Was hat der Tod von Paul Auster mit KI zu tun?
von Tanja Deuerling
Paul Auster ist gestorben. Als ich diese Nachricht las, habe ich mich gewundert, dass die Welt einfach so weitergeht. Das klingt übertrieben, angesichts der vielen Krisen und Bedrohungen, mit denen wir jeden Tag fertig werden müssen, und die ich versuche weitgehend auszublenden. Paul Austers Tod kann ich nicht ausblenden. Er hat mich zu Tode erschüttert, denn der amerikanische Autor hat mich mein halbes Leben begleitet, inspiriert, getröstet.
Ich habe Paul Auster Anfang der 90er Jahre kennengelernt. Damals studierte ich in Bamberg Literatur und Journalistik, was beschaulich und nett war. Mit einer Freundin reiste ich für zwei Wochen zum ersten und letzten Mal nach New York. Ich weiß nicht, ob sich jemand vorstellen kann, was das für ein 20-jähriges Dorfkind bedeutete. Jedenfalls veränderte New York mein Leben.
Alles, was ich in dieser irren Stadt fühlte, fand ich in Paul Austers „New York Trilogie“ wieder. Ich kaufte dieses Buch in Soho und für mich hat sich eine völlig neue Gedankenwelt eröffnet. Ich wollte in New York leben, ich wollte wie Paul Auster schreiben, ich wollte Paul Auster sein oder ihn heiraten – aber da kam mir Siri Hustvedt zuvor. Ich habe ihm verziehen, da ich auch Siri verehre, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich wollte in New York leben, ich wollte wie Paul Auster schreiben, ich wollte Paul Auster sein oder ihn heiraten – aber da kam mir Siri Hustvedt zuvor.
Seit meinen 20ern begleitet mich also Paul Auster durch mein Leben. Ich habe alle Romane von ihm gelesen, und ich habe die Bücher und den Autor weiter geliebt. Natürlich hatten wir unsere Krisen. Manchmal habe ich ewig nichts neues von ihm gelesen, manchmal habe ich auch gedacht, ich hätte ihn verloren, wenn er merkwürdige Sachen wie „Timbuktu“ veröffentlichte, diese absurde Geschichte aus der Perspektive eines Hundes. Dann sein großer Roman „4321“, den er selbst als ein Lebenswerk bezeichnete, – ich habe ihn verschlungen. Es ist ein reifes Werk, ein großartiges Buch, ein echter Auster. So sehr berührt wie seine ersten Romane wie „Die New-York-Trilogie“ und „Mond über Manhattan“ hat er mich nicht mehr. Aber das liegt bestimmt nicht an der literarischen Qualität. Paul Auster und ich sind zusammen älter geworden und die ungestüme Verliebtheit und Begeisterung sind zu einer vertrauten Verbundenheit geworden.
Das klingt so pathetisch, aber ich kann es nicht anders beschreiben: Neben Haruki Murakami kann ich auch Paul Auster als die literarische Liebe meines Lebens bezeichnen. Auch wenn er immer wieder ein paar Jahre aus meinem Blickfeld verschwunden ist, war er da. In meinem Bücherregal habe ich seine zerlesenen Bücher so platziert, dass ich sie schnell finde. Sie sind immer zur Stelle, wenn ich sie brauche.
Ich wusste, dass Paul Auster Krebs hatte. Sein Tod kam also nicht völlig überraschend. Ich habe mir sofort sein letztes Buch „Baumgartner“ bestellt. Ich hatte schon länger vor, es zu lesen. Normalerweise lese ich Neuerscheinungen von ihm sofort, aber da klar war, dass es wohl sein letztes Werk sein würde, habe ich es nicht fertiggebracht. Ich hatte Angst, dass es nicht mehr mein Paul Auster ist und es mich nicht wie sonst berührt. Dass es mich mit einem Gefühl der Enttäuschung zurücklässt. Und ich hatte Angst davor, dass es mein Paul Auster ist und ich es nicht ertragen kann, dass es das letzte Buch ist, das ich von ihm lese. Natürlich ist Letzteres der Fall.
Das Buch kam am Freitagabend, und ich war erkältet. So hatte ich den ganzen Samstag, um mich bei strahlendem Maiwetter ins Bett zu legen und „Baumgartner“ in einem Zug zu inhalieren. Bei sehr geliebten Büchern versuche ich manchmal, mich zu zügeln und nicht alles auf einmal reinzuhauen. Dieses Mal erlaubte ich es mir.
Mir kamen oft die Tränen beim Lesen. Ich sah Paul Auster in der Figur des Baumgartners und er war wirklich alt geworden. Aber ich erkannte den viel jüngeren Autor aus der „New-York-Trilogie“, der mich seit damals durch mein Leben begleitet hat. Damals zeigte er mir, was und wie ich als junger Mensch bin und sein kann. Jetzt lässt er mich daran teilhaben, wie ich als älterer und alter Mensch bin und sein kann. Nun ist er schon mal vorgegangen, mein guter alter Freund.
Paul Auster spukt also seit dem 30. April in meinem Kopf und beschäftigt mich auch bei meiner Arbeit. Ich muss mich für mein nächstes Seminar „Schreiben mit KI“ vorbereiten. Ich will den Teilnehmenden zeigen, wie sie KI beim Erstellen von Texten einsetzen können und wie Sprachmodelle auch für kreatives Schreiben funktionieren. Ich stelle zusammen mit Oliver Welling verschiedene KI-Tools vor, die tatsächlich helfen, Essays, Kurzgeschichten, Romane und theoretisch alles zu schreiben. Über die literarische Qualität und ethische Gesichtspunkte kann man sehr gut streiten, und dieser Diskurs soll auch Teil des Workshops sein. Ich mag es, mich über KI zu streiten, denn es ist mein eigener Konflikt zwischen Begeisterung und Skepsis, den ich gerne mit anderen Schreibenden weiterführe.
Ich mag es, mich über KI zu streiten, denn es ist mein eigener Konflikt zwischen Begeisterung und Skepsis, den ich gerne mit anderen Schreibenden weiterführe.
Im Workshop geht es auch darum, wie generative KI in die Rolle von Personen schlüpfen und aus deren Perspektive antworten kann. Und da es um kreatives Schreiben geht, komme ich auf die Idee, dass KI meine Lieblingsautoren nachahmen könnte. Das ist natürlich eine äußerst fragwürdige Angelegenheit, und so richtig gut fühle ich mich nicht dabei. Andererseits finde ich, dass man es ausprobieren muss, um sich eine Meinung zu bilden. Ich will ja keine Fake-Texte veröffentlichen, sondern nur wissen, ob und wie es geht.
Ich fange damit an, dass ich CHatGPT4 einen Text von mir gebe und darum bitte, mir ein Feedback dazu aus der Perspektive von Daniel Schreiber zu geben. Treue Blog-Leser:innen wissen, dass ich großer Fan von Schreiber bin. Es funktioniert insofern, dass ich in den Antworten ein Stück weit erkenne, was Daniels Person und Texte theoretisch ausmachen. Aber es liest sich kalt, und es berührt mich nicht. Nur weil ich weiß, dass nicht Daniel Schreiber antwortet, sondern ein Bot? Nein, Daniel hätte empathischer und persönlicher geschrieben, da bin ich mir sicher. Dann bitte ich Claude-3-Opus, einen Essay im Stil von Daniel Schreiber zu verfassen. Die KI gibt die einzig richtige Antwort und erklärt:
„Tut mir leid, aber ich kann keinen Aufsatz für dich schreiben, der den Schreibstil eines anderen Autors nachahmt. Das wäre eine Form von Plagiarismus.“
Irgendwie könnte ich dieses Tool gerade umarmen für diese Antwort. Aber ich frage mich, ob das immer funktioniert. Vielleicht gilt diese Voreinstellung nicht für alle Tools. Und wahrscheinlich gilt sie nur für lebende Autoren. Paul Auster ist tot… Ob die Tools auf dem aktuellen Stand von Mai 2024 sind?
Ich habe das Gefühl, etwas sehr Unanständiges zu tun, aber ich kann nicht anders. Ich öffne den Bot Creative Writing Tool in Poe und prompte:
„I want to write a story about a man in a crisis. It should be in the tone of Paul Auster. It is a short story with 400 words.“
Ich lese den Text und es gruselt mich. Ich erkenne das, was Paul Austers Stil ausmacht. Theoretisch. Aber es ist kalt, es ist Fake. Es interessiert mich einfach auch nicht, was da steht.
KI macht ohne Umstände, was ich von ihr verlange. Ich lese den Text und es gruselt mich. Ich erkenne das, was Paul Austers Stil ausmacht. Theoretisch. Aber es ist kalt, es ist Fake. Es interessiert mich einfach auch nicht, was da steht. Ich lese den kurzen Text von 385 Worten nicht zu Ende. Ich fühle mich schuldig. Trotzdem beschließe ich, dieses Beispiel im Workshop zu zeigen. Und ich bin im Nachhinein sehr froh, dass ich mich dafür entschieden habe.
Es war schon gegen Ende meiner Veranstaltung “Schreiben mi KI”, als ich mit Paul Auster kam. Die Gruppe der Teilnehmenden war großartig. Alles kluge Leute, die in der einen oder anderen Art professionell mit Texten zu tun haben und sich neugierig, aber auch kritisch mit KI auseinandersetzen. Wir hatten mit KI schon journalistische Texte, Social-Media-Posts und allerlei anderen Content erstellt. Zum Abschluss sollte es um „echtes“ Schreiben gehen.
Das Paul-Auster-Beispiel traf einen Nerv, denn nicht nur ich, sondern auch einige der Teilnehmenden sind treue Leser. Auch sie gruselte es bei dem Gedanken, KI-Texte von toten Dichtern zu erstellen, und überhaupt: Kann KI Literatur verfassen? In der Diskussion darüber, was KI kann und können sollte und dürfte, fiel der für mich entscheidende Satz eines Teilnehmers, der auch ein langjähriger Freund von mir ist: „Ich lese, weil ich etwas über den Menschen erfahren möchte, der das geschrieben hat.“
Ich will durch den Text den Menschen sehen, der ihn Wort für Wort geschrieben hat. Ich bestehe nicht darauf, dass ein Autor wie Paul Auster nur Papier und Stift und maximal die Schreibmaschine nutzt. Aber ich will von Menschenverstand verfasste Texte.
Das ist der Kern. Ich lese, weil ich Menschenleben spüren will. Ich möchte Paul Auster sehen und fühlen. Das ist es, was mich berührt. Ich will durch den Text den Menschen sehen, der ihn Wort für Wort geschrieben hat. Ich bestehe nicht darauf, dass ein Autor wie Paul Auster nur Papier und Stift und maximal die Schreibmaschine nutzt. Aber ich will von Menschenverstand verfasste Texte. Das ist vielleicht nicht die Definition von guter Literatur. Aber für mich ist das der Grund, warum ich lese. Ich will das Menschensein erfahren.
Das kann KI natürlich nicht, selbst wenn sie noch viel mehr kann als jetzt. Vielleicht kann ich den Texten irgendwann nicht mehr anmerken, dass sie nicht von menschlichen Autor:innen geschrieben sind. Vielleicht kann ich das schon jetzt nicht, und Paul Austers letzten Text hat ein Bot geschrieben, und nicht Paul Austers Hand und Verstand. Wer weiß das schon? Vielleicht will ich es nicht wissen. Das wäre für mich wirklich das Ende der Welt.
Danke an die wunderbaren Teilnehmer:innen beim Workshop „Schreiben mit KI“.
Danke, Paul Auster, ich lese nun alle Deine Bücher noch mal von vorne.
Wenn Du auch Lust hast, beim nächsten Schreib-Workshops dabei zu sein, dann findest Du alle Infos hier.