Warum bin ich nicht auf die „Demo gegen Rechts“ gegangen?
Heute (Samstag 03. Februar 24) war in Freiburg die wahrscheinlich größte Demo seit Ende des zweiten Weltkriegs. 30 000 Menschen haben sich friedlich versammelt um „für Demokratie, Menschenrechte und eine vielfältige Gesellschaft zu demonstrieren.“ (SWR (Abre numa nova janela))
Ich war nicht dabei und hier möchte ich erklären warum.
Disclaimer: Faktoren wie beispielsweise die Gemütlichkeit, zuhause sitzen zu bleiben oder die Angst vor potentiell unangenehmen Situationen, lasse ich hier bewusst außen vor. Diese und weitere haben sicher eine Rolle gespielt und gleichzeitig geht es hier nicht um eine Rechtfertigung meines Handelns, sondern ich möchte die Gelegenheit nutzen, anhand dieses konkreten Beispiels für mich wichtige Fragen zu finden, zu stellen und - soweit es möglich ist - zu beantworten.
Ein Punkt ist für mich die Unklarheit, worum es genau geht. Das hört sich jetzt vielleicht doof an, ist es doch ziemlich klar und überall zu lesen z.B. im Aufruf zur Demo: „Für Solidarität und Respekt, gegen Hass und Hetze. Für Gerechtigkeit und Toleranz, gegen Spaltung. Für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt, für Menschenwürde, gegen Ausgrenzung“. Hört sich erstmal gut an. Aber wie ist dann beispielsweise „#WirsinddieBrandmauer“ gemeint? Eine Mauer wird meines Erachtens hauptsächlich dafür genutzt, jemanden nicht rein- oder rauszulassen und das ist (glaube ich) auch in diesem Fall so gemeint.
Es geht also darum, alle auszugrenzen, die ausgrenzen?? Das meine ich mit Unklarheit.
Ich sehe, dass einen Unterschied gibt, zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung. Ich sehe, dass man jeden Satz, den ich herauspicken würde, so erklären könnte, dass er doch wieder Sinn ergäbe. Und ich sehe trotzdem Widersprüche, die vielleicht nicht ganz offensichtlich, aber doch sehr fundamental sind.
Ich empfehle, sich mal den Aufruf zur heutigen Demo auf https://gemeinsam-hand-in-hand.org/3-2-aktionstag/ (Abre numa nova janela) durchzulesen. Viele Sätze klingen ansprechend, doch mit meiner kritischen Brille, finde ich viel Futter.
Wer sind „wir alle“? Alle Menschen? Alle Demokraten? Alle europäischen Demokraten? So wie ich den Text verstehe, alle Menschen, die seinen Worten zustimmen. Das zu lesen erweckt in mir eher das Gefühl, dazugehören zu wollen und spricht meine soziale Angst an. Passend dazu ist danach dann davon die Rede, dass „Ängste geschürt werden“ und sich „die Gräben vertiefen“. Wenn sich also mit diesen Worten Pro-Demokratie positioniert wird und zeitgleich die AfD als „Verächter der Demokratie“ bezeichnet, dann wird damit ein ganz schöner Graben ausgehoben, zwischen „uns allen“ und allen AfD-Wählern und Sympathisanten.
Als solchen würde ich mich definitiv nicht bezeichnen, trotzdem fühle ich mich den Worten kaum verbunden. Ich bin nicht Anti-AfD. Ich sehe die Dinge anders und bin in den allermeisten Fragen anderer Meinung als diese Partei. Geht mir allerdings bei den meisten Parteien so, nicht wegen ihrer Standpunkte, sondern wegen dem, was darunterliegt.
Das passt wunderbar zu meinem hauptächlichen Punkt. Was ich nämlich kritisch sehe, ist, auf welcher Ebene angesetzt wird. Dem Satz: „Vieles, worauf wir uns verlassen haben, ist unsicher.“ stimme ich absolut zu. Allerdings verstehe ich das alles insgesamt so, dass die Abgrenzung gegenüber demokratiefeindlichen Ansichten und damit im Umkehrschluss die Demokratie, wie sie jetzt ist, als Lösung dargestellt wird.
Ich würde die Demokratie als solches zu den nicht mehr verlässlichen Dingen zählen.[1] (Abre numa nova janela) Sie ist ein Teil des Problems, wegen dem demonstriert wird. Und das, wogegen demonstriert wird, ist nicht von dem zu trennen, was die angebliche Lösung sein soll. Die Welt wie sie jetzt ist, der Punkt, an dem wir jetzt stehen, ist das Ergebnis des Paradigmas, in dem wir leben. Gewalt und Demokratie haben eine gemeinsame Wurzel. Unser Wirtschafts- und Schulsystem sind auf dem gleichen Fundament gebaut, wie Umweltverschmutzung und Ausländerhass. Und so weiter und so fort.
Es. Ist. Nicht. Zu. Trennen.
Um eine tatsächliche Veränderung zu erreichen, reicht es nicht aus, zu ändern was wir machen. Es ist an der Zeit, zu hinterfragen warum wir etwas machen Da kann man zwar viele Schleifen durch verschiedene Themen drehen, aber am Ende kommen wir heraus bei zentralen Fragen wie: Wer bin ich? Was bin ich? Wo bin ich? Was will ich? Wie sehe ich andere Menschen? Wie sehe ich die Welt? Was ist „das Leben“?
Viele bzw. die allermeisten haben wahrscheinlich keine Antworten auf diese Fragen. Zumindest in Worten. Denn mit unseren Taten (und zwischen den Zeilen auch mit unseren Worten) beantworten wir diese Fragen jeden Tag, jeden Moment, immer wieder aufs Neue. Wenn ich diese unbewussten Ansichten „unserer Gesellschaft" zusammenfassen würde, käme ich in etwa dabei heraus:
„Ich bin ein einzelner Mensch. Es gab mal einen Urknall und danach ein paar Zufälle und jetzt bin ich hier. Ich lebe auf der Erde, das ist ein Planet im Universum. Das Universum ist ein unendlich großer, Ort voller lebloser Materie beruhend auf physikalischen Gesetzen. Ich bin ein einzelnes Individuum und getrennt vom Rest meiner Umwelt, also muss ich das Beste für mich herausholen, denn wenn ich sterbe, bin ich weg. So machen es alle anderen Lebewesen auch. Das Leben ist ein gigantisches konkurrenzgetriebenes Nullsummenspiel, bei dem der Stärkere, Schlauere, Bessere gewinnt.“
Meine persönliche Antwort würde anders lauten, die Kurzform:
„Ich bin eins mit allem, nicht zu trennen vom ganzen Universum. Das Universum ist ein Wunder. Die Evolution eine Liebesgeschichte. Und ich ein einzigartiger, nie dagewesener und nie wiederkehrender Ausdruck der Liebe, Schönheit, Weisheit, die in wirklich allem steckt. Deshalb möchte ich meine Rolle bestmöglich mitspielen, meine Einzigartigkeit einbringen und mein Puzzleteil zum großen Ganzen beitragen. Das Leben ist eine Symphonie und ich darf mitspielen.“
Das sind durchaus gegensätzliche Perspektiven. Ich will hier weder behaupten, dass ich das immer zu 100% lebe, noch dass alle, die auf dieser Demo waren, den oberen Teil zu 100% verkörpern (ich verspreche Dir sogar, dass es nicht so ist 😊).
Und gleichzeitig fühlt es sich für mich an, als wäre dies das kollektive Bewusstsein, in dem diese Demonstration, diese Initiative lebt.
Von Albert Einstein haben wir gelernt, dass ein Problem nicht aus demselben Bewusstsein gelöst werden kann, aus dem es entstanden ist. Das finde ich hier ganz passend, denn das Bewusstsein ist dasselbe. Wer aus einer „story of separation“ handelt, der kreiert nur noch mehr Separation.
Halte ich diese Demonstrationen also für nicht sinnvoll und nicht unterstützenswert?
Diese Frage kann ich einfach mit „Nein!“ beantworten, denn entscheidend ist, wie es zu einer Wandlung des Bewusstseins kommt. Und ich glaube, dass diese Demonstrationen dazu beitragen. Ehrlich gesagt bin ich, während ich mich jetzt tiefgründiger damit beschäftigt habe, sogar zu dem Schluss gekommen, beim nächsten Mal hinzugehen. Nicht weil ich mich auf einmal total verbunden fühle. Sondern eher, weil ich das leben möchte, was ich sage. Das zu tun, was sich richtig anfühlt. Nämlich hinzugehen und hinzusehen.
Das führt mich zu meinem Lösungsansatz und noch einmal zu Albert Einstein. Auf die Frage, wie er die Zeit nutzen würde, wenn er eine Stunde Zeit für ein Problem hätte, antwortete dieser, dass er 55 Minuten darauf verwenden würde, über das Problem nachzudenken und die restlichen fünf für die Lösung.
Mein Vorschlag wäre, die gerade entstehende Energie zu nutzen, um sich den Problemen wahrhaftig zu stellen. Dem Wolf in die Augen zu schauen. Sich selbst herauszunehmen aus der Dynamik der Situation und zu beobachten.
Warum hassen Menschen andere Menschen? Wie entsteht „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (neuer Ausdruck, den ich vorhin gelernt habe)? Wo kommen diese Probleme wirklich her? In welchen Punkten bin ich selbst mit „denen“ einer Meinung? Aus welchem Bewusstsein handle ich/wir? Wo liegen die Wurzeln der Probleme? Inwieweit bin ich selbst ein Teil des Problems? Vor welchen unangenehmen Wahrheiten verschließen wir die Augen? Usw.
Der Ort an dem beobachtet wird, ohne zu bewerten, an dem die echte, ungeteilte, unbeeinflusste Aufmerksamkeit den Problemen im Äußeren wie im Inneren zugewandt wird – an diesem Ort entstehen Lösungen, aus diesem Ort entspringt eine schönere Zukunft. Eine Zukunft, die so schön ist, dass wir sie uns gar nicht vorstellen können. Und eine Zukunft, die wir erleben werden.
…wenn wir unseren Teil dazu beitragen. Ich hoffe das konnte ich mit diesem Beitrag tun bzw. ehrlich gesagt spüre ich sogar, dass ich das getan habe. Ich danke Dir füs Lesen und freue mich auf alles, was hieraus entsteht,
Anselm
p.s. Das Verfassen dieses Textes war nicht einfach, ich habe gemerkt, wie ich mich in Nebensächlichem verfangen habe. Diese Teile habe ich gestrichen oder ersetzt und bin am Ende woanders herausgekommen, als ich zu Beginn gedacht hätte. Ich bin immer noch nicht ganz zufrieden und trotzdem: Good enough. Raus damit
[1] (Abre numa nova janela) Ich wollte im Text nicht länger darauf eingehen, aber diese kleine Fußnote nutzen, um dem Missverständnis vorzubeugen, dass ich „das System stürzen möchte“ oder ähnliches. Ich weiß es auch nicht besser. Und ich werde meine Wahrheit sprechen und das ehrlich ausdrücken, was ich sehe.