Eine sensationelle Debatte von Harris
Liebe Leser:innen,
nach anderthalb Wochen in Europa bin ich gestern Nachmittag pünktlich zur Debatte wieder in New York gelandet. Als ich dem Immigration Officer sagte, ich sei Journalist und werde die Debatte covern, antwortete er: „Oh, bist Du auch Comedian? Das Ding wird ja wohl ein Scherz.” – Welcome home!
Ich saß dann mit rund 150 Manhattan Democrats in einer Bar zum Public Viewing, die Stimmung war ausgelassen und wurde immer besser. Schauen wir also heute, was die Debatte wohl für Folgen haben wird und wieso genau ich der Meinung bin, dass Harris eine sensationelle Leistung gelungen ist.
Let's go.
VERSTEHEN
Warum Harris Debattenleistung perfekt war
Laut ersten Zahlen der Marktforschung von Nielsen lagen die Einschaltquoten um 28 Prozent über denen der Debatte von Trump und Biden – damit wären wir bei rund 65 Millionen Zuschauer:innen daheim. Das beinhaltet nicht die vielen Millionen, die heute und in den kommenden Tagen Ausschnitte online sehen oder die in Bars und bei Freunden geschaut haben.
Es ist kein weiterer Moment absehbar, in dem so viele Menschen gleichzeitig irgendeinen Teil des Wahlkampfs verfolgen werden.
Jede Sekunde zählt also, am Ende hat Trump laut CNN (Si apre in una nuova finestra) 42 Minuten und 52 Sekunden gesprochen, Harris 37 Minuten und 36 Sekunden. Trump hat diese Zeit sensationell vergeudet und tapste immer wieder in die Fallen, (Si apre in una nuova finestra) die ihm Harris stellte – dem Mann ist einfach nicht zu helfen.
Trump hat seine Zeit verschwendet – und nur einen einzigen klugen Punkt gemacht
Der Ex-Präsident verschwendete Minute um Minute mit Themen und Ansichten, zu denen ihm die Wähler in Umfragen schon häufig schlechte Noten ausgestellt haben.
Er verlor sich in langem Wehklagen über seine Lügen, dass in Wahrheit er die Wahl 2020 gegen Joe Biden gewonnen habe.
Er behauptete, dass sein Verhalten beim Kapitolsturm am 6. Januar nicht zu einer Eskalation beigtragen habe.
Er verteidigte seine Entscheidung, Ende der 1980er in einer ganzseitigen Anzeige der New York Times die Todesstrafe für fünf schwarze Mordverdächtige gefordert zu haben, die sich später als unschuldig herausstellten.
Er palaverte, Harris setze sich für „transgender operations on illegal aliens in prisons” („transgender Geschlechtsangleichungen für illegale Flüchtlinge in Gefängnissen”) ein – ein Rechtsextremen-Buzzword-Satz, der einem schon beim Gedanken an ein Trinkspiel betrunken macht.
Und er wiederholte den rassistischen Internet-Mythos, wonach es in Cleveland Flüchtlinge aus Haiti gebe, die Haustiere stehlen und essen. An dieser Stelle wurde es sogar Moderator David Muir zu bunt und er ergänzte, dass den Sicherheitsbehörden vor Ort keinerlei solche Berichte vorlägen.
Besonders schlimm war sein Aufruhr, als Harris sich darüber amüsierte, dass angeblich die Zuschauer bei Trumps Reden vorzeitig das Publikum verlassen. Während Harris spürbar faktensicher argumentierte, antwortete Trump auf die Frage, warum er nach neun Jahren immer noch keinen Plan für eine Gesundheitsreform vorgelegt habe, er habe „das Konzept eines Plans“.
Erst in seiner Schlussbemerkung gelang Trump ein wichtiger Punkt, der nun zwar unwidersprochen in der Landschaft steht, aber eben auch zu einem Zeitpunkt kam, als sich alle Zusehenden sicher längst ein Bild verschafft hatten. In Richtung Harris fragte er, warum sie denn nicht all die schönen Pläne schon in den vergangenen dreieinhalb Jahren umgesetzt habe.
Zugegeben, seinem Kernklientel könnte der aggressive Auftritt gefallen haben – Trump hat gestern aber wieder nichts getan, um neue Wähler:innen hinzuzugewinnen.
Harris gelang eine Meisterleistung
Harris dagegen gelang eine fantastisch vorbereitete und ausgeführte Debatte. Sowohl im Strategischen als auch im Operativen war das eine Masterclass.
Strategisch war es spürbar, wie die Demokratin eine Balance zwischen Attacke gegen ihn und Darstellung ihrer selbst geplant hatte und fand.
Sie stellte sich mit biografischen Details und Aussagen zu ihren Werten jenen US-Amerikanern vor, die immer noch sagen, dass sie zu wenig über die 59-Jährige wissen.
Sie zählte schnell und präzise eigene Politikziele zur Unterstützung der Mittelschicht auf und unterfütterte ihre klare Rhetorik mit Zahlen und Beispielen.
Gleichzeitig reizte sie ihn wieder und wieder, ohne auf Trumps plumpe Sticheleien einzugehen.
Inhaltlich ist sie die Realpolitik-Kandidatin, die sie nunmal ist: In Immigrationsfragen mit Plänen für stärkeren Grenzschutz nach rechts gerückt, zu Gaza mit einer ausweichenden Wachsantwort, ohne Details, wie genau ihr Wohnungsbauprogramm funktionieren soll und mit kaum erkennbaren Mittel- oder Langfristplänen zum Klimaschutz oder einer Krankenversicherung für alle. Gut möglich, dass ihre Präsidentschaft in solchen Fragen die progressiven Good-Vibes-Wahlkämpfer:innen enttäuschen wird – vorher hat sie aber erst einmal eine Wahl zu gewinnen und mit vielen dieser Programmpunkte würde sie Wähler:innen der Mitte verprellen.
Operativ war vieles geschliffen und hat so smart auskopplungsfähig funktioniert, dass im Kopf jeder Social-Media-Profi applaudiert haben dürfte. Selbst beiläufige Vorwürfe wie „you adore strongmen instead of caring about democracy” („Sie verehren starke Männer anstatt sich um Demokratie zu kümmern”) hatten eine leise und schnörkellose Präzision, die nur durch extrem gute Vorbereitung entsteht.
Von dem schönen Moment (Si apre in una nuova finestra) ganz zu schweigen, in dem sie mit langer Pause und Runterschlucken einer Ergänzung sagte: „And this … … … former President”.
In der Stille lag ein ganzer „Motherfucker”.
VORAUSSCHAUEN
Am Montag beginnt Early Voting in Pennsylvania
Pennsylvania gilt als der wichtigste Schlüsselstaat zum Wahlsieg – und dort geht schon am Montag die aktive Vorab-Stimmabgabe in Wahllokalen los. Das sogenannte Early Voting startet am 16. September. Es folgen noch in diesem Monat Minnesota und Virginia ab dem 20. , Vermont vom 21. an und Illinois ab dem 26. September – allesamt sichere Demokraten-Staaten.
Mehrere Bundesstaaten (Si apre in una nuova finestra) haben außerdem bereits mit dem Versand von Briefwahlunterlagen begonnen, den sogenannten Mail-in-ballots. Damit läuft schon jetzt die Präsidentschaftswahl, auch wenn der tatsächliche Wahltag erst der 5. November ist. Im Pandemie-Jahr 2020 gaben rund 100 Millionen Menschen ihre Stimme per Brief oder vorab ab. Insgesamt gingen 158,4 Millionen Stimmen ein.
VERTIEFEN
Wieso ist Taylor Swift eigentlich so wichtig?
Wenige Minuten nach der TV-Debatte hat der größte Star der Welt Kamala Harris empfohlen. Taylor Swifts Instagram (Si apre in una nuova finestra)-Endorsement könnte gerade bei Jüngeren einen Unterschied machen, die sonst vielleicht zuhause bleiben würden oder verpasst hätten, sich für die Wahl zu registrieren.
Ich muss zugeben, dass mir der Swift-Hype weiter etwas fremd ist.
Nie aber habe ich das Phänomen so gut verstanden wie im NYT-Porträt von Taffy Brodesser-Akner, der besten Promiporträt-Schreiberin der Vereinigten Staaten.
https://www.nytimes.com/2023/10/12/magazine/taylor-swift-eras-tour.html (Si apre in una nuova finestra)ANDERSWO
Neue Arbeit von mir an anderer Stelle
Frisch auf dem Tisch liegt die neue Folge vom Podcast „Bei Burger und Bier“ (Si apre in una nuova finestra) von Bastian Hartig und mir. Darin blicken wir in der Tiefe auf Immigration und Einwanderung und was genau die beiden Kandidaten dazu planen. Morgen nehmen wir eine Sonderepisode mit einigen Gedanken zur Debatte auf.
https://burgerundbeer.podbean.com/e/nach-dem-demokraten-parteitag-wieso-der-harris-hype-weitergeht/ (Si apre in una nuova finestra)Beim RND (Si apre in una nuova finestra) habe ich einen Faktencheck zu Debatten-Aussagen von Harris und Trump geschrieben. CNN kam auf mehr als 30 Lügen für Trump und nur eine für Harris.
Damit blickt hoffnungsvoll in Richtung Sonntag – dann ist schon wieder ESC-Party in New York (Si apre in una nuova finestra)!
Best from NYC,
Christian
PS: Solltet ihr „WTH, America“ von Freundin oder Feind weitergeleitet bekommen haben, könnt ihr selbst hier den