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14:06

Ina geht‘s gut. Sie ist jetzt seit zwei Monaten in der Stadt, sie studiert nochmal, Labortechnikerin dieses Mal. Was handfestes. Vier Semester lang hat sie Germanistik und Romanistik probiert, in Göttingen war das, aber das war nix. Sie hat währenddessen das Gefühl gehabt, die Freude am Lesen zu verlieren; die Freude am Denken auch. Sie hatte nur noch Gedanken, die in den Lehrplan passten. Bei einem Seminar über Rimbaud kam ihr alles falsch vor, was sie hörte, der ganze Typ kam ihr falsch vor und komplett drüber, aber dann saßen da so Leute in diesem Raum Donnerstag morgen um viertel nach zehn und hatten Hüte auf und darunter kochte ein Fieber, vor dem sie sich fürchtete; diese Leute, Jungs meistens, wollten alle auch so sein wie dieser narzistische kleine Wichser, einer hatte sich sogar Verse aus der saison en enfer an die unverputzte Wand gesprayt, mit rot auch noch, und sie begriffen einfach nicht, was daran alles falsch war. Ina selbst hat es ja noch nicht ganz begriffen.

Daran aber denkt sie kaum zurück; manchmal streift sie eine Erinnerung, die abzuschütteln ihr leicht fällt, denn: Die Stadt jetzt ist neu für sie, und an jeder Straßenecke wartet ein anderer Zauber. Die Menschen hier sehen aus, als hätten sie bereits gelebt; nicht wie in Göttingen, schien ihr, wo das Leben wie ein Windhauch an einem vorbeiziehen konnte; es für die meisten Menschen auch tut. Hier haben die Leute keine Gesichter, sie haben Fressen, denkt sie, ist aber klammheimlich ganz froh, dass sie selbst sich im Spiegel verwechselbar vorkommt. Sie hat sich die Haut der Stadt noch nicht übergestreift.

Überhaupt lebt sie hier, als wäre sie auf Reisen; freilich geht sie zu ihren Vorlesungen und Seminaren, aber davon abgesehen probiert sie einfach rum. Sie isst mal hier, mal da, und setzt sich, wenn ihr danach ist, in einen Park oder auf eine Terrasse. Sie vermeidet es  noch, Kontakte zu knüpfen; Bekanntschaften reichen ihr, und da sie auf eine unübertriebene Weise hübsch ist, fällt es ihr auch leicht, jene Bekanntschaften zu schließen.

Heute morgen saß sie zwei Stunden nicht weit entfernt im Gras, trank ihren Cappuccino und las in den Briefen Franz Kafkas an Felice Bauer. Sie war sich nicht sicher, als sie dieses Buch kaufte (sie fand es zufällig in einem Antiquariat), ob es ihr überhaupt zustand, diese Briefe zu lesen; wollte Kafka nicht ohnehin, dass fast sein gesamtes Werk vernichtet und dem Vergessen anheimgegeben würde? Sollte man solch einem Wunsch nicht entsprechen? Ist es statthaft, sich darüber hinwegzusetzen?

Aber dann las sie die Briefe, zunächst mit einem Gefühl, etwas verbotenes zu tun; aber je länger sie las, desto ärgerlicher wurde sie; desto überzeugter war sie, dass das nur der nächste wicked move eines Geistes war, der keine andere Kommunikationstechnik beherrschte als gaslithing. Wirklich, war das zu glauben, dieses ständige back and forth gegenüber Felice? Zwischendurch hat sie sie gegoogelt: eine streng aussehende, nicht gerade hübsch, aber außerordentlich selbstbewusst dreinschauende Frau, die in eine beschissene Zeit hineingeboren wurde und an diesen Penner geraten ist, der die ganze Zeit hin- und herweint: Ohne Dich kann ich nicht leben! Mit Dir auch nicht! ich bin ganz verloren, aber ich kann nur so! Seitenlang hat er ihr geschrieben, warum sie sich nicht auf ihn einlassen soll, um ihr dann quasi im nächsten Brief vorzuwerfen, dass sie ihn vernachlässigt, weil sie ihm nicht geschrieben hat, was sie gegessen hat und wie es wieder rauskam? Und ständig diese Herumkirttelei an allem, was sie gerne liest, was soll denn das? Lieber Bettwanzen als so einen Verlobten, und anfassen darf man ihn auch nicht, aber der besten Freundin macht er ein Kind? Na, kein Wunder dass das eine der Ikonen der deutschen Literatur geworden ist. Daran orientieren sich dann die ganzen halbseidenen Jungschriftsteller der heutigen Zeit und dann wissen sie nicht wohin mit ihren Fingern, wenn man mit ihnen im Bett liegt; weil es sie einfach nicht interessiert. Anders als der Typ, der jetzt vor ihr steht und der offenbar der Barkeeper ist; auch das ist eine Fresse. Die Stadt wird sie kurieren von all dem Scheiß.

„Was darf’s sein?“, fragt Musti.

„Einen Gin Tonic“, antwortet Ina.

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