Mein lieber Sven,
als ich gestern morgen um vier ins Bett fiel, dachte ich für den kurzen Moment, zu dem ich meine Konzentration noch zusammenhalten konnte: Was für ein Wunder bitte ist dieses Leben. Und was für ein Glück und was für ein Geschenk. Hinter mir lag eine Party mit 20 Menschen, die so ausgelassen getanzt und gestrahlt haben, wie ich es schon lang nicht mehr erlebt hatte. Ist ja Corona.
„JA EBEN!“, könnte man jetzt rufen. „MIT 20 LEUTEN! IST DOCH CORONA?“ Dann würde ich antworten: "Abwarten, mein Freund, abwarten."
Gestern, am ersten Tag des neuen Jahres, ist Desmond Tutu beerdigt worden, der Erzbischof von Kapstadt, der von sich sagte, er bete zu keinem homophoben Gott, lieber gehe er in die Hölle. Und der es schaffte, Rassisten zu bekehren, indem er einerseits zuhörte und verstand und andererseits mit seiner Vorstellung von der Welt so überzeugend war, dass Menschen bereit waren, ihm so zuzuhören wie er ihnen.
„Tutu hat uns alle zu besseren Menschen gemacht. Ich denke heute anders. Nur wegen ihm.“
Das sagte ein 76-jähriger Kapstädter in einer Warteschlange, um sich in ein Kondolenzbuch einzutragen (Abre numa nova janela) – groß geworden in einem Apartheidsstaat, den er lange für das angemessene Modell hielt. Die Weißen sitzen an den reich gedeckten Tischen. Die Schwarzen räumen die Teller ab.
Die Welt von Desmond Tutu war durchdrungen vom Glauben an das Gute in uns. Und er bewies, dass Menschen besser werden können, wenn man auch dann noch an sie glaubt, wenn man an ihnen eigentlich verzweifeln möchte.
Selten war es so wichtig, uns diesen Zug zum Vorbild zu nehmen. Ohne Liebe ist alles nichts. Wir können noch so viel wissen, noch so viel verstehen – nur wenn wir uns trauen, einander anzunehmen und zu sehen mit all unserer Schönheit, aber auch all den Schmerzen, können wir die Welt erhalten. Liebe ist kein Gefühl, sie ist ein Zustand: Man muss sich der Liebe stellen, bis sie einen an sich ran lässt, gerade dann, wenn es mühsam wird. Tutu hat es vorgelebt und damit die Welt verändert. Wie ein Magier. Gott, wird dieser Mann der Welt fehlen. Umso wichtiger ist, dass wir uns jetzt als Tutus Zauberlehrlinge begreifen. Das magische Tutu-Pulver, das wir dafür brauchen, haben wir ja praktischerweise schon in uns. Es ist nur mitunter verschüttet von dem Geröll, den uns das Leben in die Seele kippt.
„JA, BRAVO“, könnte dieselbe Person, die gerade eben schon rumgepöbelt hat, rufen. „Die Liebe an sich ranlassen… Klingt ja super. Aber was, wenn sie sich einfach stumm stellt? Was, wenn sie einen eins ums andere Mal abweist? Was dann?“ Dann würde ich abermals antworten: "Abwarten, mein Freund, abwarten." Liebe entsteht aus überwundenem Schmerz. Wie ein Wolf den Mond muss man die Liebe immer einmal mehr anheulen als sie einen überhört. So lange, bis sie sich zu öffnen und das Leben sich zu drehen beginnt. Der Zustand, den man dann erreicht, ist von einem Zauber, der nie mehr vergeht. Die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat das einmal so formuliert:
„Beautiful people do not just happen.“ – Es ist ein so schöner, wahrer Satz, dass ich ihn gern auf meine Stirn tätowieren würde, damit ihn alle jederzeit sehen können. Platz genug hätte ich ja.
Für heute mache ich deshalb früher Schluss, Sven. Es ist für den Moment alles gesagt und gefühlt. Bis auf das hier:
Some say, "Love. It is a river
That drowns the tender reed"
Some say, "Love. It is a razor
That leaves your soul to bleed"
Some say, "Love. It is a hunger
An endless aching need"
I say, "Love. It is a flower
And you its only seed"
It's the heart afraid of breaking
That never learns to dance
It's the dream afraid of waking
That never takes the chance
It's the one who won't be taken
Who cannot seem to give
And the soul afraid of dyin'
That never learns to live
When the night has been too lonely
And the road has been too long
And you think that love is only
For the lucky and the strong
Just remember in the winter
Far beneath the bitter snow
Lies the seed that with the sun's love
In the spring becomes the rose.
Auf dass wir im Frühjahr alle zu Rosen herangewachsen sein werden, Sven.
Sei fest gedrückt,
Dein Kai
PS: Was vergessen? Achja, die Party. Ich muss dabei ausgesehen haben, als sei ich einer Zoomoonose verfallen. Denn ich stand vier Stunden lang vor meinem Bildschirm, mit wild fuchtelnden Armen und Sekt in der Hand. Mit Menschen aus Hamburg, Stuttgart, München und Berlin. Wir haben die Party einfach auf Zoom verlegt. Voll karllauterbach-approved. Und weißt Du, was ich dabei wieder einmal erlebt habe, Sven? Das magische Pulver kann man sogar durch den Computer pusten. Pandemie ist, was wir daraus machen. Und das gilt auch für den ganzen Rest dessen, was wir Leben nennen. Das Foto oben entstand, als ich am nächsten Morgen ins Bad kam. Kannst Du das Pulver darauf erkennen?
https://www.youtube.com/watch?v=ZFa324V1kgU (Abre numa nova janela)(Bette Midler – The Rose)