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Neues Leben für alte Texte: Mehrversionenschreiben nach Mayröcker

Ein Plädoyer für die Textteilefreiheit.

"... sie werden dann verwendet, entweder als Titel oder mitten hinein, unterstrichen, also kursiv, und so, also die sind mir dann sehr wichtig. Sie werden auch dann manchmal, wenn sie mich immer wieder faszinieren, immer wieder verwendet. Und dann, zum Beispiel jetzt wirds dann kritisch, weil ich jetzt ein Körbchen habe, das schiebe ich jeden Tag hin und her, da ist so viel drin, da sind zum Teil auch noch Reste von den Texten, die ich jetzt in der letzten Zeit gemacht habe drin, und dann kommen jeden Tag so Sachen dazu, die mir einfallen, beziehungsweise die ich exzerpiere und die mir wichtig sind, aber auch Traumsachen, und die warten also jetzt auf irgendwas Neues, einen neuen Anstoß." (aus Eigentlich ist es nichts anderes als ein poetischer Synthesizer (Opens in a new window))

Das sagt Friederike Mayröcker über alte Textfragmente, Exzerpte und sonstige übriggebliebene Zero Drafts. Sie gibt also altem, ungebrauchtem Text ein neues Leben. Ist das nicht die lang ersehnte Lösung für all diejenigen unter uns, die "Kill your darling" die Tränen in die Augen treibt und die fleißig wie die Eichhörnchen sammeln? Ich sage: Wer wie Mayröcker arbeitet sammelt auf einem neuen Level! :D

Viele kennen es, die wenigsten lieben es: Beim Überarbeiten fällt eine*m auf, das der Text ein paar Stellen enthält, die - sprechen wir ehrlich - einfach überflüssig sind und gelöscht werden müssen. Genau das ist mir beim letzten Essay sogar zwei Mal passiert. Das Schlimmste für mich war dabei, dass es auch noch ausgerechnet die Teile waren, die mir daran sehr wichtig waren. Eine Woche lang habe ich gebraucht, bis ich mein erstes Darling löschen konnte. Und trotzdem musste ich noch eine alte Version davon aufbewahren. (Man weiß ja nie, was noch beim Überarbeiten passiert, vielleicht passt mein Darling ja dann doch wieder!) Das zweite Darling konnte ich gar nicht löschen.
Da kam mir ein Gedanke: Jemand gab mir mal den Tipp, mich ein wenig mit Friederike Mayröcker zu beschäftigen, die wohl eine ausgeprägte Textteile-Neuschreiberin mit Hang zum Please, please don't kill my darling ist. Zwei Klicks im Internet und schon hatte ich die Lösung: Was wenn ich meine Darlings gar nicht lösche? Was wenn ich sie einfach wann anders ein Herzstück meines Textes sein lasse? Was wenn der Textteil wirklich genial ist, aber der Text außenrum nicht seiner würdig ist und nicht umgekehrt?
Ein toller Gedanke! Also habe ich die beiden Darlings aus dem Text genommen. (Mein Text war danach übrigens abgabebereit und viel schöner als vorher...) Aufbewahrt habe ich den einen als Blogentwurf und den anderen umfunktioniert als Einleitung zu einem Blogeintrag. Zwar ist mir zum ersten keine wirkliche Funktion außer ein Beispiel für einen Zero Draft sein eingefallen, aber: Meine Darlings sind frei, ich bin frei, der Essay ist fertig, alle sind glücklich.

Und die Moral von der Geschicht'? Kill your darlings ist ein wundervoller Ratschlag, der sehr weh tut. Es muss aber nicht weh tun, wenn man die Darlings einfach wie Friederike Mayröcker als Sammlung aufbewahrt und später neu verwendet. Die ungenutzten Darlings können so zu neuen Überschriften, Textteilen, Herzstücken und Startpunkten in neuen Texten werden.

Ich werde mir ab Beginn des nächsten Texts ein Word-Dokument auf den Desktop legen und dort meine Darlings sammeln, vielleicht auch thematisch sortieren, taggen,.... Und dann mal sehen, was so mit ihnen geschieht! Und so habe ich für mich aus dem schmerzhaften Ratschlag Kill Your Darlings den hoffnungsvollen Ratschlag Free Your Darlings gemacht.

Anmerkung: Die Illustration zum Text ist KI-generiert von Dall-E.

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