Politisch. Wild. Gut.
Rückblick auf die erste Queer Pride in Radebeul 2023. Anlässlich der kurz bevorstehenden zweiten Ausgabe am 11.08.2024.
„Hinterland in deutscher Hand“. So steht es auf einem Transpi, das Nazis vom Dach eines Supermarkts zeigen. Unmittelbar am Auftaktort der ersten Queer Pride in der Radebeuler Stadtgeschichte. Das erfahre ich aber erst später. Ich glänze durch das, was ich am besten kann: Ich komme zu spät.
Als ich nach kurzer Fahrt mit der S-Bahn in Radebeul Ost ankomme, treffe ich auf rund 150 bis 200 Leute. Viele davon aus dem nahen Dresden angereist. Die Situation ist entspannt, von wenigen pöbelnden Passanten älterer Jahrgänge abgesehen. Die Nazis haben sich längst verzogen. Und sie werden im Laufe der Demo auch nicht mehr auftauchen, so viel sei verraten. Die Tage zuvor hatte diese Gruppe in Radebeul enorme Aktivitäten entwickelt, unter anderem Graffitis und massenweise Aufkleber an der Demoroute zeugen davon. Zumindest die Graffitis blieben nicht unbeantwortet, wie dieses Foto belegt:
Und auch die Anzahl an Nazi-Aufklebern reduziert sich im Laufe der Demo. Der bunte Haufen zieht los, viele motiviert, die rechten Hinterlassenschaften abzureißen, abzukratzen oder zu überkleben. Nicht allen gefällt das.
Gefahr lauert am Fenster
Die Demo passiert ein Haus, ein älterer Anwohner beobachtet die Szenerie aus seinem Fenster im zweiten Stock - und pöbelt. Drei Leute der Demo bleiben zurück, weil sie einen Mast von Nazi-Aufklebern befreien wollen. Der Demozug geht weiter, bis die hinteren Reihen Tumulte an der Kreuzung bemerken. Einige rennen zurück. Der Grund: Der unsportlich aussehende Nachbar war in Jogginghose aus Wohnung und Haus gerast, um die Nazi-Aufkleber zu retten. Handgreiflich werdend - die Abkratzenden sich verteidigend, die Herbeieilenden mithelfend. Geschubse, einer hat den Wutbürger kurzzeitig von hinten im Schwitzkasten, währenddessen sammeln sich sämtliche Hausbewohner*innen inklusive Hund und beobachten die Aufregung aus nächster Nähe.
Es dauert, bis die anwesenden Streifenpolizist*innen eingreifen. Später werden sie Teilnehmer*innen der Demo einer Personalienfeststellung unterziehen. Der bierbäuchige Nachbar, sich als Friedensengel gerierend, sieht sich als Opfer.
Kämpferisch und gut gelaunt
Politisch, punkig, kämpferisch. „Hinterland in queerer Hand“, lautet das selbstbewusste Motto. Die Teilnehmenden lassen sich von diesem Zwischenfall nicht beeindrucken, ziehen weiter. Hören bei der Zwischenkundgebung an den Landesbühnen Radebeul prägnant vorgetragene Reden. Besonders interessant ein Beitrag, der die Situation von Asexuellen thematisiert. Sehen sich auch in queeren Bubbles Anfeindungen ausgesetzt, weil manche ihnen den Status absprechen. Identitätspolitik in ihrer schlechtesten Form.
Die Demo endet auf dem weitläufigen Gelände des örtlichen Jugendklubs. Und spätestens angesichts der nun folgenden Ereignisse merken alle, dass sie sich in einer Kleinstadt befinden.
Einige Jüngere klettern aufs Dach, um von dort oben dem Auftritt der angekündigten Punkbands zu lauschen. Diese Idee wird zu einer jähen Unterbrechung führen. Als der Punksänger von Springer auf C4 sein erstes Lied darbietet, entreißt ihm ein älterer, aufgebrachter Mann das Mikrofon: „Runter vom Dach!“
Der Grundstücksverwalter. Die jungen Menschen folgen, klettern über einen angrenzenden Baum auf der Rückseite hinunter. Und werden dort von der Polizei in Empfang genommen. Apropos Polizei: Warum diese mit einem Streifenwagen eine Runde nach der anderen auf dem großflächigen Gelände dreht, erschließt sich dem großstädtischen Beobachter nicht. Ich beobachte das – und wundere mich.
Eine zweite jähe Unterbrechung – dieses Mal weder ein anwohnender Wutbürger noch ein wütender Grundstücksverwalter, sondern ein Unwetter. Alles verlagert sich nach drinnen, dort spielen die famosen Dosenstolz auf. Das vornehmlich junge Punk-Publikum lässt es auf der kleinen Tanzfläche krachen.
Zwei Jüngere, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, müssen früher los. Suchen Begleitung bis zum S-Bahnhof. Eine kleine, äußerlich diverse Gruppe formt sich. Die Rolle des optischen Stino übernehme ich.
Nazis lassen sich auf dem kurzen Weg keine blicken.
Derweil wundere ich mich, wie so oft, grundsätzlich: Wo bin ich hier gelandet? Vor zwanzig Jahren aus Süddeutschland zugezogen, dennoch aus dem Staunen nicht herauskommend. Heute wundere ich mich aber im positiven Sinne. Eine wilde erste Queer Pride in Radebeul, die fundierte Redebeiträge mit Pogo und einigen überraschenden Momenten verband. Eine solch anarchische Demo, solch absurde Szenen kann es in nur in der ostdeutschen Provinz geben.
In rund zwei Wochen gibt es die zweite Auflage der Queer Pride:
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