen Lügen über eine angebliche „jüdische Kriegserklärung“ bis hin zur Dämonisierung Israels als Folterstaat und der Umdeutung Jesu zum palästinensischen Märtyrer, die Texte bedienen die gesamte Klaviatur antisemitischer Rhetorik – klassisch, religiös, modern. Was als Protest verkauft wird, ist faktisch Hetze.

Antisemitismus bleibt Antisemitismus – auch wenn er Palituch trägt.

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