Wer macht Kultur, wer kümmert sich?
Oder: Warum ich mit Benjamin von Stuckrad-Barre auf die Seychellen will
Vor vielen Jahren traf ich Julia. Eine Working Woman, wie sie in der LinkedIn-Bibel steht. Einen schnelleren, smarteren und hübscheren Kopf habe ich selten gesehen und erlebt. Julia erzählte mir ihre Geschichte: Als sie 25 Jahre alt war, wurde ihre Mutter krank, Darmkrebs. Julia schmiss ihren Job in einer Werbeagentur und zog für die Pflege ihrer Mutter zurück in ihr Heimatdorf. Für Julia war klar: «Wenn es ans Sterben geht, werde ich da sein (Abre numa nova janela)».
Julia ist kein Einzelfall. Geht es darum, eine Person innerhalb der Familie zu pflegen, übernehmen diesen Job meist Frauen. Die Zahlen (Abre numa nova janela): Erwerbstätige Frauen leisten im Schnitt 3:29 Stunden unbezahlte Fürsorgearbeiten pro Tag, erwerbstätige Männer sind im Schnitt 2:08 Stunden am Tag mit unbezahlter Arbeit beschäftigt. Kommen Kinder hinzu, wird der Unterschied noch krasser. Pflegepersonen, die unbezahlte Pflegearbeiten leisten (wie Julia) sind zu zwei Drittel Frauen.
Es gibt einen Begriff für diesen Unterschied in der Zeit für Fürsorge: Gender Care Gap (Abre numa nova janela). Am größten ist die Lücke der Geschlechter im Alter von 34 Jahren. Frauen verbringen in diesem Alter durchschnittlich fast neun Stunden pro Tag mit unbezahlter Sorgearbeit, während es bei Männern nur etwa drei Stunden sind, das entspricht einem Gender Care Gap von etwa 170 Prozent.
Quelle: DIW Berlin 2023 (Abre numa nova janela)
Neben der vielen Care-Arbeit gibt es noch eine Form von Arbeit, die mehrheitlich von Frauen erledigt wird: emotionale Arbeit. Den Begriff Emotional Labour – also Emotionsarbeit – hat die Soziologin Arlie Hochschild geprägt, um die (emotionale) Arbeit von Menschen in Dienstleistungsberufen zu beschreiben. Menschen, deren Job darin besteht, freundlich zu sein, Flugbegleiter*innen zum Beispiel.
Doch die emotionale Arbeit kommt nicht nur im Job vor, sondern auch und vor allem im Privaten. «Die bewusste Manipulation der eigenen Emotionen, damit andere sich wohl fühlen – das ist die klassische Definition von Emotional Labour», schreibt die Autorin Bianca Jankovska und nennt das Beispiel Orgasmus. Laut einer Studie der Forscher Gayle Brewer und Colin Hendrie von der University of Leeds täuschen 87 Prozent der heterosexuellen Frauen ihren Partnern einen Orgasmus beim Sex vor. Hauptsache, er ist glücklich.
Hauptsache, es geht allen gut. Den Kolleg*innen, den Nachbar*innen, den Kindern, den Haustieren. Wer sich darum kümmert? Die Frauen.
Und jetzt komme ich zum Punkt des Textes (denn alles andere habe ich schon hundertmal aufgeschrieben und es kommt mir vor, als hätte ich meine Finger bereits fusselig geschrieben – zum Beispiel hier (Abre numa nova janela) – und mit mir alle feministischen Autor*innen der vergangenen Jahrzehnte...): Weil diese ganze Arbeit von Frauen gemacht werden, können Männer andere Dinge tun. Zum Beispiel auf den Seychellen Bücher schreiben.
https://twitter.com/Mareicares/status/1648745141811699718?s=20 (Abre numa nova janela)#NotAllMen und #NotAllWomen rufen Menschen, die aufgeregt in meine DMs sliden, weil sie sich selbst gemeint und/oder nicht abgebildet fühlen. Aber genau darum geht es (mir) gar nicht. Es geht nicht um einzelne Personen, es geht um ein System. (Ähnlich wie beim Axel Springer-Verlag übrigens, auch wenn es gerade so scheint, als würde es um ein paar Männer gehen – eigentlich geht es vor allem um Frauen, die unter Machtmissbrauch leider mussten und es vermutlich auch heute noch tun.) Ein System, in dem Frauen und weiblich gelesenen Personen Fürsorge zugeschrieben wird – und somit erwartet wird, dass sie sie übernehmen. Während Männer dadurch sehr viele Freiheiten haben. Zum Beispiel ihrer Erwerbsarbeit nachzugehen, möglichst ungestört. Und am Ende sehr viel Fame für ihre Arbeitsergebnisse zu bekommen. Ein System mit ungleich verteilter Macht und Ausbeutung.
Worüber ich Benjamin von Stuckrad-Barre noch kein einziges Mal in all den vielen Interviews rund um seinen Roman sprechen hören habe: Wer eigentlich verantwortlich dafür ist, dass wir heute so über #MeToo bei Axel Springer sprechen, wie wir es tun. Diese Recherche (Abre numa nova janela) von Juliane Löffler, Katrin Langhans, Daniel Drepper und Marcus Engert war der Ausgangspunkt von allem. Hier (Abre numa nova janela) spricht Juliane Löffler bei der re:publica über ihre wichtige Arbeit.
In diesem Bericht (Abre numa nova janela) von der Berliner Buch-Premiere von «Noch wach» kommt das Wort Machtmissbrauch EIN EINZIGES MAL vor. Ansonsten geht es um die Selbstdarstellung des Buch-Autors, um Erinnerungen des Autors an gute alte Zeiten, um Popkultur, Musik, um die Sprache von Stuckrad-Barre, die ja, wow, genau so ist wie in der eigenen Redaktion oder Werbeagentur, stark, und um Gefühle. Allerdings nicht um die Gefühle der missbrauchten Frauen. Davon kein Wort.
Vielleicht ändert es sich ja noch, wer weiß, aber bisher sehe ich es so, wie die Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru schreibt: (Abre numa nova janela) «Den bis dato größten Me-Too-Skandal in Deutschland machen aktuell Männer alleine unter sich aus. Sie sind die Verlierer, ja, aber eben auch die einzigen Gewinner.»
Foto von Thomas Mann und Erika Mann; via Heike Specht auf Twitter (Abre numa nova janela); Foto: William Vandivert
Wenn wir schreiben, schreiben wir aus unserer ganz eigenen Perspektive. Wenn wir schreiben, schreiben unsere Eltern mit und wie wir mit ihnen lebten. Wenn wir schreiben, schreibt die Straße mit, an der wir leben. Wenn wir schreiben, schreibt unser Bankkonto mit und das Geld, das darauf liegt (oder unser Dispo). Wenn wir schreiben, schreiben unserer Erfahrungen mit. Wenn wir schreiben, schreibt unsere Perspektive mit.
Wenn vor allem weiße cis Männer schreiben, fehlen Perspektiven. Das ist immer wichtig, aber es ist besonders wichtig, wenn es um Machtmissbrauch geht. Denn die Macht liegt (noch hauptsächlich) bei diesen Männern. Die Frage, wer schreibt, ist besonders wichtig, wenn wir etwas am System ändern wollen. An einem System, das Männer wie Helden feiert, die solche Bücher schreiben und gleichzeitige jahrelang die Nutznießer des Systems waren (und noch immer sind) – während Frauen, die das Gleiche tun, übersehen oder belächelt werden. Oder es schlichtweg nicht schaffen, solche Bücher zu schreiben, weil sie keine Ressourcen dafür haben oder auch Angst. Denn eine Frau, die über #MeToo schreibt, muss mit anderen Reaktionen rechnen als ein Mann, der über Machtmissbrauch schreibt.
Und natürlich hängt Sichtbarkeit und Erfolg im Kapitalismus nicht nur mit dem Geschlecht von Kulturarbeitenden zusammen, sondern auch von ihrer sozialen Herkunft und ihrem Vermögen, also dem finanziellen. Kunst entsteht durch Kapital (Abre numa nova janela), noch immer. Nicht nur die Macht ist bei den Männern, das Geld ist es auch. Und Kunst entsteht durch alles, was mit dem Kapital zu tun hat. Habitus (also das Auftreten eines Menschen, Gestik, Mimik, wie eine Person sich die Nase putzt oder grüßt) zum Beispiel. Passend dazu heißt der Podcast, der mit Betroffenen des Machtmissbrauchs im Springer-Verlag spricht, Boys Club (Abre numa nova janela). Ein #MeToo-Roman von einer Autorin gibt es übrigens auch, er trägt den passenden Titel «Das Privileg (Abre numa nova janela)».
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