Mit 23 und Zigarre
Eine Geschichte zum Bild. Das Bild einer Migrantin, die mit 19 nach Deutschland kam.
Sie sitzt in der Nachmittagssonne im zweiten Stock eines denkmalgeschützten Grindelhochhauses in Hamburg Eimsbüttel. Die Sonne scheint direkt durchs Fenster und wirft einen harten Schatten auf ihr Gesicht. Die Luft ist voll mit würzigem Zigarrengeruch.
Sie schaut verträumt in eine analoge Kamera, hinter der sich ihr erster deutscher Freund befindet … und gleich wird sie husten, weil sie vergessen hat, dass man Zigarren nicht auf Lunge raucht. Hinter ihrem Blick verbergen sich Träume aus Filmen und Musikvideos, die sie gern schaut. Geschichten aus den Texten ihrer Lieblingsbands, Lieblingbüchern oder aus Bildern und Fotos, die sie je gesehen hat.
Ihre Strickjacke ist aus einem Second-Hand-Laden und ihr T-Shirt von H&M. Sie hatte vor ein Paar Jahren ihre erste Scheidung hinter sich. Irgendwann später kommt die zweite … ein Studium, Reisen, Lernen, Schreiben, Zeichnen, Weinen, Lachen, Kickern, Tanzen, Arbeit, Kind, Kämpfen, Leben.
Dabei vergisst sie völlig die Gegenwart. Jetzt schaut sie sich mit 42 auf diesem Bild an. Sie fragt sich, was habe ich damals gemacht? Womit habe ich meine Zeit verbracht? Warum habe ich diesen Augenblick nicht genießen, nicht schätzen können?
Sie hätte auch in Kuba sein können, oder in Russland, in Kasachstan oder in Israel, in der Türkei oder in Tunesien. Überall jagen junge Menschen nach Träumen aus irgendwelchen Geschichten und vergessen dabei sich selbst.
Ihr deutscher Freund ist 10 Jahre älter. Er bringt ihr bei, eine talentierte Künstlerin zu sein, Jazz zu hören und Zigarren zu rauchen. Er macht sie für sie selbst sichtbar – auch mit diesem Foto. Er nimmt sie richtig an die Hand ... und genau das wird der Grund für ihre Trennung sein. Um selbst Laufen zu lernen, muss sie die Hand los lassen.
Freud hätte bestimmt seinen Spaß an der Geschichte und ich wünsche Dir viel Freude mit dem Bild.
Tschüss, bis nächste Woche!
Julia Zeichenkind
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