Grüß Dich!
Findest du, dass Stress normal und unvermeidlich ist?
Oder ist es für dich normal, dass Stress eine gelegentliche Ausnahme in einem Alltag ist, der die allermeiste Zeit ganz entspannt abläuft?
Ich könnte mir vorstellen, dass die allermeisten Leute die Idee von einem Alltag ohne anhaltenden Stress für ziemlich unrealistisch halten - und somit ist Stress aus ihrer Sicht ein unvermeidlicher Teil des Lebens.
Für mich war ein entspannter Alltag sehr lang noch viel unrealistischer als für andere Leute. Denn mehr als die Hälfte meines Lebens war ich selektiv mutistisch.
Daher hatte ich die enorme Belastung vom Nicht-Sprechen-Können noch zusätzlich zu all dem "üblichen, normalen" Stress meiner Altersgenossen (erst als Kindergartenkind, dann als Schülerin, später in der Berufsausbildung und dann im Berufsalltag).
Für mich ging es ja nicht nur darum, genauso viel wie alle anderen zu machen - hinzu kam mehrere Jahrzehnte lang die Erwartung (von mir an mich selbst und natürlich auch von Menschen um mich herum), dass ich in jeder wachen Minute gegen das Nicht-Sprechen-Können kämpfen musste.
Ich hatte keine stressfreien Zeiten in den ersten dreißig Jahren meines Lebens. Ich hatte nur ab und zu Zeiten mit etwas weniger Überlastung.
In den vielen Jahren, in denen ich Selektiven Mutismus hatte, wusste ich mehrere Dinge über mich und über Stress noch nicht...
Erstens wusste ich nicht, dass mein Nicht-Sprechen-Können das Symptom einer psychischen Erkrankung war, auf die ich keinen Einfluss hatte. Ich war überzeugt davon, dass es allein mein persönliches Versagen war, weil ich mich eben nicht genug angestrengt hatte. Oder, wie es mir manchmal von meiner Familie gesagt wurde: Ich war nur zu faul zum Reden. Und das war allein meine Schuld.
Zweitens war für mich nicht erkennbar, dass im Vergleich zu Gleichaltrigen meine Toleranz für Erwartungs- und Leistungsdruck und für schwierige Situationen generell gering war und dass sich meine Belastbarkeit umso mehr reduziert hat, je stärker ich gestresst war. Ein Teufelskreis aus Überforderung und Hilflosigkeit und noch mehr Überforderung, bei dem ich nie auch nur die geringste Chance hatte.
Drittens hatte ich überhaupt keine Erfahrung damit, wie es sich anfühlt, entspannt zu sein. Ich hatte - das klingt komisch, aber es stimmt - panik-ähnliche Angst davor. Denn wenn ich mich mal ausnahmsweise nicht krampfhaft angestrengt habe oder wenn ich einfach nicht mehr konnte, kam es mir so vor, als ob ich ins Bodenlose stürzen würde. (Vermutlich bin ich in eine tiefe Erschöpfung gestürzt. Hätte ich mich davon erholen können, hätte danach vermutlich eine angenehme Entspannung auf mich gewartet - aber nie im Leben hätte ich mich so weit fallen lassen können.)
Heute weiß ich:
Die mutistische Blockade wird durch Stress ausgelöst. Und perfiderweise ist der Erwartungsdruck, den Mutisten an sich selbst und ihr Sprechen haben, ein wesentlicher Stressor.
Mutismus-Betroffene reagieren sensibler und vielleicht auch stärker auf äußeren und inneren Druck als Menschen ohne psychische Probleme. Ihr Nervensystem ist empfindlicher und die Reaktion auf Überlastung ist überdurchschnittlich stark.
Das ist nichts, was man als MutistIn beeinflussen kann. Man könnte sagen, dass genau das der Selektive Mutismus ist: Eine überdurchschnittlich starke Reaktion von einem überdurchschnittlich angespannten Nervensystem.
Nun könntest du meinen Überlegungen entgegenhalten, dass Selektiver Mutismus doch in Wahrheit "nur" bedeutet, dass Sprechen nicht geht.
So steht das schließlich in den Diagnosekriterien. Von Stress-Reaktion und von Überforderung ist da keine Rede.
Das ist einerseits korrekt. Aber andererseits führt dieser Fokus aufs Sprechen zu Missverständnissen - vor allem, wenn es darum geht, wie man Mutisten helfen kann.
Die neuesten Folgen im Mutismus-Podcast gehen jeweils auf eine der beiden Sichtweisen detaillierter ein: Mutismus als Sprech-Problem und Mutismus als Stress-Problem...
Aktuell im Mutismus-Podcast:
Wo geht die Fähigkeit zu sprechen eigentlich hin? | 108
Diese Frage nach der Fähigkeit zu sprechen hatte ich mir bisher nie gestellt. Denn für mich stand zu keiner Zeit in Frage, ob ich das Sprechen kann. Klar konnte ich sprechen - nur nicht in jeder Situation…
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Warum haben Mutisten so oft eine Stress-Reaktion? | 109
Mutisten wollen keine mutistische Blockade haben. Und doch macht es (auf eine nicht offensichtliche Weise) schon Sinn, dass sie unter Stress immer wieder verstummen und ausharren, bis die Situation sich wieder sicher anfühlt. Psycho-Logisch dient das dem Überleben.
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In meinem Leben als Mutistin war es für mich nicht vorstellbar, ohne alltäglichen Stress zu leben.
Heute ist das anders. In meinem Alltag gibt es zwar auch gelegentlich die unvermeidlichen Momente von äußerem oder inneren Druck, aber die sind auch wirklich nach ein paar Momenten wieder vorbei. Die allermeiste Zeit bin lebe ich entspannt und gelassen.
Und womöglich ist dieser Unterschied zwischen früher und heute einer der Gründe, warum ich damals Selektiven Mutismus hatte und heute nicht mehr.
Was hältst du davon, mal ein wenig damit zu experimentieren, wie dir ein ganz normaler Tag mit weniger Druck und Anspannung gelingt. Heute, zum Beispiel.
Ich finde, dass sowas ein sehr lohnendes Alltags-Experiment ist.
Bis zum Wiederhören...
Tu dir gut!
Deine
Christine Winter