GZ #19 Weniger attraktiv. Mehr ehrlich.
Gofigramm
Ich kann mich nicht mehr gut an den Moment erinnern, an dem ich das linke Selfie gemacht habe. Ich weiß aber, dass es am vergangenen Montag gewesen ist. Ich kam gerade wieder zu mir, nachdem mir drei Weisheitszähne entnommen worden und noch zwei andere Schnitte gesetzt worden waren (Du willst die Einzelheiten nicht wissen).
Entdeckt habe ich das Foto auf meinem Handy, als ich nach einem Profilfoto für einen Messenger gesucht habe. Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, es zu nehmen. Aber nur kurz. Dann habe ich mich für ein attraktiveres Bild entschieden.
Wir alle versuchen, möglichst gut auszusehen, uns möglichst attraktiv zu präsentieren. Das ist ganz natürlich, oder? Du wirst mir aber sicher zustimmen, wenn ich sage, dass die Social Media, die inzwischen von den allermeisten von uns genutzt werden, erheblich dazu beigetragen haben, dass wir uns selbst, unser Leben, unseren Alltag, in ein möglichst positives Licht rücken. Selbst wenn wir uns öffentlich über schlimme Mitmenschen und Zustände beschweren, wie das zum Beispiel in dem Netzwerk ‘Threads’ viel passiert, versuchen wir das doch besonders attraktiv und reichweitenwirksam zu tun. Schließlich geht es darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Warum? Ähm …, darum.
Neulich habe ich mit der fantastischen Musikerin Heidi Joubert gesprochen. (Du kannst Dir dieses Gespräch auf Cobains Erben anhören. Es ist auf Englisch, aber es lohnt sich wirklich sehr! (Abre numa nova janela)) Unter anderem sagte sie, dass es eines ihrer größten Ziele ist, echt, authentisch zu sein. Wenn ich sie mir auf der Bühne betrachte, dann habe ich den Eindruck, dass sie diesem Ziel wirklich sehr nahekommt. Und auch in unserem Gespräch saß mir eine Frau gegenüber, die ganz leicht erreichbar war, nahbar, offen, einfach echt. Das war ein wirklich schönes Erlebnis.
In Kirchengemeinden, in der Politik, in Kunst und Kultur bemühen wir uns um Relevanz. Wir verbinden mit diesem Wort Reichweitenstärke. Und wir glauben, so scheint es mir zumindest, dass der Weg dorthin Attraktivität ist. Könnte es sein, dass das ein fataler Irrtum ist? Könnte es sein, dass nicht die hübsche Oberfläche uns zum Ziel bringt, sondern die Echtheit, die Authentizität, die Ehrlichkeit? Und dass gerade sie eben sehr oft überhaupt nicht hübsch ist? Und dass das aber ihrer Relevanz überhaupt keinen Abbruch tut, sondern sie im Gegenteil fördert und bestärkt?
Ich plädiere für einen Paradigmenwechsel. Wir brauchen weniger hübsch, wir brauchen mehr wow. Weniger Attraktivität, mehr Ehrlichkeit. Das ist besser. Und zwar für alle.
Ich wünsche Dir eine tolle Woche. Bis zum nächsten Montag!
Dein Gofi
In eigener Sache
Wie Du das GOFIZINE lesen kannst
Neulich hat mich eine Freundin angerufen, die gerne das GOFIZINE liest. Sie wollte mir einen Tipp geben und sagen, dass der Newsletter ihrer Meinung nach zu umfangreich sei. Er enthält einfach zu viel, sagte sie, das schafft man gar nicht alles, und das wirkt irgendwie entmutigend.
Ich verstehe das und würde Dir deshalb gerne das GOFIZINE ganz kurz erläutern. Mir ist klar, dass dieser Newsletter wirklich sehr umfangreich ist. Darum erwarte ich gar nicht, dass Du Dir alles in Gänze zu Gemüte führst. Meine Hoffnung ist, dass Du Dir das herauspickst, was gerade in Deine Lebenssituation passt.
Wenn Du zum Beispiel besonders an mir persönlich und meinen Gedanken interessiert bist, dann liest Du wahrscheinlich das GOFIGRAMM.
Wenn Du nur äußerst wenig Zeit hast, schaust Du Dir vielleicht eines der Fotos und Gemälde an.
Solltest Du an einer kleinen Dosis Literatur interessiert sein, die Dich nur wenige Minuten kostet, dann liest Du die Micro Story.
Solltest Du aber sehr viel Zeit haben, weil Du zum Beispiel krank im Bett liegst, wie ich neulich nach meiner OP, dann kannst Du Dir auch eine Podcastfolge anhören.
Das GOFIZINE liefert Dir so wenig oder so viel Du willst. Es ist eben ein ZINE (sprich: „Siehn“, wie Magazine, Fanzine, Punk Zine. Die Punkkultur ist für mich eine wichtige Inspiration für praktisch alles, was ich mache.) Es bietet Dir viel, damit Du Dir aussuchen kannst, was Dir gefällt.
Vielen Dank, dass Du es liest!
Art2Go
A Timid Beginning And A Sudden End
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Podcast
Cobains Erben „Mein größter Wunsch ist es, echt zu sein.“ – Die Musikerin Heidi Joubert im Gespräch
Gemeinsam mit Marius Müller-Westernhagen steht sie auf den größten Bühnen, sie ist eine Meisterin des Cajón und als Sängerin eine absolute Naturgewalt: Heidi Joubert veröffentlicht in wenigen Tagen ihr Debut-Album, eine Mischung aus Soul, Rock, Pop und Weltmusik, obwohl sie als Musikerin schon seit Jahren tourt und auch Alben veröffentlicht hat. Aber eben nicht alleine. Und nicht, wie es jetzt der Fall ist, nach einem harten Lebensbruch und einem Neustart als Musikerin und Mensch. Die Songs, die sie mit Hochkarätern der Branche eingespielt hat, sind sehr persönlich und beschreiben die letzten Etappen ihrer Lebensreise. In diesem Gespräch erzählt Heidi uns, wie sie Musikerin geworden ist, was die 'Universität der Straße' sie darüber gelehrt hat, wie sich Musik und Spiritualität für sie verbinden und worum es ihr in ihrer Musik geht. Ein ehrliches, tiefgehendes Gespräch, das wir auf Englisch geführt haben und an dem Jay diesmal leider nicht teilnehmen konnte. (Episodenbild: Jörg Steinmetz)
Mehr von Heidi Joubert:
cajonbox.com (Abre numa nova janela)
heidijoubert.com (Abre numa nova janela)
00:00:00.00 A Force of Nature
00:22:18.00 Restoration
00:34:58.07 Out of the box
00:56:33.15 2025
Micro Story der Woche
Keine halben Sachen
Noch eben die eine Story, sagt Franco, dann lass ich dich hier aufm Sofa crashen. Das glaubst du nicht, Digger, aber das ist alles echt passiert. Also, da kommt dieser Typ ins Loft rein, echt nur son ganz kleiner Typ, aber macht richtig einen auf dicke Hose. Ja, Franco grient, weil er sich auf die Geschichte freut, aber dann explodiert ihm halt seine Pfefferspraykatusche in der Hosentasche. Keine Ahnung, wie das geht oder wie der das gemacht hat, aber irgendwie scheint das manchmal zu passieren. Jedenfalls, ist ja schon für sich genommen Scheiße, aber dann brennen ihm natürlich auch die Klöten vom Pfefferspray, ist ja logisch, und er rein ins Klo und brüllt seine Freundin an, sie soll ihm Milch holen, damit er damit seine Eier baden kann, und die macht das auch. Und dann setzt er da das ganze verdammte Klo unter Wasser, oder eigentlich Milch, muss man ja eher sagen, bis dann mein Kollege kommt und an die Kabinentür klopft, was er da eigentlich macht und ob er nicht mal mit der Scheiße aufhören will. Und was macht der Typ? Der reißt die Tür auf, und anstatt vielleicht mal irgendwas zu erklären oder keine Ahnung, sich zu entschuldigen oder so, ballert der dem gleich die nächste Ladung Pfefferspray ins Gesicht. Hat wohl noch ne Katusche dabeigehabt. Jedenfalls, der Typ brüllt und mein Kollege brüllt und sieht natürlich auch nichts mehr, aber packt ihn und hält ihn an den Klamotten fest, und der Typ mit halb runtergelassener Hose haut ab und rennt durch den Laden, und mein Kollege hält ihn immer nur fest, und der Typ, während er rausrennt, ballert noch mal ne Ladung quer durch den ganzen Laden und kann sich dann irgendwann losreißen und rennt über den Bahnhofsplatz. Das ging alles so schnell, wir anderen haben erstmal gar nicht mitgekriegt, was los ist. Jedenfalls haut der Typ ab, und ich hab son ganz jungen Kollegen dabei gehabt, der war das erste Mal dabei gewesen, und der rennt ihm hinterher. Und der kriegt ihn auch! Aber dann sieht der, dass da überall Bullen stehen und denkt sich, Na gut, die werden den dann ja wohl einkassieren. Aber machen die natürlich nicht, weil die ja gar keine Ahnung haben, was bei uns losgewesen ist.
Ja, Franco fasst sich an die Stirn und schüttelt betrübt den Kopf, und der war dann natürlich weg gewesen. Klar. Den haben wir nicht wieder gekriegt. Boah, war das peinlich, ey. Ich meine, die mussten den Laden zumachen, ist ja logisch, da mussten alle raus, das konnte da drinne ja niemand mehr aushalten, wegen dem Pfefferspray und so. Was meinst, was die für Verdienstausfälle gehabt haben an dem Abend? Und der Typ, der das bezahlen muss, den lassen wir laufen, ey. Peinlich! Also, der junge Typ, sorry, aber den hab ich am Abend gleich wieder gefeuert. Der braucht bei mir nie wieder antanzen. Klar, fehlende Erfahrung, und so. Aber ey, nee, tut mir leid, bei mir ist der durch. Hab mich tausendmal entschuldigt bei den Leuten vom Loft. Peinlich, peinlich.
Also, wenn du bei mir einsteigst, Franco grinst freundlich, aber sein erhobener Zeigefinger signalisiert, dass er es ernst meint, dann mach nicht son Scheiß. Dran bleiben und keine halben Sachen. Sonst wirst du bei mir nicht glücklich.
Alles klar, sagt Jens, verstehe. Klar, logisch. Das muss man … Das muss man dann schon durchziehen, äh, in diesem Beruf. Ist schon klar. Er versucht sich, das Loft vorzustellen, in dem er noch nie zuvor gewesen ist, versucht sich in die Situation hineinzufühlen, wie es sein mag, für die Sicherheit anderer Menschen verantwortlich zu sein, wie es sein mag, wenn man angegriffen wird, sich verteidigen, jemanden festhalten muss, sieht aber immer nur einen Mann vor sich, der seine Hoden in Milch badet.
Er weiß nicht, ob dieser Job wirklich das Richtige für ihn ist.
Literatur und Video
Micha Kunze: Brieffragment II
https://youtu.be/H84tnBpuRPU?feature=shared (Abre numa nova janela)Draußen ist es Sommer,
ich sitz in einer neuen Stadt,
vor dem Schreibmaschinenalphabet
und einem leeren Blatt.
Ein zweites Mal schreib ich an dich,
es gibt so viel zu reden.
Uns trennen nur paar Jahre,
aber wirklich trennen uns Leben.
Ich hätt‘ niemals gedacht, dass in
so wenig Zeit so viel passiert.
Und manche deiner Sätze an dich selbst
so schnell Gewicht verlieren.
Es stimmt, dass dieser erste
Brief von dir auch andere berührt.
Doch in den Zeilen an dich selbst,
bist du auch ziemlich hart zu dir.
Du fühlst dich noch nicht angekommen,
weil du so viel im Außen lebst,
dich selbst vergisst und übergehst
und sagst, dass du da drüberstehst.
Hast deine Augen überall,
hast alle um dich rum im Blick.
Doch wenn du nur auf andre schaust,
dann übersiehst du dich.
Es braucht noch seine Zeit,
bis du verstehen kannst, was ich meine.
Die Schuhe der Anderen passen dir auch –
doch es sind nicht deine.
Und wenn du mal auf dich schaust und dann merkst,
dass das auch richtig ist,
dann tut es weh, wenn andre sagen,
dass du egoistisch bist.
Und dann kommt die Scham ins Spiel,
und dann Gewissensbisse.
Dann folgt die Wut
und sie schlägt zu,
dann kriegt deine Fassade Risse.
Dann bist du nicht mehr lenkbar,
und das stößt auf Widerstand.
Doch steh dazu und bleib bei dir,
genauso fängt die Freiheit an.
Und du machst so furchtbar viel,
musst so viel leisten, nicht allein sein.
Weil die Geister unsrer Zeit
genau das in dich reinschreien.
In dir drin tausend Gefühle,
so viele kennst du jetzt noch nicht.
Es ist nicht fair, wenn deshalb nur
die Wut oder das Schweigen spricht.
Drum lern dich kennen, hör dir zu
und finde Worte für dein Fühlen.
Und schau genau auf all die Dinge,
die in deinem Innern wühlen.
All die Sätze, die verletzend
mühelos in deine Seele tauchen,
zeigen auf die Stellen in dir drin
die heut‘ noch Heilung brauchen.
Das Glück geht öfter, als es kommt,
du fragst, wo es geblieben ist.
Heut‘ weiß ich, dass das Wichtigste
nicht Glück, sondern der Frieden ist.
Du bist dir selber auf der Spur,
die ersten Schritte sind gemacht,
du hast so viel geplant,
doch es kommt anders als gedacht.
Denn schon bald, da klopft die
große Traurigkeit an deiner Tür.
Und du suchst die Schuld bei dir,
dabei kannst du nichts dafür.
Und sie wird ‘ne Weile bleiben,
und sie lädt dich dazu ein,
den Blick nicht von dir wegzurichten,
sondern in dich rein.
Wirst manche Glaubenssätze
bald entziffern, manche nicht.
Sie sind oft falsch geschrieben,
haben nicht mal deine Schrift.
Und es fühlt sich wie ertrinken an,
wenn unter dir der Boden naht.
Doch am Ende finden kann sich nur,
wer sich zuvor verloren hat.
Und dann nach viel zu vielen Wintern,
ganz allein, da wird dir klar:
die Menschen, die du grade brauchst,
die sind schon lange da.
Und die sind auf deiner Seite,
sind die, die sogar fragen.
Die für dich ein offenes Ohr
und Zeit und auch ein Sofa haben.
Dann mach mal nichts, und denk nicht nach,
auch wenn das ein paar Nächte braucht.
Zu Kräften kommst du nur da wo
dir niemand deine Kräfte raubt.
Denn du willst schließlich alles,
nur nicht stehenbleiben, ja.
Doch wird dir so vieles
nur beim Stehenbleiben klar.
Das Leben ist ein Drahtseilakt,
stehst auf den Seilen drauf.
Manchmal kommt der Wind und
wirft dich um
und manchmal bleibt er aus.
Und obwohl es stimmt,
so richtig hilfreich ist es nicht:
zu hör’n, dass nach der Nacht,
die du erlebst, wieder ein Tag anbricht.
Könnt dir noch so viel schreiben,
wie ich dich heut wahrnehm.
Doch eigentlich will ich dich
jetzt nur einfach in den Arm nehmen.
Dir sagen, dass ich stolz drauf bin,
wie hart du um dich selber kämpfst.
Zu dem wirst, der das Gute und
nicht ständig seine Fehler nennt.
Du hast dich durchgebissen
und das Handtuch nicht geworfen.
Nur deshalb ist dein Du auch irgendwann
zu meinem Ich geworden.
So viel wurde kritisiert
und so viel Gutes nicht gesagt.
Das ist der eigentliche Grund, warum
ich dir geschrieben hab.
Du machst das gut, pass auf dich auf,
die nächsten Jahre werden hart.
Doch heute schreibt dein neues Ich,
das sich dadurch gefunden hat.
Ein Ende finden fällt mir schwer,
weil ich noch mehr Gedanken habe.
Doch vor allem möcht ich dir
aus tiefster Seele Danke sagen.
Ich weiß, da wo du gerade sitzt,
bist du noch bisschen hoffnungstrist.
Vielleicht hilft’s dir zu wissen,
dass hier noch immer Sommer ist.
Ich schick dir ein bisschen Wärme
in deinen kalten Winter rein.
Nichts wiederholt sich ewig,
und bald wird alles anders sein.
Bald wird alles besser werden,
das wirst du noch erfahren.
Ich wünsch dir nur das Beste,
wir hören uns in ein paar Jahren.
Micha Kunze ist crossmedialer Redakteur, Autor, Lyriker und Spoken Word Artist. Geboren und aufgewachsen in Bietigheim-Bissingen lebt er derzeit nach dem sehr erfolgreichen Abschluss des Masterstudienganges „Theorien und Praktiken professionellen Schreibens“ an der Universität zu Köln ebendort.
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