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No News

Aus Gründen, die nicht hierher gehören, habe ich in den letzten Wochen viel Zeit als Besucher in einer Berliner Klinik verbracht. Diese Welt war mir neu, ich kam nur mit meinen persönlichen Vorurteilen. Und mit zig gelesenen Artikeln und betrachteten Dokus im Kopf, die natürlich die anprangerungswürdigen Ausnahmen beleuchten, nicht den Alltag. Meine Vorbehalte über Apparatemedizin und Massenbetrieb lösten sich rasch auf. Nicht nur die Versorgung und Pflege waren effizient und durchdacht, auch die Kommunikation war tadellos. Nichts wurde beschönigt, nichts dramatisiert. Die Flucht in den Jargon oder in die Arroganz, die ich in früheren Jahren mal bei Ärztinnen und Ärzten beobachtet habe - das war völlig verschwunden. Das Team arbeitete stationsübergreifend zusammen, alle waren stets auf demselben Stand. Man würde sich wünschen, die Ampel-Koalition machte hier ein Praktikum, um etwas über Tempo und Vertrauen zu lernen.

Auch an einem Sonntag wurden komplizierte Untersuchungen angeregt und durchgeführt. Themen wie knappe, strenge Besuchszeiten oder von der Schwierigkeit, mal einen Arzt zu erwischen, wie ich sie aus Erzählungen früherer Zeiten kenne, tauchten gar nicht auf. Weil es Berlin war, legten alle eine gewisse Offenheit und Lässigkeit an den Tag, was dem Ganzen ein wenig von der Schwere nahm.

Docs und Pflegekräfte sind mal biodeutsch, mal nicht – genau wie ihre PatientInnen. Die ermüdende Frage, wer woher kommt, spielt in der Klinik keine Rolle. Ich nahm einige Mahlzeiten zwischen den Beschäftigten ein und hörte normale Arbeitsplatzwitze, aber nichts von dem dauernden Untergangsgeheule rechter oder auch betont linker Medien. Mein Eindruck war, dass die Leute ihren Job gut und gerne machen und mit ihrem Leben zufrieden sind. Vielleicht ist es an vielen Stellen im Land so – aber als Journalist kann man das nicht abbilden. Man würde sofort der naiven Affirmation bezichtigt und verdächtigt, die wahren Probleme der Menschen zu ignorieren. Oder die Sorgen, die noch kommen. Oder die Nöte der anderen. Dabei sind dauernde Angst und die Verkennung, dessen, was in Europa gut ist, wirksame Treibstoffe für die Höckes und Wagenknechts dieser Republik. Vielleicht ist es genau umgekehrt: Der mediale Grundton, nachdem alles immer schlimmer wird, trifft die Realität nicht und führt dazu, dass Leute gar keine Medien mehr zur Hand nehmen.

Von diesen vielen Heldinnen und Helden des medizinischen Betriebes sind kaum je welche in Zeitungen oder Fernsehen zu Gast. Dafür immer wieder Typen, die hier allerhöchstens als Patient eine Rolle spielen dürften. Kein Trump, kein Putin könnte eine Station leiten oder Menschen pflegen. Sie und ihre Anhänger verkörpern genau das Gegenteil von dem, was nötig ist, um im Team und gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse ein Leben zu reparieren. Und doch räumen wir nicht denen, die das so gut machen, Platz ein - es muss ja nicht um die Person gehen, es könnten die Prinzipien sein, die sie leiten - sondern all dem, was wir nicht gebrauchen können. Lügen, Drohungen, die tausend perversen Spielarten der Psychopathologie – all das hat in so einer Klinik nichts zu suchen, füllt aber mediale Sendezeit und bespielt alle Plattformen. Junge Frauen und Männer, die erst Menschen heilen und dann in den Feierabend ziehen, Skateboard unter dem Arm – das ist viel eher Deutschland heute als die Studios der Talkrunden mit ihren enervierenden und extremen Gästen.

Das Gelingen und das Glück sind nun mal keine News und die braucht es. Rund um die Uhr, rund um den Globus, immer Alarm. Aber der ist nur fake. Wenn es wirklich ernst wird, ist es ganz still.(Ging dann alles gut. #newlife)

Mein Interesse an oder sagen wir es ehrlich: meine ausgewachsene Obsession mit der Welt der Papeterie ist nicht zu leugnen, darum war ich ganz wach, als der neue französische Premierminister Michel Barnier mit folgendem Accessoire im Hof des Hotel Matignon, seinem neuen Amtssitz, erschien:

Ich erkenne da ein Leuchtturm1917- Notizbuch in A5. Moleskine sind nicht so breit und die französischen Marken wie Rhodia haben dickere Cover.

Da haben wir also einen französischen Spitzenpolitiker, der selbst mitschreibt, wenn ihm Leute was erzählen. Statt nur selbst zu senden. Und der das Buch sogar selbst trägt, statt einen ENA-Absolventen oder Offizier hinter sich her dackeln zu lassen. Das hat es auch noch nicht gegeben.

Barnier ist mehr eine Methode als ein Parteipolitiker. In seinen Memoiren über die Brexit-Verhandlungen legt er genau dar, wie er es angestellt hat, alle europäischen Partner zu informieren und einzubinden. Er war nicht nur mit den Regierungen im Gespräch, sondern mit den Parlamenten, den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden und zwar von allen 27 EU-Staaten. Er würdigt in dem (übrigens arg langweiligen) Buch, aber auch in vielen Interviews sein junges, multikulturelles Team, ohne das es nicht möglich gewesen wäre, die Einheit der Europäer gegenüber London zu erhalten. Gelingt es ihm, seine Instrumente des Dialogs und des Kompromisses auch im neuen Amt zu pflegen, könnte es eine spannende Amtszeit werden.

Die französische Linke hingegen hat sich gründlich blamiert. Der ehemalige Sozialist Bernard Cazeneuve war ihnen nicht geheuer und passte dem Mélenchon nicht, also verschmähten sie die 50% der Macht in einer Koalitionsregierung unter Cazeneuves Führung und stehen nun mit 100% von nichts da. Ihren relativen Erfolg nach den Parlamentswahlen haben sie sich entwenden lassen wie die Opfer in Eduard Zimmermanns Nepper Schlepper Bauernfänger. Nun wird Frankreich eben von einem deutschen Notizbuch aus regiert.

Über seine Methode gibt es eine sehenswerte Doku Brexit: The Clock is Ticking - die aber derzeit nur in Fragmenten abrufbar scheint:

https://www.youtube.com/watch?v=GJMwvAGc_9E (Opens in a new window)

Französische Politik eignet sich ganz besonders für Komödien. In der zweiten Staffel von Der Wahlkämpfer zieht der von Jean-Pascal Zadi gespielte Stéphane Blé in den Élyséepalast ein, um sein ambitioniertes Wahlprogramm zu realisieren: Manger bien, payez rien. Gut essen, nix zahlen.

Die Serie festigt ihren Ruf als komplett alberne und hoch komische Satire auf alles und jeden und erweist sich als ziemlich guter Kommentar zum aktuellen Geschehen.

https://www.netflix.com/title/81520506 (Opens in a new window)

Nach den aufreibenden letzten Woche und als Gruß für den ersehnten Herbst ist mir heute nach einem Klassiker. Eigentlich ist schon das Video Freude genug.

https://madame.lefigaro.fr/recettes/poulet-roti-280509-199408 (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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