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Die Rätsel der Routine

In den letzten, so bewegten Wochen habe ich mir eine Routine zugelegt, zunächst ganz ohne Absicht, aber nun hat sie mich fest im Griff: Ich gehe jeden Tag zur selben Zeit in den Wald und drehe eine Runde von ungefähr 90 Minuten. Es ist schon seltsam, wie deutlich der Wald und seine Nutzung ein Abbild der Gesellschaft sind. Eine ganze Reihe von Menschen sind gar nicht mehr gewohnt, nicht allein zu sein. Sie spazieren auf der Mitte des Waldwegs, bleiben auch stehen, kümmern sich um ihr Smartphone und zeigen sich verblüfft, wenn jemand analog und dreidimensional vorbei möchte.

Eigentlich ist es immer der gleiche Wald, aber alle nutzen ihn unterschiedlich. Eine Gruppe trifft sich immer, um ferngesteuerte Modellautos auszuführen. Erwachsene Männer, die ihre kleinen Geländewagen die Hügel hochfahren lassen und die anerkennenden Kommentare der Kinder genießen. Solche Hobbys oder gar Spleens sind sehr gesund für die Seele, Modellbauen ist das deutsche Yoga. Was im Bastelkeller entsteht, muss sich nun draußen bewähren, der Stadtwald ist in dieser Perspektive der Dschungel. Manch ein Modell packt aber die Steigung nicht, sondern surrt und rattert ganz kläglich, aber das ist eigentlich gar nicht schlecht für den Bastler. Es kommt wieder in die Plastiktüte und er darf weiter daran basteln. Bastler sind in dieser Hinsicht wie Sisyphus. Scheitern bedeutet weitermachen.

Dann sind da die Hunde. Es ist gar nicht zu ermessen, welche therapeutische Arbeit die Vierbeiner in dieser Gesellschaft leisten. Manchen sieht man das auch an. Es wird da jede Menge ausagiert, aber nicht allen Beteiligten ist klar, worum es geht. Manche Halterinnen und Halter haben eine Vorstellung vom korrekten Hundeverhalten, die die Tiere selbst nicht teilen. Also verbringen gar nicht so wenige Menschen ihren Waldspaziergang damit, sich mit ihrem Hund zu streiten. Andere lassen die Tiere stolz herumtollen und sind fast ein wenig beleidigt, wenn man sich gar nicht erschrickt.

Hin und wieder begegnet man aber auch Zeitgenossen, die einfach nur verdrossen und böse schauen. Es ist der späte Nachmittag in einem angenehmen Wald, aber der Blick mancher Mitbürgerinnen und Mitbürger verrät, dass sie am liebsten jemandem das Ohr abbeißen würden. Wenn man grüßt, zucken sie zusammen wie beschimpft.

Zu den großen Verbesserungen der letzten Jahrzehnte gehört die Sache mit den Kindern. Es ist alltäglich, Väter mit kleinen Kindern im Wald und auf den Spielplätzen zu sehen. Und der Ton ist entspannter, zugewandter und respektvoller. Es ist besser geworden. Deutsche Familien kommen in allen möglichen Farben, Formen und Konstellationen im Wald daher, aber der Krampf hat sich verzogen. Familienausflüge à la Loriot sehe ich gar nicht mehr, dafür jede Menge individueller Formen vom großen Picknick bis zur Schatzsuche. Regelmäßig begegne ich auch einem Vater-Tochter Duo, die sich auf älteren Westernpferden und mit weiten Hüten aus Hessen in die Weiten Arizones träumen.

Es ist eine egalitäre, fast sozialistische Übung, denn dieser Wald gehört allen und die Erfahrung des Spaziergangs ist durch Geld nicht zu verbessern. Man braucht keine Kurse, keine Ausrüstung, sondern geht einfach los.

Der Stadtwald hat auch seine Parallelgesellschaft. Wenn ich den Heimweg antrete, kommen mir einige entgegen, die gerade erst den Weg in den tiefen Wald beginnen. Manche kenne ich schon, es sind Wald-Clochards, die in einer der Hütten nächtigen. Andere scheinen mit Rucksack und Stirnlampe eine Nachtwanderung zu beginnen. Und bei einigen Waldbesuchern habe ich schlicht keine Ahnung, was sie zu später Stunde im Wald vorhaben. Wie schrieb Michel Houellebecq: Vraiment, la vie des gens est un mystère.

Wie schon das vorige Buch über den Mord an Walther Rathenau (Opens in a new window) so ist auch “Man lebt sein Leben nur einmal” von Thomas Hüetlin einer ganz eigenen Gattung zuzurechnen, die man vielleicht als Gesellschaftsroman mit Zeitumstellung bezeichnen könnte. Viele der behandelten Themen sind uns wohlvertraut, denn es geht um das Gewühle der Gefühle, die amour four und die Beziehungskiste, die Herrlichkeiten der Liebe und die Mühen des Alltags – all das aber im Zweiten Weltkrieg.

Remarque und die Dietrich sind heute nicht vergessen, sondern eher wie Möbel, die man schon lange hat. Sie sind anwesend, aber man denkt nicht groß darüber nach. Bis es einen Umzug gibt oder jemand Neues einen Blick darauf wirft. Nun, und so ist das auch in diesem Buch aus der Grenzregion zwischen Sachbuch und Roman, wirkt das vertraute Stück frischer, inspirierend und interessant. Man erinnert sich plötzlich, dass das politische Engagement von Künstlerinnen nicht von Taylor Swift erfunden wurde und dass es Zeiten gab, in denen berühmte Deutsche es gut fanden, einen internationalen, weltoffenen Lebensstil zu pflegen. Und nebenbei mag die Frage aufkommen, warum Kunst und Kultur aus Deutschland auf internationaler Bühne kaum mehr vorkommen. Viele Fragen, zu denen dieses schöne Buch anregt.

Es ist ganz erstaunlich, dass diese Serie, seit kurzem bei arte abzurufen, weitgehend unbekannt geblieben ist. Sie spielt im Milieu der russischen Oligarchen im Londoner Exil und fängt eine Stimmung ein, wie sie zwischen der Besetzung der Krim und dem Einmarsch in die Ukraine herrschte: Globalisiertes Misstrauen. Putin und seine Leute drohen und killen zwar schon, aber sie machen auch noch Geschäfte. Und wie man vor dem Ersten Weltkrieg dachte, die Verwandtschaftsbeziehungen des europäischen Adels würden den Frieden schützen, so dachte man das in jenem Jahren auch vom Business. Schließlich ist auch die russische Führung von Interessen geleitet, so lautete die fehlerhafte anthropologische Annahme der Merkel-Jahre. Diese Serie lässt den Horror aufscheinen, der längst im Herzen des Putinschen Gewaltsystems tobte. Es handelt sich nicht um eine Top-Produktion, was die Ausstattung und die Drehorte angeht, aber gerade in solchen Serien und Filmen ist, wir wissen es seit der Geschichte des amerikanischen Kinos von Martin Scorsese, dringt eher mal der Zeitgeist durch. (Nix für gemütliche Serienabende en familie, es geht in puncto Gewalt ordentlich zur Sache)

https://www.arte.tv/de/videos/117691-001-A/mcmafia-1-8/ (Opens in a new window)

Am kommenden Dienstag 17. September 2024 veröffentlichen wir bei Was bisher geschah (Opens in a new window)eine Podcast folge, an der mir sehr viel liegt, es geht nämlich um die Geschichte des Saarlandes. Man kann ja schon froh sein, wenn Menschen ungefähr wissen, wo sich das Saarland befindet – von der bewegten Geschichte des kleinsten Flächenlandes haben sie oft genug nicht die geringste Ahnung. Und das soll sich nun ändern, denn man kann daraus jede Menge lernen – auch übrigens bezüglich des Umgangs mit der AfD, die dort, trotz vieler Probleme, keine Rolle spielt.

Nach der letzten Präsidentschaftsdebatte und Trumps kalkulierter Hetze (Opens in a new window) wollte ich Rezepte aus Haiti suchen und fand dann diesen aufwühlenden Clip aus einem Reisevideo von Anthony Bourdain in Port au Prince. Sehr guter Kommentar zum Thema Fluchtursachen!

https://www.youtube.com/watch?v=OChh65StTTE (Opens in a new window)

Weiteres Rezept aus der haitianischen Küche:

https://www.troisfoisparjour.com/fr/recettes/poulet-en-sauce-haitien/ (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr Nils Minkmar

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