Lieber Sven,
vor ein paar Jahren habe ich etwas entdeckt, was mein Leben grundlegend geändert hat: Ich habe angefangen zu meditieren.
Anfangs war ich natürlich skeptisch.Daumen und Zeigefinger so aneinander drücken, dass daraus Kreise werden: jaja. Sich mit geschlossenen Augen vom Kopf bis zu den Zehen scannen und sich dabei vorstellen, wie Sonnenstrahlen den Körper mit warmem Licht fluten: schon klar. Und dabei Gedanken kommen und gehen lassen, ohne sie zu bewerten, und dem Geist die Gelegenheit geben, sich zu entleeren: soso. Weil ich aber ein paar kluge Texte zu viel darüber gelesen hatte, dass unser Gehirn genauso trainierbar sei wie der Bizeps, ließ ich mich darauf ein. Heute kann ich mir mein Leben ohne einmal täglich Om nicht mehr vorstellen. Nicht nur meine Gedanken haben sich geändert. Die ganze Welt, in der ich lebe, ist eine andere geworden: gelassener, klarer, fröhlicher.
Eine Technik, die mir besonders nah geworden ist, ist genau die, über die ich mich vorher gern lustig gemacht habe: Ich stelle mir vor, wie mein Körper durch einen dunklen Raum schwebt, als läge er auf einer Wolke. Von überall her kommen goldene Strahlen in ihm an und lassen ihn leuchten. Die Strahlen stehen für die Verbindungen mit all jenen Menschen, die mir lieb und teuer sind und die jeweils ihrerseits Knotenpunkte sind in einem Netzwerk des Lichts. Das klingt schon wieder so esoterisch, dass ich gern mit einem zynischen Witz nachspülen würde. Aber man kann reine Schönheit ja auch mal aushalten, gerade in diesen Tagen, deren Nachrichten einem in ihrem Schrecken den Atem rauben.
Meine Vorstellung davon, zu einem Netzwerk des Lichts zu gehören, dieser sich selbst speisenden Quelle des Glücks, die mich von innen leuchten lässt, trägt mich jeden Tag. Und ich gebe mir seitdem noch größere Mühe, alles von meinem Geist fernzuhalten, was das Licht trüben könnte. Und damit bin bei Deinem Brief. Aber nicht Deinetwegeen, sondern wegen Hubert Aiwanger.
Was mich nachdenklich gemacht hat, war Deine Bezugnahme auf seine Aussage, er sei die Stimme einer Minderheit, die nun frisiert werde und deren Grundrechte er schützen wolle. Auf den ersten Blick klingt das natürlich plausibel, gerade jetzt, gerade wenn es ums Impfen geht (und ich kann Vieles von dem nachvollziehen, was Du sonst geschrieben hast, und es hat mich zum Nachdenken gebracht). Auf den zweiten Blick aber geht es Aiwanger nicht um den Schutz von Minderheiten, im Gegenteil. Was Aiwanger tatsächlich tut, ist, sich als Teil einer Minderheit zu inszenieren, um so zu verhindern, dass die Mehrheit, der er selbst noch angehört, noch weiter in Bedrängnis gerät. Deshalb finde ich es so gefährlich, sich positiv auf ihn zu beziehen, selbst wenn in einem Interview aus Infamie und Ignoranz ein richtiger Gedanke stecken mag. Ein Tropfen Wasser macht aus einem mit Öl verseuchten Tümpel auch noch keinen Bergsee.
Aiwanger ist der Kopf einer politisch organisierten Realitätsverweigerung, die es inzwischen in viele Parlamente und, in seinem Fall, sogar bis in die Regierung geschafft hat. Angetrieben offenkundig von einem Gefühl umfassender Verunsicherung. Bei den Grünen müsse man sich als Mann ja schon dafür entschuldigen, ein Mann zu sein, sagte er im Juli in einem Interview im Tagesspiegel. (Abre numa nova janela) Überhaupt: die Grünen. Eine Partei der Intoleranz, die nur noch eines kenne: Klima, Klima, Klima. Das erklärte Ziel seines inkohärenten Impfgeplappers, das sich seit Wochen so schnell um sich selbst dreht, dass Aiwanger mit sich selbst Walzer tanzen könnte, ist es, dem, was er zum gesunden Menschenverstand erklärt, zu einer Vertretung im nächsten Bundestag zu verhelfen und die Grünen aus der nächsten Bundesregierung zu halten. Und warum? Weil die Grünen die Wahrheit benennen, die Aiwanger nicht sehen möchte. Dabei müsste er als Landwirt ja eigentlich selbst erkennen, dass es nicht Ergebnis eines ideologischen Eifers ist, nur noch von „Klima, Klima, Klima“ zu reden, sondern Resultat dessen, was um uns herum gerade vor sich geht. Für Aiwanger gibt es aber offensichtlich etwas, was ihm noch wichtiger ist als seine Äcker: sein Ego.
Ich finde das so bestürzend, weil genau jene, die so notorisch vom gesunden Menschenverstand sprechen, damit dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft kollektiv an der Seele erkrankt. Denn Aiwanger gibt den Menschen Zucker, die verunsichert und mitunter verängstigt sind angesichts der Veränderungen, die nun unweigerlich auf uns zukommen, aber lieber die Augen davor verschließen, wie ein Kind, das darauf setzt, die Gefahr sei verschwunden, wenn man die Hände vors Gesicht schlägt. Doch wer die Wirklichkeit nicht anzuerkennen bereit ist, wird krank. Ein wirklich gesunder Menschenverstand entsteht, wenn man sich der Realität stellt, auch und gerade wenn sie schmerzhaft ist. Eine Psychoanalyse ist nichts Anderes als eine behutsame Wanderung ins eigene Ich, hin zu den Dämonen, die dann ihren Schrecken verlieren, wenn man bereit und in der Lage ist, ihnen ins Gesicht zu blicken. Aiwanger dagegen erklärt die Grünen zu Dämonen und erspart sich und seinen Wählerinnen und Wählern damit, sich den eigenen stellen zu müssen.
Ich finde, das dürfen wir ihm nicht durchgehen lassen und, mehr noch, wir müssen uns davon fern halten. Aiwanger sendet keine Strahlen des Lichts, sondern Blitz und Donner. Unsere Seelen sind zu zerbrechlich, als dass wir sie einer solchen Kraft aussetzen sollten.
Om,
Dein Kai
(The National: Demons)