Bros und Böller: Zum Umgang mit Silvester
Dear Rebel with Kid(s),
ich melde mich in diesem Jahr ein letztes Mal, aus einem aktuellen Anlass; Silvester steht vor der Tür. Und so, wie wir uns jedes Jahr auf Böller-Lärm einstellen, bereiten sich Krankenhäuser auf verletzte Männer vor, die teils notoperiert werden müssen. Ja, vor allem Männer, wie wie eine Auswertung des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB) (Abre numa nova janela) aus 17 Jahren Silvester zeigt: Männer machen 97 Prozent der „Bölleropfer“ mit schweren Handverletzungen aus. Oft spielen risikoreiches Verhalten und Alkoholkonsum eine Rolle. Keine Überraschung, oder? Bleibt die Frage: Was können wir als Eltern tun, um unsere Söhne und ihr Umfeld zu schützen? Eine kleine Anleitung:
Böllern verbieten?
Soweit ich weiß, sind Böller sowieso erst ab 18 - aber hält es unsere Kinder davon ab, sie in die Luft zu jagen? Mal ehrlich: Nein! Ich habe selbst geböllert als ich noch viel zu jung dafür war - das Verbotene macht doch gerade den Reiz aus. Darum würde ich es heute genauso halten wie meine eigene Mutter damals: Mein Bruder hatte irgendwo Böller aufgetrieben und natürlich hatten wir vor, sie zum Explodieren zu bringen. Bevor wir also rausgegangen sind, hat sie uns darauf hingewiesen, 1. unsere Kapuzen über die Köpfe zu ziehen, damit kein fremder Böller in ihnen landen und in unseren Nacken explodieren konnte, 2. die Böller immer sofort wegzuwerfen nach dem Anzünden, 3. einander damit nicht zu bewerfen. Das konnte sie nur, weil wir als Kinder gelernt hatten, dass wir unserer Mutter alles anvertrauen können und sie uns generell selten etwas verbietet.
Trotzdem denke ich heute auch: Unsere Eltern waren damals sehr locker, oder? Ich würde meinen Sohn heute keinen Böller anzünden lassen - aber er ist auch noch im Grundschulalter, da lässt sich das dann doch noch leicht verbieten. Schwieriger wird es bei Teenagern. Da es in Deutschland kein allgemeines Böllerverbot gibt, wie es ein Bündnis aus der Deutschen Umwelthilfe, der Gewerkschaft der Polizei und der Bundesärztekammer (Abre numa nova janela) seit Jahren fordert, ist der Reiz und die Lust auf Teilhabe natürlich da. Also: Wenn es eine Faszination dafür gibt, warum dann nicht gemeinsam ein paar Böller zünden? Oder eine schöne Rakete? Andererseits: Wunderkerzen, Knallerbsen, Zinngießen und Co. können doch auch Spaß machen - warum unseren Kindern nicht auch ein paar Alternativen zeigen, die Bastelkiste rausholen oder sich mit Lichter- und Lasershows (Abre numa nova janela) für zuhause beschäftigen? Ist auch besser für die Umwelt und ein bisschen Disco-Atmosphäre zuhause hält die Stimmung eben so hoch!
Über Risiken aufklären
Offenbar nutzen vor allem Jungen und Männer Böller auf riskante Weise: Zu den häufigsten Verletzungen zählen Knochenbrüche, Sehnen- und Nervenverletzungen, Verbrennungen, Amputationen bis hin zur Zerstörung ganzer Hände. Das beginnt schon im Kindesalter, darauf weist schon das UKB hin: Besonders gefährlich seien Blindgänger, die Kinder am Neujahrsmorgen finden und manchmal erneut anzünden. Diese würden explodieren oft unerwartet schnell explodieren. Also schon hier sollten Eltern klar warnen: Finger weg!
Bei Jugendlichen oder auch erwachsenen Männern ist die riskante Nutzung weniger eine Unbedarftheit, sondern mehr Teil eines traditionell-männlichen Verhaltens. Junge Männer wetteifern beispielsweise darum, wer sich traut, den Böller am längsten nach dem Anzünden in der Hand zu behalten - das kann natürlich schief gehen und darum geht’s ja auch. Wer den eigenen Körper riskiert, kann sich Respekt in der Gruppe verschaffen. Was hier hilft, wenn der jugendliche Sohne aber darauf besteht, mit seinen Kumpels zu böllern? Ein Vorgespräch kann sicher nicht schaden: Mache deinem Sohn bewusst, dass solche Dynamiken entstehen können, in denen er sich unter Druck gesetzt fühlt, sich riskanten “Spielen” anzuschließen und überlegt gemeinsam, wie er sich diesen Spielen entziehen könnte. Vielen Jugendlichen fällt es schwer zu sagen “Nee, das ist mir zu gefährlich”. Vielleicht aber könnte er den Spieß umdrehen und sich anders äußern? Sowas wie: “Nee, du, das brauche ich echt nicht”.
Regeln aufstellen: Mit wem ist er unterwegs?
Vereinbarungen darüber, wann unsere Söhne zuhause sein sollten, welches Feuerwerk wie verwendet wird etc. pp. können schonmal helfen. Aber wichtig ist auch: Mit wem ist er unterwegs? Durch Recherchen und Gespräche mit Männlichkeitsforschenden weiß ich mittlerweile, dass der Gruppen- und Profilierungsdruck höher ist, wenn sich unsere Söhne in einer Peergroup bewegen als wenn sie sich mit echten Freund*innen umgeben - also mit Menschen, bei denen sie sich zeigen können, wie sie wirklich sind. Unter Freund*innen können unsere Söhne schon eher Kritik und Unbehagen äußern als wenn sie ständig befürchten müssen, von der Gruppe als “Schlappschwanz” betitelt und ausgeschlossen zu werden. Woran könnte das liegen?
Eine kurze wissenschaftliche Erklärung aus einem Handout (Abre numa nova janela) vom WDR-Format Quarks: Wenn wir Entscheidungen treffen, dann ist einerseits das kognitive Netzwerk im Gehirn aktiv und andererseits das emotionale Netzwerk – dadurch entscheiden wir einerseits logisch und vorausdenkend und andererseits entsprechend unserer Gefühle. In der Pubertät sind aber beide Systeme noch nicht ausgereift, vor allem wird das emotionale Netzwerk überaktiv, sobald Gleichaltrige auf einer Party auftauchen – dadurch steigt auch die Neigung zu riskantem Verhalten; Jugendliche rauchen beispielsweise mehr und trinken auch mehr Alkohol.
Die soziale Unsicherheit, die Dynamiken - unter jungen Männern geht’s oft um Hierarchien - in Peergroups scheinen das emotionale Netzwerk unserer Kinder also besonders unter Druck zu setzen. Ergo: Als Eltern können wir daraus Regeln ableiten und mit unseren Söhnen vereinbaren, zum Beispiel, dass sie gerne mit ihren Freunden Silvester verbringen können, aber nicht mit einer den Eltern unbekannten Gruppe um die Häuser ziehen. Ob sie dann darauf hören, ist eine andere Sache. Daher noch ein weiterer Tipp:
In Niedersachsen gibt es seit 2004 die Aktion Schutzengel, die Jugendliche dazu auffordert, ihre Freund*innen nach Alkohol- oder Drogenkonsum vom Autofahren abzuhalten – und bald darauf sind die Unfallzahlen in dieser Region gesunken! Das zeigt: Gegenseitige Verantwortungsübernahme kann ein Schlüssel sein, um gesichtswahrend aus den riskanten “Spielen” auszusteigen – Anerkennung bedeutet dann nicht, den eigenen Körper zu riskieren, sondern auf die Freunde zu hören und ein Taxi zu nehmen. Heißt für uns: Unsere Söhne und ihre Freunde dazu anhalten, aufeinander aufzupassen, vielleicht sogar immer zwei Verantwortliche für den Abend ernennen - wobei das dazu führen könnte, dass sich die anderen von ihrer Eigenverantwortung freisprechen und erst recht alle Hemmungen verlieren. Besser ist wohl, alle Freund*innen (!) aufzufordern, aufeinander aufzupassen.
4. Verantwortung statt Risiko vorleben
Kinder lernen am meisten durch Beobachtung. Wenn wir bewusst auf lautes Böllern verzichten oder klare Regeln setzen, vermitteln wir wichtige Werte: zum Beispiel Rücksichtnahme und Verantwortungsbewusstsein. Wir können mit unseren Kindern darüber sprechen, warum wir selbst auf das Knallen verzichten - etwa, weil es wilde Tiere und auch Haustiere jedes Jahr massiv verstört.
Stattdessen könnten wir uns auch überlegen, was wir uns für das neue Jahr wünschen, ein paar persönliche Ziele festlegen. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel mit meinem Kind eine Hand ausgeschnitten - es war seine eigene, die er zuvor auf einem Blatt Papier mit einem Stift umrundet hatte - und ihn fünf realistische Wünsche für das kommende Jahr in den Daumen und die vier Finger schreiben lassen. Die Hand haben wir an seine Zimmertür geklebt und jedes Mal, wenn er ein Ziel erreicht oder einen Wunsch verwirklicht hatte, konnte er den Daumen bzw. einen Finger abknicken - bis am Ende eine Faust entsteht. Damit vermitteln wir unseren Kindern auch ein Gefühl für Zeit und langfristiges Denken.
Natürlich kann man auch einen schönen Filmabend veranstalten oder Silvester einfach verschlafen und sich sein Leben oder Zeiten der Reflexion nicht von außen diktieren lassen, aber andererseits ist allein die Teilhabe an diesem Fest eine schöne Tradition, die auch Struktur gibt und Teil einer Routine werden kann, durch die wir angehalten werden, uns auf uns selbst zu besinnen.
So halte ich es zumindest.
Und damit wünsche ich dir einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Herzlich
Anne
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