Du weinst nicht, weil du traurig bist – du bist traurig, weil du weinst
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Warum du deinen Gefühlen nicht trauen kannst – und wie du sie verändern kannst.
In der aktuellen Serie dreht sich alles um eine Erkenntnis: Denken findet nicht nur im Gehirn statt. Wer besser lernen, arbeiten und kommunizieren will, sollte wissen, wo noch.
Du gehst in den Wald und plötzlich steht da ein Bär. Dein Herz klopft, deine Handflächen beginnen zu schwitzen. Und deine Beine, sie beginnen zu rennen. Bären sind, so flauschig sie als Kuscheltier sein mögen, verdammt gefährlich. Was passiert während der Fluchtreaktion in deinem Gehirn und Körper? Wahrscheinlich wäre die logischste Erklärung folgende: Du siehst den Bären, die visuellen Signale erreichen erst deinen primären visuellen Kortex und dann Areale, die für Angst zuständig sind. Dein Gehirn teilt deinen Beinen mit: RENNEN! SOFORT!
Diese Sicht auf unsere Emotionen (und Angst ist eine solche) gibt es seit Jahrtausenden und hat prominenten Verfechter: Aristoteles, Buddha, Darwin, Freud, aber auch moderne Denker wie Steven Pinker, Paul Ekman und dem Dalai Lama.
Lagen sie alle falsch?
Nun. Heute geht es darum, dass diese Sicht auf Emotionen aller Wahrscheinlichkeit nach falsch ist. Das Beispiel oben stammt vom amerikanischen Psychologen William James. Er sagt: »Der gesunde Menschenverstand sagt, wir verlieren unser Glück, sind traurig und weinen; wir begegnen einem Bären, haben Angst und laufen weg; wir werden von einem Rivalen beleidigt, sind wütend und schlagen zu. Aber diese Reihenfolge ist falsch.« Richtiger wäre es, schrieb James, zu sagen, dass »wir traurig sind, weil wir weinen, wütend, weil wir zuschlagen, ängstlich, weil wir zittern«.
Die korrekte Geschichte, schreibt die wissenschaftliche Autorin Anne Murphy Paul, geht eigentlich so: »Der Körper produziert Empfindungen, der Körper initiiert Handlungen – und erst dann fügt der Verstand diese Beweise zu der Einheit zusammen, die wir Emotion nennen.« Und auch die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barett, die aktuell zu den meistzitierten Wissenschaftler:innen der Welt gehört, vertritt die These, dass Emotionen nicht biologisch in unserem Gehirn verankert sind, sondern konstruiert werden. Mit anderen Worten: Wir empfinden Emotionen nicht einfach nur – wir erschaffen sie aktiv. Und das heißt auch: Wir können sie verändern. Das ist natürlich eine Zumutung. Was meinen James, Murphy und Feldman Barett genau?
Wir sind unseren Emotionen nicht ausgeliefert
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler:innen damit begonnen, die Theorie von James mit Hilfe moderner Untersuchungstechniken wie dem Gehirnscanning zu vertiefen. Ihre Studien zeigen: Was wir als Emotion bezeichnen (und was die meisten von uns als etwas definieren, das in unserem Gehirn stattfindet), ist eigentlich aus verschiedenen elementareren Bestandteilen zusammengesetzt. Erstens: die von unserem Körper erzeugten Signale (ihr erinnert euch, Stichwort: Interozeption). Zweitens: die Überzeugungen unserer Familien und Kulturen darüber, wie diese Signale zu interpretieren sind.
Murphy schreibt: »Aus dieser Perspektive ergeben sich zwei wichtige Implikationen. Erstens: Je mehr wir uns der interozeptiven Empfindungen bewusst sind, desto reichhaltiger und intensiver (Abre numa nova janela) kann unser Erleben von Emotionen sein. Und zweitens: Mit interozeptivem Bewusstsein ausgestattet, können wir in die Konstruktion von Emotionen einsteigen; wir können an der Schaffung der Art von Emotionen, die wir erleben, teilnehmen.«
Aus Angst mach Aufregung
Hier ein Beispiel: Alison Wood Brooks, eine außerordentliche Professorin an der Harvard Business School, setzte in einer Reihe von Studien (Abre numa nova janela) Gruppen von Menschen Erfahrungen aus, die die meisten als nervenaufreibend empfinden würden:
das Ausfüllen eines »sehr schwierigen IQ-Tests«, der »unter Zeitdruck« durchgeführt wurde;
das Halten einer »überzeugenden öffentlichen Rede darüber, warum Sie ein guter Arbeitspartner sind«;
und – am quälendsten von allen – das Singen eines Popsongs aus den 80er Jahren (»Don't Stop Believin« von Journey).
Vor Beginn der Aktivität sollten die Teilnehmer:innen sich entweder selbst anweisen, ruhig zu bleiben, oder sich sagen, dass sie aufgeregt sind.
Die Umdeutung von Nervosität in Aufregung führte zu einem deutlichen Leistungsunterschied. Die IQ-Testteilnehmer:innen schnitten deutlich besser ab. Die Redner:innen wirkten überzeugender, kompetenter und selbstbewusster. Sogar die Sänger:innen schnitten passabler ab (gemessen an dem von ihnen verwendeten Nintendo Wii Karaoke Revolution Programm – wie wissenschaftlich das ist, lassen wir mal unkommentiert). Alle berichteten, dass sie tatsächlich ein angenehmes Gefühl der Aufregung verspürten. Das ist bemerkenswert und würde man so bei dieser Art von Aufgaben nicht erwarten.
Gestresst? Das ist ja super!
Noch ein Beispiel. Was empfandest du vor deinen wichtigsten Prüfungen (egal, ob Schule oder Uni)? Wahrscheinlich: Stress. 2010 ließen (Abre numa nova janela) Wissenschaftler:innen vor einer Gruppe von Teilnehmer:innen der Zulassungsprüfung für die Graduiertenschule in Boston eine Botschaft vorlesen:
»Die Leute denken, dass sie schlecht abschneiden, wenn sie sich bei einer standardisierten Prüfung ängstlich fühlen. Jüngste Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass Erregung der Leistung bei diesen Tests nicht schadet, sondern sie sogar verbessern kann. Menschen, die sich während einer Prüfung ängstlich fühlen, können sogar besser abschneiden. Das bedeutet, dass Sie sich keine Sorgen machen sollten, wenn Sie sich während des heutigen Tests ängstlich fühlen. Wenn Sie sich ängstlich fühlen, erinnern Sie sich einfach daran, dass Ihre Erregung Ihnen helfen könnte, gut abzuschneiden.«
Eine zweite Gruppe erhielt vor der Prüfung keine solche Botschaft. Drei Monate später, als die Ergebnisse der Prüfung bekannt gegeben wurden, waren die Student:innen, die ermutigt worden waren, ihre Stressgefühle neu zu bewerten, im Durchschnitt 65 Punkte besser. Hossa.
Wann die kognitive Neubewertung funktioniert – und wann nicht
Psycholog:innen, die sich mit der Konstruktion von Emotionen beschäftigen, nennen diese Praxis »kognitive Neubewertung«. Es geht darum, eine interozeptive Empfindung wahrzunehmen und zu benennen und sie dann neu zu bewerten. Und die Forschung (Abre numa nova janela) zeigt, was man beachten sollte, wenn man selbst versucht, seine Emotionen neu zu bewerten. Denn nicht immer klappt das gleich gut. Zwei Punkte sind entscheidend:
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