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Trostsuppe

Von Knuth Kung Shing Stein

Trostsuppe ein Text über Hühnersuppe

Wenn ich Vergangenheitsweh bekomme, koche ich mir Hühnersuppe. Ich erinnere mich dann an das China-Restaurant meines Vaters, besonders an das rhythmische Tak-Tak-Tak, der Hackmesser und das sanfte Blubbern eines riesigen Suppentopfes, der das Zentrum der Küche war. Er war ein magischer Reaktor. Aus Hühnern, Gemüse und Wasser wurde köstliche Hühnerbrühe gebraut. Die Suppe wurde gepflegt und gehütet wie ein Schatz. Der Topf war immer heiß und musste immer wieder mit Suppenhühnern und Gemüse aufgefüllt werden. Denn ohne Hühnersuppe läuft nichts in der kantonesischen Küche. Sie ist eine wichtige Zutat für viele Speisen und sie gilt als die beste Brühe unter den Brühen. Kantonesen sind absolute Suppenfreaks. Es gibt tausende Rezepte und sie wird zu jeder Tages- und Jahreszeit gegessen.

Manchmal ging ich schon vor der Schule zum Frühstücken zu meinem Vater ins China-Restaurant. Im Sommer saßen die Köche auf Plastikeimern im Hinterhof. Ich erkannte sofort, ob mein Vater die Nacht zu Hause geblieben war oder ob er die Nacht durchgemacht hatte. Wenn er als Rumtreiber zurückkam, war die Nacht sehr lang, dann saß er im Anzug auf seinem Plastikhocker in der Küche, die er sonst nur mit Kochklamotten betrat. An der Form seiner Hemdtasche vorne an der Brust konnte ich erkennen, wie sein Abend verlief und ob er pleite war. Die Größe der Ausbeulung seiner Hemdtasche zeigte mir immer seinen aktuellen Kontostand. War seine Hemdtasche vorne flach, war die Nacht nicht so gut. Er hatte viel Geld verloren. Aber diesmal war eine deutliche Ausbeulung zu sehen, die Nacht war gut, er hatte gewonnen. Die blauen Hundertmarkscheine schimmerten durch den Stoff.

 Wenn man so will, führte er das Leben eines Rock'n'Rollers nur mit einem Wok statt einer Gitarre in der Hand.

Ich setzte mich zu ihm hin. Zur Begrüßung kniff er mir immer in die Wange, das war seine Art, mich zu begrüßen. Dann aßen wir alle zusammen heiße Hühnersuppe mit Reisnudeln, die mit verschiedenen Zutaten bedeckt waren. Es gab immer das, was die Küche gerade vorbereitet hatte: Mal mit Bok-Choi, Ente, geschmortem Tofu oder Wan-Tans. Unzählige Varianten habe ich gegessen. Es wurde viel geredet, gelacht und laut geschlürft. Die Suppe gab meinem Vater immer die nötige Kraft, um den Tag zu bestehen. Er war ein Zocker, ging regelmäßig in den Puff und war dem Rausch nicht abgeneigt. Wenn man so will, führte er das Leben eines Rock'n'Rollers nur mit einem Wok statt einer Gitarre in der Hand. Manchmal glaube ich, ohne Hühnersuppe hätte er das Leben nicht durchgestanden. Es war eine Art Zaubertrank für ihn. Ich liebte dieses Frühstück. Es kostete mich viele Einträge ins Klassenbuch, weil ich dann immer zu spät zum Unterricht kam. Ich verpasste Goethe und Pythagoras, aber ich war satt und um einige Geschichten reicher.

Jahre später, als ich „auf die große Schule“ ging – so nannte mein Vater die Universität in Deutschland – besuchte er mich mittags in meiner Wohnung. Er war zu dieser Zeit schon ein sehr alter Mann, aber er stand immer noch als Koch in der Küche. Der Grund für sein plötzliches Auftauchen war, dass er am Tag zuvor feststellte, dass ich kalte Hände hatte. Klar, mein Yin und Yang war außer Kontrolle geraten, und das lässt ein guter chinesischer Koch nicht zu. Er hatte eine große Thermoskanne mit Hühnersuppe und eine Tüte voller Zutaten dabei. Ich lernte weiter, während er in meiner sehr kleinen Küche kochte. Dann servierte er mir Hühnersuppe mit Nudeln, dazu reichte er mir gedünstete Gurken und gekochte Eier, die er vorher mit Fünf-Gewürze-Pulver mariniert hatte. Ich kann mich noch an seinen Duft erinnern. Es war eine Mischung aus Zigarettenrauch und Tabac-Rasierwasser. Dass er einen Smoking trug, war für meinen Vater nichts Ungewöhnliches. Irgendwann fing er an, nur noch Smokings mit gewagten Pullovern zu tragen. Wir schlürften unsere Suppe und schwiegen dabei. Dann hörte er auf zu essen und schaute mich lange an. Er legte seine Stäbchen zur Seite, streichelte meine Wange und grinste dabei zufrieden. Das hatte er seit meiner Kindheit nicht mehr getan. Er zündete sich eine Zigarre an, stand auf und erklärte mir, wie wichtig Hühnersuppe sei und dass ich sie in den nächsten Tagen noch weiter essen sollte. Es war das letzte Mal, dass wir beide Hühnersuppe zusammen aßen. Paar Wochen später starb er. Und manchmal brauche ich heute noch diese heiße Wunderbrühe, sonst halte ich das Leben nicht aus, besonders dann, wenn sich der Hunger aus der Kindheit in meinem Kopf wieder breitmacht

Anmerkung: Das ist ein alter Text von mir. Trostsuppe habe ich 2016 auf dem SoSUE Blog veröffentlicht.

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