Nervöse Zone
Drama-Dienstag/Filme zum 8.Mai/Magro Radatouille/Pépin und Picknick

Die Älteren erinnern sich womöglich noch an letzten Dienstag. Ich stieg in Frankfurt auf den Zug nach Berlin, als Julia Klöckner das Ergebnis des ersten Wahlgangs verkündete, Merz hatte keine Mehrheit. Dann habe ich wenig mitbekommen, weil die Bahn ja als retreat mit digitalem Detox fungiert: Kein Wlan, wenig Mobilfunk. In Berlin fuhr ich mit dem Rad am Parlament vorbei: Draußen die anarchische Idylle der Hauptstadt im Frühling, drinnen steigt der Druck im politischen Kochtopf. Als ich später die Berichterstattung wieder verfolgen konnte, ging es da nur um die AfD. Wie sie triumphiert oder bald triumphiert. Wie es den anderen damit geht, dass die AfD triumphiert oder bald triumphiert. Dass Merz Kanzler werden muss, sonst, das war die Stimmung, wird es Alice Weidel. Leute aus der AfD kommentierten das Geschehen und die anderen waren in Panik. Hm.
War es den radikalen Rechten etwa gelungen, einen Kandidaten im Bundestag aufzustellen und durchzubringen? Hatte sich die Union zu einer Koalition überreden lassen? Gab es geheime Stimmen für die AfD? War die neue Regierungskoalition schon Geschichte? Bekanntlich nicht.
In Wahrheit hatten sich alle, sogar CSU und Grüne und Linke, so abgesprochen, damit die Stimmen der AfD bei den Verfahrensfragen nicht benötigt werden. Man muss sich das kurz mal durch den Kopf gehen lassen: In der Politik geht es um Macht und Mehrheiten. Alle Fraktionen, viele Politprofis wollen das, sehr dringend sogar. So wie Sportler die Goldmedaille. Die AfD hat viele Stimmen anzubieten – aber niemand, keine andere politische Person und sei sie noch so verzweifelt an einer Mehrheit und an Macht interessiert, macht mit diesem toxischen Club gemeinsame Sache. Die Rechtsradikalen sind - und an jenem Tag wurde es für alle sichtbar - vollkommen ausgegrenzt. Niemand möchte etwas mit der AfD zu tun haben, nicht einmal Marine Le Pen und ihr Rassemblement National im Europäischen Parlament. Der Inhalt der AfD-Äußerungen an diesem Tag machte auch klar, warum: Da ist keine Substanz, nur Polemik. Kein Verantwortungsbewußtsein, nur Sprüche und Lügen. Aber warum tun alle so, als stünde diese radikale Partei vor den Toren der Macht? In dieser Welt ist keine Entwicklung vorstellbar, nach der Frank-Walter Steinmeier so jemanden zum Kanzler macht.
Die große Dienstags-Panik war unangebracht. Dass die Mehrheit mal wackelt ist keine Krise des Parlamentarismus, sondern seine Bekräftigung: Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen verpflichtet und nun mal keine Androiden. Frankreich hat seit Jahr und Tag eine Regierung ohne Mehrheit und ist noch nicht im Meer versunken. In Belgien und in den Niederlanden gab es lange Perioden eines politischen Interregnums, das ist politischer Alltag. Es gibt viele stabile Institutionen in Deutschland, viele andere Koalitionsmöglichkeiten und Verfahrensoptionen, keine davon führt zu einer wichtigeren Rolle für die AfD.
Man muss ihren Wählerinnen und Wählern vielmehr klarmachen, dass eine Stimme für die AfD vergeudet ist. Zum erträumten “Systemwechsel” mit Deportationen, geschlossenen Grenzen und eigener Währung oder wovon auch immer diese Leute träumen wird es nie kommen. Vom Fall Krah reden, vom Fall Bystron und zwar ebenso gründlich wie über jene anderen Kriminalfälle, von deren Politisierung die Rechten leben. Warum werden AfD-PolitikerInnen immer nur über ihre selbstgewählten Themen befragt, nie nach Einzelheiten ihrer Gesetzesinitiativen, nach Mietrecht, Rentenreform und Klimaschutz?
Am Dienstagabend jedenfalls staute sich Berlin-Mitte in alle Richtungen, dunkle Autos fuhren die kopflose Koalition zu ersten Treffen, Feiern oder nächtlichen Sitzungen. Es war ein befreiendes Chaos. Carsten Linnemann gestand, so einen Tag brauche er nicht nochmal im Leben und ich dachte: Wart’s ab, es ist 2025. Heute, Samstagmittag, ist der Dienstag natürlich längst vergessen. So wie eines Tages die AfD.
Der 8.Mai ist in Frankreich ein Feiertag, hierzulande ist das naturgemäß etwas komplizierter. Aber in diesem Jahr sind gleich zwei Videos zu empfehlen, die das Thema künstlerisch bearbeiten und dabei auch noch mit Witz und Anmut glänzen.
Das erste ist von Wim Wenders, sehr inspirierend und berührend
https://www.youtube.com/watch?v=m2LhQIgSqrk (Opens in a new window)und dann eine etwas längere Auseinandersetzung mit der Rede von Richard Weizsäcker in einem Essay von Erhard Schüttpelz - gelesen von Hanns Zischler.
https://www.youtube.com/watch?v=IMiy2wbNAoI (Opens in a new window)Viele träumen davon, er hat es getan: Jean- Marie Magro hat sich auf das Rad geschwungen und ist einmal ganz um Frankreich gefahren. So gelingt ihm eine sehr unterhaltsame Reisebeschreibung – er wird von seinem arg deutschen Freund Peter begleitet – und eine interessante Zustandsbeschreibung der französischen Republik. Es geht um die force de frappe, um Streiks, die gilets jaunes und jede Menge anderer Themen, die in deutsch-französischer Perspektive relevant sind. Magro kombiniert Radreisebeobachtungen, Reisetipps und geschichtliche Ausführungen mit Mark Twainschem Humor. Ich fahre auch gerne Rad, aber angesichts der hier beschriebenen Strapazen und Abenteuer freue ich mich ebenso, wenn ich zuhause behaglich darüber lesen kann.

Unter den Klassikern der amerikanischen Fernsehköche ist er sicher der klassischste, vergleichbar nur mit der großen Julia Childs. Pépin, aus dem schönen Bourg en Bresse stammend, hat ein Gespür für Geflügel. Er kochte schon für Charles de Gaulle und hat in seinem Fach eigentlich alles erreicht, was man erreichen kann – und noch viel mehr, etwa den Emmy für seine Sendung mit Childs. In diesem Jahr wird er neunzig und auf diesem Video zumindest hat er es noch drauf.
https://www.youtube.com/watch?v=sFtpo1nxX_k&t=6s (Opens in a new window)Langsam wird es wärmer, man darf sich wieder hinaus wagen und den Sonntag draußen genießen, vielleicht mit so einem vegetarischen Picknick:
https://www.youtube.com/watch?v=Ny2wIa0Wf7A (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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