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Lieber Kai,

Es ist Herbst in Deutschland. Meine liebste Jahreszeit beginnt. Es sind nicht nur die vielen schönen Farben, über die ich mich freue - auch das laute Rascheln, wenn ich man beim Spaziergang über das Laub stapfe...

Ratsch, ratsch - ratsch ratsch ratsch. 

So schön.
Wenn über mein Leben eine Statistik gemacht werden würde (und ja, ich habe immernoch die Hoffnung, dass ich am Ende meines Lebens dazu einen ausführlichen Datensatz präsentiert bekomme, der mir genau aufzeigt, was ich wie viel in meinem Leben getan habe), dann würde diese wahrscheinlich zeigen, dass ich öfter im Herbst draußen bin als im Sommer oder Frühling. Diese Woche war ich viel draußen und habe gelesen.

Das Buch, mit dem ich mich damit hauptsächlich beschäftigt habe, heißt Die Elenden (Abre numa nova janela), geschrieben wurde es von Anna Mayr. In diesem Buch beschreibt sie, 28 Jahre alt, das Großwerden in einer "Hartz IV Familie", fasst die historischen Ereignisse der Agenda 2010 zusammen, erzählt ihre eigene Geschichte, genauso wie die Geschichte unseres Landes in diesem System.
Das Buch hat mich sehr bewegt. So sehr, dass ich zum ersten Mal einen Leserbrief geschrieben habe. Wenn du nicht das ganze Buch in nächster Zeit schaffst, dann hier ein Interview mit ihr im Podcast vom Freitag. (Abre numa nova janela)

Sie stellt die These auf, dass unsere Gesellschaft Arbeitslose braucht. Als Mahnung, damit die Bevölkerung arbeitet, weiter etwas leistet.
Die arbeitende Bevölkerung hat Angst vor dem Abstieg. Mayrs Eltern sind die Angst.  Folglich kann der Staat garkein Interesse daran haben, Menschen bedingungslos (heißt: sanktionslos) Geld zu geben, um ein bescheidenes, aber trotzdem glückliches Leben zu führen. Ob ich ihrer Sicht zustimme? Ob der Staat die böse Absicht hat, darüber ließe sich diskutieren. Dass Hartz IV aber genau diese Art Schreckgespenst ist (und damit auch die Menschen, die Hartz IV beziehen), ist aber wohl nicht von der Hand zu weisen.
Mal ein paar Zahlen:

In Deutschland haben wir derzeit 1,04 Million Langzeitarbeitslose. Das sind Arbeitslose, die mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung sind. 2021 sind es 200.000 mehr geworden als noch 2020.
Arbeitslose in Deutschland haben wir gerade 2,27 Millionen. Das heißt ca. 45 Prozent aller Arbeitslose sind Langzeitarbeitslose.

Und Hartz IV Empfänger*innen? Davon gibt es 3,8 Millionen, davon 1,6 arbeitslos. Wie passen diese Zahlen zusammen? Das hat mehrere Gründe: Personen, die Fortbildungen machen (beispielsweise vermittelt vom Job Center) zählen nicht als Arbeitslose, beziehen aber Hartz IV. Genauso gibt es viele Kinder, die in Armut leben und HartzIV beziehen (und vom HartzIV Satz noch das Kindergeld abgezogen bekommen). Diese Kindner gelten aber nicht zwingend als Arbeitslose, weil sie ja Kinder sind. Und natürlich gibt es die Aufstocker, die arbeiten, aber nicht genug Geld verdienen, um wirklich damit aus der Armut zu kommen.

Ich weiß nicht, wie es dir geht, Kai, aber ich habe das Gefühl, dass die Zahl der Arbeitslosen medial immer mehr thematisert wird, als die Zahl der Hartz IV Empfänger*innen. Dabei finde ich diese Zahl viel erschreckender.
Ich bin als Filmschaffender regelmäßig arbeitslos, da ich bei Projekten von befristeter Dauer angestellt bin. Das ist ein bisschen so wie ein Saisonarbeiter. Ich habe ein gutes Verhältnis zu meiner Arbeitslosigkeit, weil meine Branche so funktioniert (und werde deshalb von der Arbeitsagentur auch ziemlich in Ruhe gelassen). Das geht nicht nur mir so. Beispiel: Ich habe mich Donnerstag mit einer Kollegin zu nem Bier getroffen und sie fragte mich, was ich gerade drehe. Ich sagte: Ich drehe gerade nicht, ich bin arbeitslos. Sie beglückwünschte mich, war sogar ein bisschen neidisch.

Arbeitslosigkeit hat für mich deshalb nichts Erschreckendes. Hartz IV aber schon. Und das 3,8 Millionen Menschen im Hartz IV System stecken, ist evtl. für Deutschland kein wirtschaftliches Problem, aber ein soziales. Denn wer einmal in diesem System länger drin ist, kommt auch nicht mehr so schnell raus. Warum sind wir hier nicht besser dazu fähig, die nötigen Brücken aus der Armut zu bauen?

Später in dieser Woche bin ich über folgendes Interview bei Markus Lanz gestolpert. 

https://youtu.be/hnxUIwghZlU?t=548 (Abre numa nova janela)

In diesem Interview diskutiert Markus Lanz, flankiert von FDP-Urgestein Gerhart Baum mit Cansin Köktürk von den Grünen über soziale Gerechtigkeit. Vorab: Ich bin kein Fan von Markus Lanz' Interviewstil. Andere sehen das anders (Abre numa nova janela). Und auch nicht alles, was Cansin Köktürk hier sagt, finde ich richtig.
Worauf ich hinaus will: Hier zeigt sich für mich durch Lanz's Art von Fragen, dass Lanz auch ein klares Menschenbild davon hat, wer Hartz IV bekommt, und fragt Kökturk immer wieder: Wie lassen sich "diese Leute" denn motivieren?
Dass ihre Antwort ein bedingungsloses Grundeinkommen ist, mit der Argumentation, dass dies ihren Klienten (sie ist Sozialarbeiterin) die nötige Sicherheit geben würde, sich etwas aufzubauen, hält er für ein falches Menschenbild. Das hält er für "paternalistisch", für "von oben herab" (!!) und als würde man Menschen "über den Kopf streicheln". Und Lanz's Pointe zum Schluss: "Und ich glaube übrigens auch garnicht daran, und da bin ich jetzt wohl der harte Kapitalismuskritiker, (...) an die Idee, die wir immer haben, wenn wir n Problem haben irgendwo, dann lösen wir's mit Geld."

Das ganze Video trifft die Welt von Köktürk auf eine Welt von Baum und Lanz, indem sie sich nicht vorstellen können, warum Hartz-IV Empfänger*innen denn nicht mehr aus ihrem Leben machen. Im Unterton klingt es so, als würde es nur am richtigen Coach fehlen, der die Menschen mal ordentlich durchschüttelt und mit ein paar markigen Kalendersprüchen auf die rechte Bahn lenkt. 

Im Sondierungspapier steht, dass Hartz IV abgeschafft und durch ein Bürgergeld ersetzt wird. Es ist aber total offen, ob die Sanktionen nicht doch Teil dieses Bürgergelds bleiben. Ein Hinweis im Sondierungspapier ist der Satz: "An Mitwirkungspflichten halten wir fest."
Der Generalsekretär der Wirtschafts-CDU, Wolfgang Steiger, warnt bereits: "Ein Recht auf Faulheit zulasten der fleißigen Steuerzahler darf es nicht geben."

Da sind wir wieder in den klassischen Stigmata. Ich glaube weder Herr Baum, Herr Lanz noch Herr Steiger haben jemals eine*n Hartz IV Empfänger*in gesprochen.
Und wie Anna Mayr in ihrem Buch auch feststellt, wird auch nie ein*e Hartz IV Empfänger*in in eine Talk Show eingeladen. Wir sind gewohnt nicht mit, sondern über sie zu sprechen.

1996 gingen 350.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Sozialreform der Regierung Kohl zu demonstrieren (Abre numa nova janela).
2004 gingen über 500.000 Menschen auf die Straße, um gegen Sozialabbau zu demonstrieren (Abre numa nova janela).
Solche Zahlen finden sich heutzutage nicht mehr. Geht es uns wirklich besser oder stecken wir einfach nur zu lange im System drin?

Ob Bürgergeld oder Hartz IV - nicht der Name oder gar die Sanktionen sind das Problem, sondern die tiefverwurzelte westdeutsche Vorstellung, dass alle alles schaffen können, wenn sie sich nur ein bisschen anstrengen. Diese Vorstellung ist nicht nur falsch, sondern giftig. Wir sprechen oft über das andere Vokabular, den anderen Blick, den wir für die Klimakrise brauchen. Ich denke, auch in der Debatte über soziale Gerechtigkeit braucht es eine andere Sprache, um die alten Gräben zwischen so called faulen Hartzern und fleißigen Arbeitern zu schließen.

15 Jahre gibt es schon Hartz IV und somit genug Kinder, die nur in diesem System groß geworden sind. Der NDR hat dazu eine Dokumentation gemacht. (Abre numa nova janela)
Schau sie dir bitte an. Zu Wort kommt da z.B. auch eine gewisse Sarah-Lee Heinrich, die in Armut groß geworden ist, was mehr über sie erzählt, als ein paar Tweets aus ihrer Kindheit, die ihr jetzt vorgehalten werden. (Abre numa nova janela)
Mit der neuen Regierung soll es eine Kindergrundsicherung geben. Das könnte den 2,8 Millionen Kindern helfen aus der Armut zu kommen, ja. Aber nicht das alleine verändert unsere verwurzelten gesellschaftliche Strukturen. Wenn unsere Gesellschaft schon so weit ist, dass Kinder mit anderen Kindern nicht mehr spielen wollen, weil sie aus Hartz IV Familien kommen, dann weiß ich nicht, was es noch als Weckruf für unsere Gesellschaft braucht, dass wir nicht mehr Leistung brauchen, sondern mehr Solidarität und Empathie. 

Liebe Grüße

Sven 

https://www.youtube.com/watch?v=w_47XDiBxvc (Abre numa nova janela)

(Benjamin Clementine - Winston Churchill's boy)


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