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Thalaris Almanach - Buch 1: Oylien

Teil 21 - Wanderschaft

Meleya wanderte durch die Seidengrasebene des südlichen Grünlandes. Ihr Weg sollte sie von den Stämmen der Wyldlinge zur ersten Stadt des Ehernen Rates führen. Tharios war ihr Ziel, jenes Zentrum des Friedens, welches nach der Fügung dafür gesorgt hatte, dass die Kämpfe unter den Geretteten aufhörten.

Sie wollte die Gilde der Entdecker besuchen, eine Gruppierung, die den Ean’Shin ähnlich war. Außerdem hoffte sie, dass ihr Kartenmaterial dann aktueller werden würde. Die Mechanik hatte, als sie aussetzte, keine neuen Informationen hinterlassen und jetzt fiel es ihr schwer, alles von Hand zu erfassen.

Tharios, die Stadt der Zwerge. Sie hatte nie einen leibhaftig gesehen, kannte sie nur aus Erzählungen und von Zeichnungen, welche die Ean’Shin angefertigt hatten. Eines einte jedoch alle: Über die Zwerge wurde nur Gutes erzählt. Tharios bot Meleya auch eine andere Möglichkeit: Sie erhoffte sich Auskunft über den Verbleib von Tix Nordrang, dem Enkel ihres alten Freundes. Mit diesem Vorhaben im Gepäck, war sie losmarschiert, hatte die Adraxias-Schlucht durchquert, bei Tag wohlgemerkt, gelangte anschließend in das Grünland und erfreute sich der Schönheit dieses Reiseabschnittes. Nicht, ohne das Gefühl loszuwerden, dass sie verfolgt wurde. Für sie, Meleya Vorkas, war diese Tatsache nicht unbedingt beunruhigend, war sie doch versiert im Kampf und der Elementumbeherrschung, doch Freude macht eine Reise auf diese Art nicht.

Seelenruhig schritt sie durch das kniehohe, seidige Grase, welches sich im Wind leicht bewegte und einen Duft nach Honig und Triantel verströmte. Die kleinen, fedrigen Knollen an der Spitze fingen das Licht des Morgensterns ein und schimmerten golden. Die Grünlande gehörten, so hatte sie auf ihrer Reise bisher stets gehört, zu den schönsten Gebieten der Fügung. Einheimische nannten diese Ländereien Ellurian, nach Tiasina Ellura, der Gründerin Tharios’. Heldin tausender Kämpfe und Vermittlerin zwischen den alten Stämmen der Zwerge. Ellurian setzte sich aus dem nördlichen und dem südlichen Grünland zusammen, getrennt durch den Tiefenwald. Meleya wusste aus Aufzeichnungen eines fähigen Entdeckers, Paunus Federschwinger, dass an dieses Land jene Länder der Elfen, der Ketashi und der Belghys grenzten.

Sie genoss die Wärme und das Licht des Morgensterns. Ruphart nannte diesen in seiner Welt Sonne. Doch ihr gefiel Morgenstern oder Tagstern besser. Der Wald zu ihrer Linken erwachte, während in den sanften Hügeln der Ebene emsig schwirrende Insekten ihre Futtersuche begannen und vereinzelt Hasen zu sehen waren. Tiere und Pflanzen waren seit vier Umläufen ihre einzigen Begleiter. Meleya gefiel das, hatte sie zeit ihres Lebens genug mit anderen Leuten zu tun gehabt, die alle ihre eigene Agenda verfolgten. Selbst als der Fürst begann, Dinge zu zerstören.

Sie entschied sich für eine Rast, da ihr Ziel einige Umläufe entfernt war. Näher am Waldrand, unter einem Firr-Nadler sitzend, beobachtete sie das Treiben um sich herum. Etwas Fladenbrot, etwas Käse und ein Schluck von dem zuletzt gesammelten kühlen Quellwasser, das war alles, was sie im Moment benötigte. Eine Wollbiene summte an ihr vorbei, der Körper so groß wie eine Kinderfaust, bedeckt mit feinem weißem Flaum. Wenn sich diese Insekten an die Spitze eines Seidengrashalms setzten, unterschieden sie sich kaum von den anderen. Meleya mochte den Honig dieser Bienen. Er war samtig, schmeckte nach frischer Luft und galt in weiten Teilen der neuen Welt als Medizin.

Ihre Gedanken schweiften ab, hin zu den Schrecken der Vergangenheit, jene an die sie sich erinnerte. Nach wie vor bereitete ihr die Aussage von Heyla, Vytana und Oralf Probleme. Sie konnte sich tatsächlich nicht erinnern, wie lange sie unterwegs war, geschweige denn, wie alt sie sein müsste. Die Dunkelheit in ihrem Inneren überlagerte vieles, nicht aber die Erinnerungen an ihre Freunde. Deshalb griff sie zum Almanach, der ihr oft Halt gab und half, Geschehnisse einzuordnen. Sie blätterte darin und sah die Zeichnungen von Erish Nordrang, Luiana, Yar’thina und Robarn. Bei Letzterem musste sie lächeln. Dieser Dieb hatte es in kürzester Zeit geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie hatte es nie bereut.

Wie viele davon hatte sie verloren? Sie blätterte weiter. Da waren Walis der Krummbeinige, Nim und Drak, Opher und Nifar die Sandläufer. Wie viele hatte sie vergessen? Eine Träne rann an ihrer Wange hinab. Meleya schniefte und wischte sich das Gesicht ab. Ein weiterer Schluck Wasser, dann schob sie die Düsternis in ihren Gedanken beiseite. Der Almanach verschwand in ihrer Tasche. Sie erhob sich, streckte ihre Glieder und wollte ihre Sachen packen, als ihr etwas auffiel: Sie wusste nun, woher das unbestimmte Gefühl rührte.

Ja, sie wurde verfolgt. Ganz sicher. Und das recht lang. Wie konnte ihr das entgangen sein? Seit einer ganzen Weile hörte sie keinen Vogel. Kein Wildtier brach durch das Unterholz. Bis auf die Insekten und einzelne Hasen war es still. Zu still.

Meleya griff in ihren Rücken, wollte eines ihrer Messer in die Hand bekommen, als ein Schatten von rechts auf sie zuschoss. Bevor sie den Arm heben konnte, knurrte der Schatten und schlug ihr heftig gegen den Kopf. Geschnatter im Hintergrund, die Welt kippte seitwärts. Sie stemmte sich gegen den Nebel der Besinnungslosigkeit, sah haarige Beine, die in langen Pfoten endeten. Hörte wieder dieser Geschnatter, seltsam vertraut und doch fremd. Ein weiterer, sanfterer Schlag und alles wurde schwarz.

Zwei Gestalten standen über der Frau. Eine klein, kaum an das Knie der anderen reichend, die andere riesenhaft. Beide unter langen Umhängen verborgen. Sie sammelten den Besitz der Frau ein. Der Riese warf sich ihren Körper über die Schulter und marschierte, unter aufgeregtem Geschnatter des kleineren Wesens, davon.

Das Seidengras in dem Meleya gesessen hatte, richtete sich wieder auf. Von dem Geschehen war keine Spur mehr zu sehen.

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