Drei Uhr nachmittags im All
Die unendlichen Weiten des Weltraums sind sein Zuhause. Der Sternenhimmel mit seinen Millionen funkelnder Diamanten, er befindet sich jetzt mittendrin. Seit Monaten schon ist Chris in einem Zustand purer Glückseligkeit, denn das hier, das ist seine Welt, sein Lebenstraum:
Allein zwischen den Sternen.
Vergessen ist die jahrelange Plackerei auf der Erde, um für diese Mission ausgewählt zu werden: die Weltraum-Expedition in einen weit entfernten Quadranten, von der man sich vielfache neue Erkenntnisse verspricht. Und ein Teil des Experiments ist auch die Frage: „Wie verändert sich ein Mensch in jahrelangem Alleinsein?“
Chris ist der ideale Kandidat. Er liebt das Alleinsein. Hauptsache, er hat etwas zu lesen …
Die Tage vergehen wie im Fluge. Er hat alles, was er benötigt: Die Kapsel ist ein weitgehend autarkes System und stellt ihm alle lebensnotwendigen Ressourcen für viele Jahre zu Verfügung. Und ausserdem natürlich den Lesestoff, drei gigabyte-große Festplatten voll mit Texten von Aristoteles bis Stefan Zweig.
Mindestens dreimal am Tag spricht er mit seinen Helfern in der Bodenstation. Zumindest am Anfang. Schon in der dritten Woche verbringt er weniger Zeit beim Funkkontakt, maximal zweimal am Tag, nach sechs Wochen ist es noch einmal am Tag und heute? Na, inzwischen hat er schon seit Wochen nicht mehr mit der Erde gesprochen.
Kurz gesagt: Er fühlt sich pudelwohl.
Ganz im Gegensatz zu den Wissenschaftlern auf der Erde. Sie machen sich Sorgen und versuchen, Chris zu erreichen. Doch egal, zu welcher Zeit sie es versuchen, er reagiert nicht. Sie können sehen, dass die Verbindung hergestellt wird, doch sie wird nicht angenommen. „Warum geht der Döskopp denn nicht ran? Will der uns ghosten?“, scherzt ein Techniker. Keiner lacht.
Noch weniger allerdings lachen sie, als das Kommunikationsgerät eines Tages einen knallroten Bildschirm zeigt: „Verbindung nicht möglich. Gegenstelle reagiert nicht.“
Von all dem bekommt Chris nichts mit. Er lebt sein Leben, ist glücklich, so wie es ist und verbringt seine Tage in einem angenehmen Rhythmus von Arbeit und Lesen. Behaglich liegt er in seiner Koje und schaut auf eine leuchtende Sternen-Formation: „Das könnte ewig so weitergehen …“
Eines Tages fällt ihm auf, dass er schnell müde wird. Etwas beunruhigt misst er seine körperlichen Fitnesswerte. Alles okay. Woran kann es liegen? Als Nächstes überprüft er das Luftaustausch-System der Kapsel. Und da ist das Problem! Eine wichtige Komponente ist kaputtgegangen und nach einem kurzen Studium im Handbuch stellt er fest, dass er die Reparatur allein nicht hinbekommen wird.
Grummelig setzt er sich ans Funkgerät, notgedrungen muss er einen der Techniker auf der Erde sprechen. Etwas ratlos sieht er auf das Gerät, dann sucht er nach dem Handbuch. „Das ist echt schon lange her, dass ich hier gesessen hab´“. Er schaut auf seine Uhr: „15.00 Uhr. Da müsste der Techniker auf jeden Fall da sein.“
Mit zittrigen Fingern dreht er an den Knöpfen, um die Frequenz der Bodenstation einzustellen. Tief einatmen, dann drückt er auf die Senden-Taste: „Bodenstation Alpha, hier ist Chris auf Expedition Kappa-3. Ich habe ein Problem mit dem Luftaustausch-System …“ beginnt er, doch seine Worte verhallen im Nichts. Er spürt, dass ihn niemand hört. In denKopfhörern hört er nur das monotone Rauschen des Weltraums.
Beunruhigt versucht er es mit verschiedenen Einstellungen. „Hallo Alpha, hier spricht Kappa-3“. Doch seine Versuche bleiben unbeantwortet. Seine Stimme ist das einzig Menschliche, das er hört, aus den Kopfhörern dröhnt ihm nur ein monströses Schweigen entgegen.
Ein eisiger Schauer jagt ihm über den Rücken. Die Stille, die er bis gerade noch als friedlich empfunden hatte, wird zu einem erdrückenden Vakuum. Das Alleinsein, vor wenigen Minuten noch sein enger Freund, hockt nun wie ein grausamer Feind in jeder Ecke.
Entsetzen macht sich breit.
Noch einmal versucht er es. Das Funkgerät flackert kurz und verabschiedet sich mit einem kurzen Zischen in das technische Nirvana. Die Stille aus den Kopfhörern fühlt sich an wie der Blick in einen bodenlosen Abgrund. Fast wird ihm schwindelig und instinktiv greift er nach den Lehnen seines Sitzes. Sein Gehirn kann nicht klar denken, es ist wie gelähmt. Aus seiner Brust spürt er eine Leere aufsteigen, die ihm den Atem raubt. Schlagartig wird im in voller Klarheit und eisiger Logik bewusst, wie ALLEIN er ist.
Und das ist der Moment, in dem Chris merkt, dass er verloren ist.
Diesen Augenblick wollen wir nicht erleben.
Vielleicht nimmst du dir kurz Zeit und stellst dir vor, du wärest Chris. Kannst du dich in ihn hineinversetzen? In seine Situation? Mal dir das mal richtig aus. Wenn du das hinbekommst, dann wirst du ansatzweise dieses bodenlose Entsetzen spüren können: die Erkenntnis der Verlorenheit.
Ich glaube, wir können uns kein Bild davon machen, wie entsetzlich es sein muss, wenn wir tatsächlich von Gott getrennt sein. Wenn unser Funkgerät unwiderruflich kaputt ist … wenn wir wirklich verloren sind.
Jörg „wird schwindelig bei dem Gedanken“ Peters