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Venedig im Frühling

Was wir alles verdrängen und wegdrücken müssen, um halbwegs intakt durch den Alltag zu gehen. Über eine Begleiterscheinung dieser Zeit

Dear all,

seit einiger Zeit habe ich den Eindruck, dass ich besonders lange brauche, um Dinge innerlich zu ordnen. Und ich frage mich, ob das mit den vielen Ansprüchen zu tun hat, die das Leben seit einigen Jahren an mich stellt, oder ob es sich dabei nicht auch um eine Begleiterscheinung dieser Zeit handelt. Um eine Begleiterscheinung dieser Jahre, die von uns verlangen, dass wir tatgtäglich so vieles wegdrücken, so vieles verdrängen und bei so vielem wegschauen, um halbwegs intakt durch den Alltag zu gehen.  

Die Lesungen waren wunderbar. Lucy, eine befreundete Autorin, die auch in “Die Zeit der Verluste” einen Auftritt hat, war aus Berlin gekommen. Und Margarethe von Trotta, eine meiner persönlichen Heldinnen, saß in der ersten Reihe des ausverkauften Saals. Ein Teil von mir konnte nicht glauben, dass ich hier, auf dieser Bühne stand.

Seit etwas über einer Woche bin ich nun zurück aus Venedig, und aus Gründen, über die ich mir nicht ganz im Klaren bin, muss ich immer noch an die Tage dort zurückdenken. Der Anlass für die Reise waren zwei Lesungen aus den italienischen Übersetzungen von “Die Zeit der Verluste” und “Allein”, eine bei Incroci di Civilta, dem internationalen Literaturfestival Venedigs, die andere am Mailänder Goethe-Institut, das nur drei Zugstunden von Venedig entfernt ist. Ich konnte wieder im Centro Tedesco di Studi Veneziani unterkommen, das schon in “Die Zeit der Verluste” eine so tragende Rolle spielte und für das ich inzwischen zarte Zuhause-Gefühle hege. Schon im Winter hatte ich mich dazu entschlossen, für die Eröffnung der Venedig-Biennale zu bleiben.

Die Lesungen waren wunderbar, vor allem die bei Incroci di Civilta, die auch im Centro stattfand. Lucy, eine befreundete Autorin, die auch in “Die Zeit der Verluste” einen Auftritt hat, war aus Berlin gekommen. Und Margarethe von Trotta, eine meiner persönlichen Heldinnen, saß ebenfalls in der ersten Reihe des ausverkauften Saals. Ein Teil von mir konnte nicht glauben, dass ich hier, auf dieser Bühne stand und, unterstützt von Petra, einer ziemlich großartigen Moderatorin und Übersetzerin, über mein Schreiben sprach. Am Tag zuvor hatte mir das Festival sogar ein Wassertaxi spendiert. Ein ausgesprochen hübscher Mann hatte mich in seinem Motorboot vom Flughafen abgeholt und quer über die Lagune und durch die Kanäle der Stadt direkt in den Palazzo Barbarigo gefahren, in dem das Centro zuhause ist. Die Sonne schien, der Himmer war blau, das Wasser glänzte. Es war wie ein seltsamer Traum eines Lebens, das nicht meines war, ich aber für ein paar Tage trotzdem bewohnen durfte.   

Wir schauten uns die dunkle, gespenstisch schöne Pierre-Huyghe-Schau in der Punta della Dogana an. Wir aßen im Garten der Kirche von San Giorgio, nachdem dort die Endzeit-Skulpturen von Berlinde de Bruyckere eröffnet hatten. Wir schauten in einem Palazzo von Nicolas Berggruen dem Performancekünstler Miles Greenberg dabei zu, wie er sich viele Stunden lang in den Heiligen Sebastian verwandelte, zu futuristisch-trauriger Musik und mit vielen Pfeilen im schmerzenden Körper.

Was mein Gefühl einer leichten Irrealität noch verstärkte, war der Umstand, dass ich inzwischen so oft aus den “Verlusten” gelesen hatte und sich die Erinnerungen an diese Lesungen über die Orte stülpten, über die ich geschrieben hatte und an denen ich mich nun erneut befand. Einige von ihnen mied ich bewusst – etwa die Toteninsel San Michele – andere suchte ich erneut auf – etwa die Gallerie dell’Accademia. Ich ging auch wieder fast jeden Tag in die kleine Pasticceria, in der ich im Winter vergangenen Jahres jene köstlichen Fritelle gegessen hatte, und brachte der Verkäuferin dort sogar “Soli”, die italienische Ausgabe von “Allein”, vorbei, da sich herausstellte, dass sie eine große Leserin war und es ohnehin schon seit einiger Zeit auf ihrer Leseliste stand.

Nachdem Lucy abgereist war, kamen Loretta und Daniel, Maggie und Simone, Dean, Stefan, Kristof und Thomas nach Venedig – Freundinnen und Bekannte, die zur Eröffnung der Biennale anreisten. Petra vom Centro, die schon seit fast drei Jahrzehnten in Venedig lebt und wie ich über Kunst schreibt, hatte uns beiden ein Ticket für die Vor-Vor-Eröffnung besorgt, was einem unglaublichen Luxus gleichkam. Zusammen liefen wir mit nur wenig anderen Menschen durch das Arsenale, den zentralen Pavillon und die Pavillons in den Giardini, ohne Schlange stehen zu müssen und mit so viel Zeit und Raum zum Atmen und Nachdenken, wie ich es von meinen bisherigen Biennale-Besuchen nicht kannte.

So etwas wie diese Biennale-Ausstellung hatte ich noch nie gesehen. Pedrosa macht klar, dass all diese Positionen so bedeutend und nicht selten so überragend sind, dass sie eigentlich zum Kunstkanon gehören sollten. Kiluanii Kia Henda, Dean Sameshima, Omar Mismar, Claudia Alarcón & Silät, Puppies Puppies, Filippo di Pisis, Roberto Montenegro oder Louis Fratino – diese Namen und diejenigen vieler anderer Künstler*innen sollten wir eigentlich alle kennen. Aber wir tun es nicht. Einige der Fotos, die ich von ihren Werken gemacht habe, schaue ich mir noch heute immer wieder an. Noch heute staune ich.

Die folgenden Tage traf ich meine Freundinnen und Bekannte. Wir gingen zusammen essen, fuhren Boot und genossen die elektrisierte Stimmung, die in der Luft lag. Wir schauten uns die dunkle, gespenstisch schöne Pierre-Huyghe-Schau in der Punta della Dogana an, die ich wahrscheinlich nie vergessen werde. Wir aßen im Garten der Kirche von San Giorgio, nachdem dort die eindringlichen Endzeit-Skulpturen von Berlinde de Bruyckere eröffnet hatten, die ich ebenfalls nie vergessen werde. Wir schauten in einem Palazzo von Nicolas Berggruen dem Performancekünstler Miles Greenberg dabei zu, wie er sich viele Stunden lang in den Heiligen Sebastian verwandelte, zu futuristisch-trauriger Musik und mit vielen Pfeilen im schmerzenden Körper. Wir streiften durch Christoph Büchels Ausstellung in der Fondazione Prada, der dort die größtmöglichen Affront hinlegte, der in der Kunstwelt vorstellbar ist, und den ganzen Palazzo mit dem Zivilisationsmüll vollgestellt hatte, den wir alle bei unserem Ableben hinterlassen – und mit Verweisen darauf nicht sparte, auf welchen Grausamkeiten, auf welchen Krediten und Kriegen unser westliche Wohlstand und all sein Müll beruht. Ein Zettel auf einer der dortigen vollgemüllten Schreibtische forderte uns dazu auf, die Mobilnummer eines Künstlers anzurufen, der ziemlich gut sein soll, was wir taten. Allerdings ohne, dass jemand abnahm.

Wir waren so beschäftigt, all diese Freiheiten zu genießen, dass wir nicht darüber nachdachten, wie schnell all das vorbei sein kann. In einem ganz konkreten Sinn – Giorgia Meloni, die rechtsextreme Ministerpräsidentin Italiens, hat einen ebenfalls rechtsextremen Biennale-Direktor ernannt, der die Venedig-Biennale ab nächstem Jahr politisch für sie auf Kurs bringen soll. Eine so weltoffene Biennale wird es erst einmal nicht mehr geben. Und in einem weiteren Sinn.

Neben diesen Ausstellungen, die man sich alle anschauen sollte, wenn man diesen Sommer in Venedig ist, besuchten wir immer wieder auch die Biennale-Ausstellungen selbst. Vor allem die beiden Hauptausstellungen im Arsenale und im zentralen Pavillon gehören zu den besten Ausstellungen, die ich je gesehen hatte. Adriano Pedrosa hat sie kuratiert und sie zu einer Schau all jener künstlerischen Positionen gemacht, die seit Jahrzehnten aus der Kunstwelt ausgegrenzt werden: Bilder, Skulpturen, Performances, Videos und Filme von Künstler*innen aus Asien, Afrika und Südamerika, von indigenen, feministischen und immer wieder von queeren Künstler*innen. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Pedrosa macht klar, dass all diese Positionen so bedeutend und oft so überragend sind, dass sie eigentlich zum Kunstkanon gehören sollten, es aber nicht tun, weil wir das in Europa und Amerika bisher schlicht nicht zugelassen haben. Kiluanii Kia Henda, Dean Sameshima, Omar Mismar, Claudia Alarcón & Silät, Puppies Puppies, Filippo di Pisis, Roberto Montenegro oder Louis Fratino – diese Namen und diejenigen vieler anderer Künstler*innen sollten wir eigentlich alle kennen. Aber wir tun es nicht. Einige der Fotos, die ich von ihren Werken gemacht habe, bringen mich noch heute zum Staunen.

An meinem letzten Tag in Venedig standen Petra, Simone und ich an einem kleinen Stehtisch in Santa Croce, aßen Cicchetti, nahmen ein Getränk zu uns und genossen die Sonne, als Petras Telefon klingelte. Es war Christoph Büchel, der Künstler, der die Fondazione Prada mit dem Zivilisationsmüll vollgestellt hatte. Er rief tatsächlich zurück, es war seine Nummer gewesen. Euphorisch bedankten wir uns bei ihm für die Ausstellung, die uns schockiert, berührt und mitgenommen hatte.

Ich nahm einen Schluck meiner Cola Zero, beschloss diese Gedanken, wie es zurzeit so viele von uns tun, wegzudrücken, beschloss zu verdrängen und wegzuschauen, um das Leben an diesem Frühlingstag weiter zu genießen. Solange das noch geht.

In dieser absurden und absurd schönen Situation hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich all das zum letzten Mal erleben würde, zum letzten Mal erleben könnte. Wie sehr wir unsere Freiheiten für gegeben hinnehmen, dachte ich, unsere eigene Freiheit, die der Kunst, der Meinung und der Demokratie, die unseres Wohlstands. Es war so normal für uns, all das zu tun, so normal, im Frühjahr durch Venedig zu streifen, so normal, eine Biennale-Ausstellung zu sehen, wie es sie noch nie gegeben hatte, so normal, die Kunst von Menschen zu genießen, die ihr Leben lang an die Seite gedrängt wurden, so normal, den Luxus all dieser Freiheiten zu genießen, dass wir nicht darüber nachdachten, wie schnell all das vorbei sein kann. In einem ganz konkreten Sinn – Giorgia Meloni, die rechtsextreme Ministerpräsidentin Italiens, hat einen ebenfalls rechtsextremen Biennale-Direktor ernannt, der die Venedig-Biennale ab nächstem Jahr politisch für sie auf Kurs bringen soll. Eine so weltoffene Biennale wird es erst einmal nicht mehr geben. Und in einem weiteren Sinn. Wer weiß, wie nahe die Kriege in der Ukraine und in Nahost kommen werden. Wer weiß, was die diesjährigen Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern und in Amerika bringen werden. Wer weiß, wie schnell der Klimawandel voranschreitet, mit seinen Extremwetterlagen, die dieses Jahr noch viel bedrohlicher wirken als schon im überaus bedrohlich wirkenden vergangenen Jahr. Ich nahm einen Schluck meiner Cola Zero, beschloss diese Gedanken, wie es zurzeit so viele von uns tun, weguzudrücken, beschloss zu verdrängen und wegzuschauen, um weiter halbwegs intakt durch den Alltag zu gehen. Um das Leben an diesem Frühlingstag weiter zu genießen. Solange, das noch geht.

Alles Liebe,

Daniel   

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Nach dem Umzug ins Pflegeheim stirbt Didier Eribons Mutter. Wie in »Rückkehr nach Reims« wird dieser Einschnitt für den Soziologen zum Ausgangspunkt einer eindrucksvollen Reise in die Vergangenheit – und die Grundlage eines so persönlichen wie politischen Plädoyers gegen die Ausgrenzung im Alter.


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