[SHORTS:] Das Herz der Wellen
Langsam kam Amira zur Ruhe, der Pinsel in ihrer Hand malte die letzten Wellen auf die Leinwand.
Amiras Herzschlag beruhigte sich, sie war wieder sie selbst.
Sie hatte viel gemalt in letzter Zeit, meistens mitten in der Nacht.
Sie malte, wenn die Alpträume sie quälten, wenn die Angst sie überrollte.
Ihre Bilder: abstrakte Wellen, tosende Gewässer, aufgewühlte Meereslandschaften. Stürme und Licht, das sich zwischen Gewitterwolken brach. Manchmal waren darin menschliche Formen erkennbar, die gegen die tobenden Wellen ankämpften.
Amira malte, seit sie denken konnte – und mit der Zeit waren ihre Bilder zu echter Kunst geworden, für die andere Menschen sogar Geld zahlten. Doch für Amira war es immer noch dasselbe wie in ihrer Kindheit. Malen war Therapie.
Amira malte gegen den Horror, der ihr noch immer in der Seele tobte. Die Erinnerungen an kreischende Menschen zwischen den Wellen. Und die Nächte ohne ihn: Ohne ihren großen Bruder, Abderrahim.
Amira umfasste das Amulett um ihren Hals. Ihr Stein. Für viele Menschen – besonders für ihren Adoptivvater – war es verwunderlich gewesen, warum Amira gerade dieser Stein so extrem lebenswichtig gewesen war: war es doch ein ganz gewöhnlicher Stein, wie man ihn an den Stränden rund ums Mittelmeer zuhauf finden konnte. Sicherlich, er hatte vielleicht eine ungewöhnlich hübsche Herzform – doch Amiras Faszination an dem wenige Zentimeter großen Stein grenzte an Besessenheit, als Amira mit vier Jahren zu ihren Adoptiveltern kam.
Amira war eines der Kinder mit olivfarbener Haut, die in einer stürmischen Nacht an der Südküste von Spanien, nahe Gibraltar, aus dem Meer gerettet wurden. Für die traumatisierten Kinder wurde so rasch wie möglich ein humanitärer Adoptivplatz in Spanien gesucht – und das kleine Mädchen hieß fortan mit Nachnamen Molina und wohnte in Málaga.
Als sie am Strand aufgesammelt wurde, umklammerte Amira in ihrer linken Hand fest einen kleinen herzförmigen Stein, den sie auf keinen Fall loslassen wollte. Auch später, schon bei den Molinas, würde sie den Stein nicht aus der Hand geben. Schließlich, als Amira fast schon ein Jahr bei ihnen war, wurde es Herrn Molina zu bunt und er ließ den Stein – Amiras „cœur de la mer“, wie er den herzförmigen Stein scherzhaft nannte – in Platin fassen und sie ihn als Amulett um den Hals tragen.
Nun, fast 20 Jahre später, stand Amira in ihrem kleinen Atelier und umfasste ihren Herzstein. Alles, was ihr geblieben war von Abderrahim. Sie vermisste ihn so sehr...
Schließlich sollte die große Ausstellung beginnen. Die Kunstschule von Madrid hatte unter dem Titel „Elementos del Arte“ die angehenden Künstlerinnen und Künstler des ganzen Landes aufgerufen, ihr Können zu zeigen. Die Professoren waren für ihr kritisches Auge bekannt – wer dort bestand, hatte es fast geschafft. Und Amira war die Ehre zuteilgeworden, ihre Werke präsentieren zu dürfen.
Neugierig wanderte Amira durch die Räume und sah sich die Kunstwerke der anderen Ausstellenden an. Viele hatten das Thema „Feuer“ oder „Mutter Erde“.
Interessiert schaute sie von Raum zu Raum.
Eine Installation mit Seifenblasen faszinierte das Kind in ihr. Es war lange her, dass jemand mit ihr und Seifenblasen gespielt hatte. Nein, stoppte sie sich sogleich, jetzt nicht an Abderrahim denken – es wäre wohl nicht sehr professionell, wenn sie mitten in der Ausstellung Tränen vergoss. Um sich zu sammeln, fasste sie an ihr Amulett.
Abderrahim hatte den herzförmigen Stein damals am Strand von Ceuta aufgesammelt und ihr sanft in die Hand gedrückt. „Damit du beschützt hinüberkommst“, hatte er ihr zugeflüstert. Und damit ich dich nicht vergesse, wenn du nicht hinüberkommst, dachte Amira nun und blinzelte gegen die Tränen an, die hochkommen wollten. Besser, sie schaute weiter. Das wühlte sie zu sehr auf.
Schließlich kam sie zu Raum Nummer 7, dem größten der Ausstellungsräume.
Hier fiel ihr sofort die Skulptur einer Welle ins Auge. Nicht das auch noch, dachte sie. Welle. Wasser. Es war zu viel.
Sie drehte sich abrupt um, wollte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Und prallte gegen eine harte Männerbrust.
„Ojo“, stieß er hervor, Vorsicht.
Doch es klang nicht hart, wie sie erwartet hätte: im Gegenteil, der Ton…
Der Künstler, mit dem sie zusammengeprallt war, fasste sie sanft an der Schulter.
Als Amira ihr Gesicht hob, um ihn anzusehen, bemerkte sie, wie er sie unverwandt anstarrte. Besser gesagt: ihr Amulett.
„Amira? Hill hudha ant? Eh… bist das du?“
Amira schwankte. Abderrahim?
Tränenblind blickte sie zu ihm hoch. „Nim… ja.“
Er war gefasster als sie.
„Amira.“ Er nahm sie in die Arme.
Die anderen Menschen im Raum waren ihm egal oder ob seine kleine Schwester sein bestes Hemd vollheulte. Hier war Amira.
„Dreh dich um, Baby Blue.“ So hatte er sie genannt.
So hatte sie selbst sich genannt, damals mit vier, als sie am Strand aufgesammelt wurde. Sie konnte nichts anderes tun, als zu heulen und den Stein festzuhalten.
Auch jetzt heulte sie. Aber sie hielt Abderrahim.
Er hielt sie. Und er fasste jetzt vorsichtig zum Stein, der an ihrem Hals hing.
Gemeinsam drehten sie sich zu der Skulptur.
Erst jetzt erkannte Amira, dass ihr Bruder sie gearbeitet hatte.
Abderrahim, der immer schon vom Stein fasziniert gewesen war.
Die Skulptur war eine fein gearbeitete Welle – eigentlich erstaunlich, wie er aus festem Marmor eine so schwingende, schäumende Textur gestalten konnte.
„Sieh genau hin.“ Da war eine Auskerbung in der Skulptur. Ein Herz. Genau in der Größe und Form ihres Steins.
„Ich habe immer gebetet, dass der Stein mir hilft, dich wiederzusehen, Amira.“
„Ich habe immer gebetet, dich wiederzusehen“.
Die Besucher der Ausstellung bekamen von all dem wenig mit. Sie hatten eine Frau gesehen – zugegebenermaßen mit einem seltsamen Amulett – und einen Mann, beide mit olivfarbener Haut, die sich in Armen lagen und eine Skulptur betrachteten, während ihnen beiden Tränen über die Wangen strömten.
Tja, dachten alle, Kunst konnte eben zu Tränen rühren. Und es war doch wirklich ein beeindruckendes Kunstwerk, diese Skulptur – „das Herz der Wellen“.