Dazu verpflichtet die Istanbul-Konvention

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – was steht genau drin? Und wie finden die Artikel Anwendung in Familiengerichten?
Von Tina Steiger
Eins vorweg – alle 81 Artikel der sogenannten Istanbul-Konvention müssten in deutschen Gerichten ausnahmslos Anwendung finden. Das ist nicht so und stellt derzeit ein Problem für Betroffene dar, das die UN 2023 als Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern in deutschen Familiengerichten bezeichnete.
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Council of Europe Convention on preventing and combating violence against women and domestic violence), auch bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Es schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Im Oktober 2017 wurde das Übereinkommen in Deutschland ratifiziert und trat am 1. Februar 2018 in Kraft.
Quelle: www.institut-fuer-menschenrechte.de (Abre numa nova janela)
Die Istanbul-Konvention (IK) ist geltendes und damit bindendes Recht in Deutschland und damit gleichgesetzt mit nationaler Gesetzgebung. Dennoch findet die Istanbul-Konvention in Fällen häuslicher Gewalt in Deutschland nur selten wie vorgesehen Anwendung. Jugendämtern und Familiengerichten, aber auch Polizei, Beratungsstellen und kommunlaen Verwaltungen fehlt es nicht selten am ausreichenden Wissen um die Inhalte aller 81 Artikel.
In vielen Fällen wird davon ausgegangen, der Gewaltschutz der Istanbul-Konvention sei lediglich eine Empfehlung, die hinter nationalen Gesetzen, etwa dem Grundgesetz, zurückzutreten habe. Darin verankert ist etwa das Recht eines Vaters am Kind, auch dann, wenn er zum Täter am Kind wurde.
Da das Kind selbst auch ein Recht via Grundgesetz auf den Umgang mit dem Vater hat, tritt der Gewaltschutz dahinter zurück, auch wenn das Kind durch das Miterleben von Gewalt oder eigene Gewalterfahrungen mit Verhaltensaufälligkeiten und Entwicklungsstörungen belastet ist.
Dennoch finden sich in den Artikeln der Istanbul-Konvention Artikel, auf die sich gewaltbetroffene Frauen und ihre Rechtsbeistände in der Vergangenheit berufen konnten, so dass sich daraus Gewaltschutzmaßnahmen bis hin zu Umgangsausschluss und Sorgerechtsverlust ableiten lassen. Hier ein Auszug:
Artikel 26 - Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass bei der Bereitstellung von Schutz- und Hilfsdiensten für Opfer die Rechte und Bedürfnisse von Kindern, die Zeuginnen und Zeugen von in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt geworden sind, gebührend berücksichtigt werden.
2 Nach diesem Artikel getroffene Maßnahmen umfassen die altersgerechte psycho-soziale Beratung für Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt geworden sind, und berücksichtigen gebührend das Wohl des Kindes.
Artikel 27 - Meldung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Maßnahmen, um alle Personen, die Zeuginnen beziehungsweise Zeugen der Begehung einer in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttat geworden sind oder die Gründe für die Annahme haben, dass eine solche Tat begangen werden könnte oder weitere Gewalttaten zu erwarten sind, zu ermutigen, dies den zuständigen Organisationen oder Behörden zu melden.
Artikel 28 - Meldung durch Angehörige bestimmter Berufsgruppen
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Vorschriften über die Vertraulichkeit, die nach dem internen Recht für Angehörige bestimmter Berufsgruppen gelten, diesen Personen nicht die Möglichkeit nehmen, unter gegebenen Umständen eine Meldung an die zuständigen Organisationen und Behörden zu machen, wenn sie Gründe für die Annahme haben, dass eine schwere in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende Gewalttat begangen worden ist und weitere schwere Gewalttaten zu erwarten sind.
Artikel 30 - Schadensersatz und Entschädigung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer das Recht haben, von Tätern beziehungsweise Täterinnen für alle nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten Schadensersatz zu fordern.
2 Eine angemessene staatliche Entschädigung wird denjenigen gewährt, die eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit der Schaden nicht von anderer Seite, wie dem Täter beziehungsweise der Täterin, einer Versicherung oder durch staatlich finanzierte Gesundheits- und Sozialmaßnahmen, ersetzt wird. Dies hindert die Vertragsparteien nicht daran, den Täter beziehungsweise die Täterin für die gewährte Entschädigung in Regress zu nehmen, solange dabei die Sicherheit des Opfers gebührend berücksichtigt wird.
3 Maßnahmen nach Absatz 2 sollen sicherstellen, dass die Entschädigung innerhalb eines angemessenen Zeitraums gewährt wird.
Artikel 31 - Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.
Artikel 33 - Psychische Gewalt
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das die psychische Unversehrtheit einer Person durch Nötigung oder Drohung ernsthaft beeinträchtigt wird, unter Strafe gestellt wird.
Artikel 34 - Nachstellung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, das aus wiederholten Bedrohungen gegenüber einer anderen Person besteht, die dazu führen, dass diese um ihre Sicherheit fürchtet, unter Strafe gestellt wird.
Artikel 35 - Körperliche Gewalt
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das einer anderen Person körperliche Gewalt angetan wird, unter Strafe gestellt wird.
Artikel 36 - Sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches Verhalten unter Strafe gestellt wird:
a) nicht einverständliches, sexuell bestimmtes vaginales, anales oder orales Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem Körperteil oder Gegenstand;
b) sonstige nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen mit einer anderen Person;
c) Veranlassung einer Person zur Durchführung nicht einverständlicher sexuell bestimmter Handlungen mit einer dritten Person.
2 Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.
Artikel 40 - Sexuelle Belästigung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass jede Form von ungewolltem sexuell bestimmtem verbalem, nonverbalem oder körperlichem Verhalten mit dem Zweck oder der Folge, die Würde einer Person zu verletzen, insbesondere wenn dadurch ein Umfeld der Einschüchterung, Feindseligkeit, Erniedrigung, Entwürdigung oder Beleidigung geschaffen wird, strafrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Sanktionen unterliegt
Artikel 43 - Anwendung der Straftatbestände
Die nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten finden unabhängig von der Art der Täter-Opfer-Beziehung Anwendung.
Artikel 45 - Sanktionen und Maßnahmen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen bedroht werden, die ihrer Schwere Rechnung tragen. (…)
2 Die Vertragsparteien können weitere Maßnahmen in Bezug auf Täter und Täterinnen treffen, beispielsweise
– die Überwachung und Betreuung verurteilter Personen;
– den Entzug der elterlichen Rechte, wenn das Wohl des Kindes, das die Sicherheit des Opfers umfassen kann, nicht auf andere Weise garantiert werden kann.
Artikel 46 - Strafschärfungsgründe
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die folgenden Umstände, soweit sie nicht bereits Tatbestandsmerkmale darstellen, im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des internen Rechts bei der Festsetzung des Strafmaßes für die nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten als erschwerend berücksichtigt werden können:
a Die Straftat wurde gegen eine frühere oder derzeitige Ehefrau oder Partnerin im Sinne des internen Rechts beziehungsweise gegen einen früheren oder derzeitigen Ehemann oder Partner im Sinne des internen Rechts oder von einem Familienmitglied, einer mit dem Opfer zusammenlebenden Person oder einer ihre Autoritätsstellung missbrauchenden Person begangen;
b die Straftat oder mit ihr in Zusammenhang stehende Straftaten wurden wiederholt begangen;
c die Straftat wurde gegen eine aufgrund besonderer Umstände schutzbedürftig
gewordene Person begangen;
d die Straftat wurde gegen ein Kind oder in dessen Gegenwart begangen;
e die Straftat wurde von zwei oder mehr Personen gemeinschaftlich begangen;
f der Straftat ging ein extremer Grad an Gewalt voraus oder mit ihr einher;
g die Straftat wurde unter Einsatz oder Drohung mit einer Waffe begangen;
h die Straftat führte zu schweren körperlichen oder psychischen Schäden bei dem Opfer;
i) der Täter beziehungsweise die Täterin ist bereits wegen ähnlicher Straftaten
verurteilt worden.
Artikel 47 - Von einer anderen Vertragspartei erlassene Strafurteile
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um die Möglichkeit vorzusehen, bei der Festsetzung des Strafmaßes die von einer anderen Vertragspartei erlassenen rechtskräftigen Strafurteile wegen nach diesem Übereinkommen umschriebener Straftaten zu berücksichtigen.
Artikel 48 - Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um verpflichtende alternative Streitbeilegungsverfahren, einschließlich Mediation und Schlichtung, wegen aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zu verbieten.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass im Fall der Anordnung der Zahlung einer Geldstrafe die Fähigkeit des Täters, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Opfer nachzukommen, gebührend berücksichtigt wird.
Artikel 51 - Gefährdungsanalyse und Gefahrenmanagement
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass eine Analyse der Gefahr für Leib und Leben und der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewalt von allen einschlägigen Behörden vorgenommen wird, um die Gefahr unter Kontrolle zu bringen und erforderlichenfalls für koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu sorgen.
Artikel 52 - Eilschutzanordnungen
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden die Befugnis erhalten, in Situationen unmittelbarer Gefahr anzuordnen, dass ein Täter beziehungsweise eine Täterin häuslicher Gewalt den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten Person für einen ausreichend langen Zeitraum verlässt, und dem Täter beziehungsweise der Täterin zu verbieten, den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten Person zu betreten oder Kontakt mit dem Opfer oder der gefährdeten Person aufzunehmen. Bei nach Maßgabe dieses Artikels getroffenen Maßnahmen ist der Sicherheit der Opfer oder der gefährdeten Personen Vorrang einzuräumen.
Artikel 53 - Kontakt- und Näherungsverbote sowie Schutzanordnungen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass angemessene Kontakt- und Näherungsverbote oder Schutzanordnungen für Opfer aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zur Verfügung stehen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Kontakt- und Näherungsverbote oder Schutzanordnungen
– für den sofortigen Schutz und ohne eine unangemessene finanzielle oder administrative Belastung für die Opfer zur Verfügung stehen;
– für einen bestimmten Zeitraum oder bis zu ihrer Abänderung oder Aufhebung erlassen werden;
– soweit erforderlich auf Antrag und mit sofortiger Wirkung ausgestellt werden;
– unabhängig von oder zusätzlich zu anderen Gerichtsverfahren zur Verfügung stehen;
– in nachfolgende Gerichtsverfahren eingebracht werden können.
Alle 81 Artikel der Istanbul-Konvention finden sich hier
(Link: Institut für Menschenrechte)