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Lieber Kai,

Danke für die Buchempfehlung. Ich habe leider die Lektüre noch nicht bestellt, weil ich gerade noch erschlagen bin, von den fünf Büchern, die sich bereits vorher hier aufgetürmt haben und gelesen werden wollen.  Ich scheine jetzt sowas wie Zeit dafür zu haben.

Jetzt gerade bin ich immernoch im Ankommen in einer neuen Lebensphase. Ich bin wieder zuhause, in meiner Wohnung. Ich bewege mich durch die Straßen und Parks, die ich meinen Kiez nenne. Ich treffe die Menschen, die ich meine Freunde nenne. Es ist dennoch vieles elementar anders für mich, im Vergleich zum letzten Mal, als ich mit so viel Zeit und so viel Ruhe die gleichen Orte besucht, die gleichen Leute getroffen habe. Ja, das ist auch acht Monate her, aber es ist nicht die zählbare Zeit, die für die Veränderung gesagt hat, sondern alles, was dazwischen passiert ist. Mein Leben vor acht Monaten war ein grundlegendes Anderes als jetzt. Viel Leben ist dazwischen passiert und wieder einmal habe ich das Gefühl, nicht Monate, sondern Welten liegen dazwischen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass es dir da sogar ähnlich geht? 

Auch wenn ich deine Antwort jetzt hier noch nicht einbauen kann, muss ich aber merken, dass wenigstens unsere Gesellschaft, ja vielleicht sogar ein Großteil unserer westlichen Welt, eine ähnliche Erfahrung gemacht wie ich: Immer wieder ganz neu Unvorstellbares schloss sich da aneinander, Woche für Woche, Monat für Monat. Krieg in Europa, Mega-Inflation, ein Sommer voller Dürren und Waldbrände. So langsam wird selbst dem letzten aufgefallen sein, dass die heile Welt, nunja, erstmal vorbei ist. Spätestens seitdem die Queen tot ist, als letzte Säule, die ewig zu bleiben schien. 

Mit ihr ist wohl, nachdem zehn Tage zuvor Gorbatschow verstorben ist, die letzte politische Vertreterin der alten, vertrauten Welt gegangen,  die der Beweis hätte sein können, dass doch alles bald wieder beim alten bleibt. Doch so ist es leider nicht: Unsere Welt verändert sich und wir sind mitten drin. Alte Gewissheiten bleiben, nunja, alt, aber nicht gewiss. Und noch wissen wir nicht, wo das Ganze hinführt. Das macht Angst, ja, aber das ist jetzt die Welt, in der wir uns bewegen. Es gibt aber meiner Meinung nach etwas Gutes an solchen Situationen der Neuordnung und Ungewissheit. Da eben ja noch nicht klar ist, wo wir uns hinbewegen, können wir ja vielleicht ja ein Wörtchen mitreden? Wie du ja sagtest, ist es Zeit für neue Perspektiven.

Denn ich glaube gerade in diesen Situationen gibt es überhaupt den Raum, dass neue Dinge versucht werden, etwas Neues entsteht, eben einfach aus Mangel an erprobten Möglichkeiten. Manche davon gehen gut, manche gehen nicht gut. Manche gehen nicht gut, sind aber am Ende doch gut (wie wurde Amerika nochmal von den Spaniern entdeckt?).
Momentan geht insgesamt einigermaßen viel schief, gerade auch kommunikativ. Das mag Unbehagen auslösen, ich wüsste aber auch ehrlich gesagt garnicht, wie es anders ginge. Man müsste schon sehr hoch pokern, wenn jemand behaupten würde, nicht nur alles unter Kontrolle zu haben, sondern auch den entsprechenden Anschein zu erwecken.
Ein Beispiel für etwas Neues, dass meiner Meinung nach ganz gut gegangen ist, ist, na logisch, du weißt es schon, Tusch!!!... ist das 9 Euro Ticket. Ich habe hier bisher nicht viel dazu geschrieben. Aber ehrlich: Ich finde es immernoch sehr bemerkenswert, dass so eine Idee wirklich von unserer Bundesregierung (und damit meine ich nicht nur die jetzige - von irgendeiner Bundesregierung) umgesetzt wurde. Natürlich gab es überfüllte Züge, natürlich gab es auch Menschen, die unter der Situation auch litten (Abre numa nova janela). Und natürlich kostet dieses Ticket uns Steuerzahler verdammt viel Geld. Aber was das Ticket geschaffen hat, zumindest bei mir, ist ein Perspektivwechsel. Die kostbare soziale Bedeutung von Mobilitität war mir noch nie so klar wie durch dieses Ticket.  Was es für Leute bedeuten kann, plötzlich mobil sein zu können, ohne übers Geld nachdenken zu müssen. Samira El Ouassil hat das auch gut in ihrer SPON Kolumne (Abre numa nova janela) zusammengefasst.
Aber auch ich selbst kam plötzlich mit einer Frau aus der Nachbarschaft ins Gespräch, die jedes zweite Wochenende mit dem Ticket plötzlich quer durch Deutschland fuhr, um sich touristische Orte anzugucken, wo ich die Hälfte der Orte nicht kannte oder mir die touristische oder historische Bedeutung nicht einmal bewusst war (außer Schloss Neuschwanstein).

Das gab mir zu denken. Und ich habe mich daraufhin gefragt, was es denn noch so gäbe. Was könnten wir noch befreien vom Kostendruck, was würde noch die Gesellschaft bereichern, vielleicht ja sogar zusammenbringen?

Gibt es noch andere Beispiele, die wir ins Feld ziehen müssten für einen kostenlosen oder zumindest sozial verträglichen pauschalen Zugang?
Um zwei Beispiele zu nennen: In Paris können Menschen bis zum 26. Lebensjahr umsonst in Museen und viele Sehenswürdigkeiten gehen (nicht nur für Franzosen, sondern für EU Bürger). Und in Estland ist Breitbandzugang in der Verfassung verankert und das staatliche WLAN selbst im tiefsten Wald verfügbar. 

Es wird häufig beim Blick auf Chancengleichheit von Zugang zu Bildung, über Einkommen, über Hartz IV gesprochen. Und da ist immernoch viel zu viel zutun. Aber ich frage mich gerade, wie wir besser sicherstellen können, dass wir alle hier in Deutschland in der gleichen Lebensrealität unterwegs sind, die gleichen Orte (analog und digital) besuchen können, um somit überhaupt als eine Gesellschaft wahrnehmbar zu sein, die über die geographischen Grenzen Deutschlands hinausgeht (Und Porschefahrer nicht über Regionalbahnfahrer*innen urteilen oder entscheiden dürfen...).
Wie du ja sicher merkst: Das ist jetzt noch kein Gedanke, der so zu Ende gedacht ist (und ich bin froh, dass dieser Briefwechsel das auch nicht leisten muss). Aber es ist auf jeden Fall etwas, das mich beschäftigt, im Versuch, aus den Scherben wieder Flaschen zu machen.

https://www.youtube.com/watch?v=X8NVrA5lHx8 (Abre numa nova janela)

Vielleicht fällt dir ja auch noch was ein, ich würde mich über dein Input freuen. Es gibt gerade ja genug Scherben drumherum, aus denen etwas Neues entstehen kann, sollte, muss. Und eigentlich bin ich auch ganz optimistisch. Aber mein Gott, hast du schonmal so viele Scherben gesehen? 

Bevor ich hier Schluss mache, eins noch: Eigentlich verdient die Queen Elizabeth II. noch so viel mehr Text hier. Aber zum Zeitpunkt, wo du das liest, wird schon so viel geschrieben worden sein, dass sich das Thema wie eine labbrige Scheibe Toast anfühlt. Für mich war sie als Kind das königliche Staatsoberhaupt, dass wir nicht hatten. Das konnte ich als Kind natürlich unterscheiden, aber als ich mit acht Jahren den Tod von Lady Di mitbekommen habe und ich bei meiner Oma vor dem Fernseher mit meiner Familie den Trauermarsch sah, habe ich nicht den Unterschied verstanden zwischen britischer Königin oder deutscher Königin. Sie war halt die Königin.
Schön, wie einfach die Welt damals war. Und in dieser Einfachheit auch irgendwie sehr präzise richtig. Manchmal vermisse ich diese Einfachheit, aber, dass die Komplexität im eigenen Leben eher zu als abnimmt, ist wohl ein Fluch des Älterwerdens. Vielleicht dreht sich das irgendwann um.  

Die Welt hat aber nun ihre Königin verloren. Eine Königin, die für gewisse Werte, eine gewisse Geschichte, für eine gewisse Welt stand. Was wird nun mit der Welt passieren, in dieser Welt danach? Wer sind die neuen Säulen dieser Welt? Frage ich mich, am 11. September, exakt 11 Jahre nach, na du weißt schon: Da wo das alles anfang mit der neuen Welt, die die alten Säulen ins Wanken brachte. 

Ich werde jetzt in meiner neuen Welt in Berlin auf jeden Fall viel lesen und viel Neues kennenlernen. Und in diesem Zuge freue ich mich auch schon auf das von dir empfohlene Buch. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Zum Einschlafen zähle ich nun Scherben.

Liebe Grüße

Sven

P.S. Ich hab noch dein Zelt!

P.P.S 

https://www.youtube.com/watch?v=rfafUbRouAc (Abre numa nova janela)

(Nightmares On Wax - I Am You)

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