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Moralisch ist, hartherzig zu sein

Wie der Konservatismus mit dem Rechtsextremismus zusammen wuchs.

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Neokonservative, andere Neu-Rechte und rechtsextreme Anschauungen und Rhetoriken sind in den westlichen Gesellschaften zu einem relevanten Block geworden, und in manchen Nationen sogar dominant. In meinem Buch “Politik der Paranoia” habe ich mich schon 2009 mit diesen Denktraditionen beschäftigt. Eine Urgeschichte der zeitgenössischen rechten Welle, die sich im Rückblick aktuell und erschreckend zugleich liest. Hier ein längerer Auszug aus dem ersten Kapitel:

Alles ist fürchterlich. „Sozialdemokratie und Feminismus haben die klassische Familie endgültig entheiligt und dagegen ist kein Rollback möglich“, klagt Norbert Bolz, Medienphilosoph an der Freien Universität Berlin. Sexuelle Freizügigkeit, antiautoritäre Erziehung, arbeitende Frauen, Homosexuelle in Hollywood, die Achtundsechziger, der Wohlfahrtsstaat, die Pille, all das habe der guten alten Familie den Garaus gemacht, so der Denker, der in den achtziger Jahren noch ein großer Zampano in den linken Zellen der FU war – und irgendwann steil nach rechts außen abgedriftet ist. Die klassische Rollenverteilung mache aus Frauen maskulinisierte Emanzen, so Bolz, und aus dem einstmals starken Geschlecht den „feminisierten Mann“. Abtrainiert würde den Burschen die Männlichkeit schon im Kindesalter, und zwar von einem Schulsystem, in dem, horribile dictu, die Lehrerinnen das Sagen haben und das deshalb „weibliches Verhalten belohnt“. Eine große Tragödie ist das natürlich sowohl für Männer und Frauen, weil „Rollenambiguität“ unglücklich macht. Bolz: „Es kann nicht überraschen, dass in kulturrevolutionären Kreisen Schwangerschaft zunehmend als Behinderung behandelt wird.“ Und: „Es gibt keine tiefer angelegte Analyse zu unserem Thema als die von Oswald Spengler in seinem Hauptwerk über den Untergang des Abendlandes.“

Dabei gab’s zu Spenglers Zeiten noch nicht einmal Pille und Fernsehen.

Aber Bolz ist nur ein Virtuose in einem vielstimmigen Lamento. Nirgendwo mehr Familiensinn, nirgendwo mehr Leistungswille, nirgendwo mehr Manieren, nirgendwo werden mehr die Tugenden des freien Unternehmertums geachtet, schallt es aus einer kaum mehr übersehbaren konservativen Publizistik. Keine Talkshow, in der nicht der „Werteverlust“ beklagt wird, keine Wortmeldung zur Integrationspolitik, wo es nicht um die „Leitkultur“ ginge und darum, dass wir „unsere“ Werte gegen „sie“ verteidigen müssten – „sie“, das sind die Anderen, die anders sind als „wir“. In schrillen Tönen wird zur Verteidigung einer abstrakten westlichen „Freiheitskultur“ aufgerufen, nicht ohne dass die konkreten Erscheinungen dieser „Freiheit“ gegeißelt werden – der Hedonismus oder das Anything-Goes-Prinzip, die Idee also, dass jeder Tun könne, wozu er lustig ist, sofern er niemandem damit Schaden zufügt, oder die Toleranz gegenüber anderen Lebensstilen und Kulturen.

„An die Verächtlichmachung des christlichen Bekenntnisses, an die Verhöhnung des Papstes, an die Beschimpfung der Familie und die Beschmutzung nationaler Symbole haben wir uns bestens gewöhnt und all das für ‚Fortschritt’ gehalten“, schreibt Udo di Fabio in seinem neukonservativen Manifest „Die Kultur der Freiheit“. Immer seltener dagegen werden in unserer hedonistischen Freizeitgesellschaft Menschen, die wissen, was sich gehört, grämt sich di Fabio, zeitweise im bürgerlichen Beruf Richter am deutschen Verfassungsgericht. Di Fabio sieht sich um in unserer Gesellschaft, und was sieht er da? Nichts als „Menschen, die bei der Wahl ihrer Kleidung, in der Art, wie sie speisen oder wie sie reden, inzwischen wieder dem Niveau vorkultureller Zeit zuzustreben scheinen“. Das Abstreifen „bürgerlicher Gesittung“ wurde als Befreiungstat gefeiert, schüttelt es di Fabio, und angesichts des Konsenses, dass jedem Lebensstil Respekt entgegenzubringen sei, dürfe man Menschen, die schlürfen und rülpsen, in der U-Bahn Bier trinken, ein ausschweifendes Sexualleben pflegen, Messer und Gabel falsch halten oder sich morgens nicht kämmen nicht einmal mehr Missachtung entgegenbringen. Stattdessen überall die „Politische Correctheit“, die die schönsten Dinge im Leben zerstört: „Der prickelnde Unterschied von Frauen und Männern wird geleugnet und unter Diskriminierungsverdacht gestellt.“

Es mäandert weiter in diesem Ton. „Kultur der Freiheit“ heißt die Fibel nicht etwa deshalb, weil di Fabio das verteidigen würde, was man so gemeinhin unter Freiheit versteht, sondern weil der Richter ein Plädoyer für die „individuelle Freiheit zur nützlichen sozialen Bindung“ hält. Freiheit heißt für di Fabio, dass jeder die Freiheit haben soll, so zu leben, wie sich das der Udo die Fabio wünscht.

Werte stehen wieder hoch im Kurs. Eva Hermann propagiert die Mutterkreuz-Mütterlichkeit, und Fernsehprediger Peter Hahne gibt den Sinnstifter für alle, die nur Soundbytes verdauen können. Kurzum: Ein neuer Konservativismus macht sich breit.

Der ist zwar nicht in dem Sinne neu, als dass er nicht in das Klagelied einfiele, das Konservative seit jeher anstimmen. Aber er ist auf seltsame Weise schrill, schneidig, ja paranoid. Er muss den Werteverfall in den grellsten Farben schildern. Welche Probleme es in unserer Gesellschaft auch immer geben möge, die Autoren der neukonservativen Jeremiaden müssen sie stets besonders drastisch ausmalen. Der kleinste Nonkonformismus hat mindestens den Untergang des Abendlandes zur Folge und Wertepluralismus mündet in Handumdrehen in verderblichen Nihilismus. Wenn etwas den neuen Konservativismus auszeichnet, dann ist das eine überspannte Krisensemantik, dann sind das diese überhitzten Untergangsphantasien, die paranoide Angstlust vor dem absoluten Bösen, das sich breit mache in unseren modernen Gesellschaften. Der Konservative fühlt sich maximal bedroht.

Dabei widerspricht sich der Konservative so herzerweichend, dass es oft richtiggehend drollig ist. Der totale Werteverfall wird beklagt, oft aber nur ein paar Sätze weiter in Richtung muslimischer Einwanderercommunities herrisch eingefordert, „sie“ müssten sich zu „unseren“ Werten bekennen. Nur, bitteschön, wie soll das gehen? „Sie“ sollen sich zu etwas bekennen, was „wir“ verloren haben? Das Emanzipationsbestreben der Frauen wird als Ausweis des Werteverfalls gesehen, dann aber wird die Gleichberechtigung der Frau als einer jener Werte angepriesen, den Einwanderer aus patriachaleren Kulturen unbedingt akzeptieren müssen. Mal ist der Feminismus also eine Bedrohung der westlichen Kultur, dann wieder integraler Bestandteil derselben. So schrill, wie der Neukonservativismus die alten Werte beschwört, so grell malt er deren Verfall, was schon ein bisschen unlogisch ist, wie auch denkfähigeren Neokonservativen auffällt. Der amerikanische Autor Tod Lindberg etwa merkte an, dass seine Mitstreiter eine „Remoralisierung“ fordern, „obwohl es andererseits recht schwer fällt zu sagen, ob die neokonservative Kritik theoretisch etwas anderes als einen endgültigen Verfall in Betracht ziehen“ könnte. Die Liste solcher Kuriositäten ließe sich endlos fortsetzen.

Der neue Konservativismus ist erratisch und ideologisch zugleich. Erratisch, weil er aus einem Sammelsurium an Meinungen besteht, die sich stets widersprechen, ideologisch, weil er diese Meinungen wie Gewissheiten vor sich herträgt, mit der Schneidigkeit des Revolutionärs, der eine letztgültige Wahrheit entdeckt hat. Das ist es, was den neuen Konservativen von den Konservativen alten Schlages unterscheidet. Der klassische Konservativismus war vergleichsweise aus einem Guss. Er wurzelte eher im Feudalismus und im Kleingewerbetum und stand dem Kapitalismus skeptisch gegenüber, er war mit den traditionellen Mächten verbunden, hielt zu Kaiser, König, Fürsten und war ein Gegner der Demokratie. Er favorisierte in allen Lebensbereichen eher die Kräfte des Beharrens als die des Wandels, und wenn er die Parole „Freiheit“ hörte, dann versetzte er seine Kanoniere in Alarmzustand. Er war elitär und verachtete die Plebejer ebenso wie die Geschäftemacher. Der klassische Konservative misstraute den Ideologien und betrachtete die großen Ideen von Weltverbesserung und Fortschritt als Gefahr. Er sah im Vertrauten das Gute und wollte es nicht auf’s Spiel setzen für ein phantasiertes Besseres. Seine Vertreter waren Skeptiker und der Meinung, man könne zu vieles nicht wissen, als dass man für Ideen alles riskieren dürfe. Ohnehin sei der Mensch ein Wesen aus krummem Holz, und alle Versuche, die menschliche Gesellschaft zu perfektionieren, seien zum Scheitern verurteilt – ja, schlimmer noch, jeder solche Versuch müsse nach hinten losgehen. Bewährte Institutionen, mögen sie auch an allen Ecken knirschen und knarren, hätten in ihren Augen wenigstens ihre Funktionstüchtigkeit bewiesen. In ihnen würde eine Art kollektive Weisheit stecken, waren sie überzeugt, und auch wenn wir die nicht vollständig zu verstehen vermögen, dann liegt das weniger an einem Defekt der Institutionen, sondern mehr an unserer Beschränktheit. Der klassische Konservative war eher auf der Seite der „Realität“ als dass er an dieser, eines Idealbildes wegen, verzweifelt wäre. Er war von einer Art prinzipiellen Prinzipienlosigkeit, was nicht heißt, dass der Konservative keine Überzeugungen gehabt hätte, aber eine fundamentale konservative Utopie, die gegen die Wirklichkeit gestellt würde, war im hergebrachten Konservativismus schlicht ein Unding. In der klassischen Definition des Soziologen Karl Mannheim könne es eine konservative Theorie im strengen Sinne nicht geben, weil der Konservative sich an das Vorhandene klammere. Konservativismus ist, so gesehen, die Negation aller Ideologie. „Konservative grenzen sich ihrem eigenen Verständnis nach seit jeher von anderen dadurch ab, dass sie keine Gesellschaftstheorien entwerfen oder diese gar in die Praxis umzusetzen versuchen“, schreibt der kanadische Philosoph Ted Honderich in seinem Buch „Das Elend des Konservativismus“, „sie behaupten, Theorien könnten ein so komplexes System, wie die Gesellschaft es ist, nicht angemessen erfassen“. Statt sich von Ideen leiten zu lassen, sollte man sich eher nach der „erworbenen politischen Einsicht der Gesellschaft“ richten. Wertvoll sei, was sich „in der Zeit“ bewährt habe.

Der traditionelle Konservativismus war also von einem spezifischen Kontext geprägt: In einer vormodernen Gesellschaft stemmte er sich gegen die aufblühende Moderne. Die Gesellschaft war noch rückständig verfasst – traditionell, undemokratisch, elitär –, doch die neuen Ideen forderten sie bereits heraus. Aber nicht nur demokratische Forderungen bedrohten die hergebrachte Gesellschaft, auch soziologische Veränderungen. Die Massengesellschaft, die industrielle Revolution, eine frühe Konsumkultur, der Aufstieg der unteren Schichten – verächtlich Pöbel genannt – zu bescheidenem Wohlstand, die Verbreiterung von Wissen und Bildung; all das zersetzte die hergebrachte Ordnung. Aber der Konservativismus wollte sie, so weit wie möglich, verteidigen. Als dies nicht mehr möglich war, setzte der Konservativismus oft auf Restauration. Er wollte das Rad zurückdrehen. Er wollte die gute alte Zeit wieder haben. Er wollte sich mit der liberalen bürgerlich-demokratischen Gesellschaft mit ihrem allgemeinen Wahlrecht nicht abfinden, er wollte die Partizipationsansprüche der – einstmals – plebejischen Schichten nicht akzeptieren, aber auch nicht den Wirbelwind des Wandels, für den der Kapitalismus sorgte.

Der neue Konservativismus ist in einigen, aber doch entscheidenden Nuancen anders. Der neue Konservativismus agiert schon auf dem Boden der bürgerlichen Moderne. Schließlich sind wir mittlerweile im 21. Jahrhundert – da kann man nur mehr schwer nostalgisch vorkapitalistischen Zeiten anhängen. Aber das stellt den neuen Konservativismus vor ein Dilemma. Er tritt einerseits als Anhänger „kapitalistischer“ Tugenden auf – etwa des Risikogeistes des Entrepreneurs, der Eigenverantwortung des unternehmerischen Individuums, des Wettbewerbsgeistes, demzufolge ein jeder seines Glückes Schmied sei und jeder auf sich allein gestellt sehen solle, wo er bleibe. Andererseits wendet er sich angewidert ab von der konsumistischen Zivilisation, die dieser Kapitalismus notgedrungen schafft, der alles zur Ware macht und jeden Spleen und jeden Trend noch in eine Geschäftsmöglichkeit verwandelt. Der neue Konservativismus ist also, kurzum, eine Abwehr gegen den Hedonismus der kapitalistischen Konsumkultur – aber auf Basis dieser kapitalistischen Konsumkultur. Alleine das bürgt für eine ganze Reihe abstruser Widersprüchlichkeiten.

Schon vor mehr als dreißig Jahren schrieb der Frankfurter Soziologe Helmut Dubiel in seinem schmalen Bändchen „Was ist Neokonservativismus?“ über dieses erstaunliche Phänomen: Der neue Konservativismus ist „nicht neu im Sinne von Einsicht, die zuvor noch niemand hatte. Der Neokonservativismus ist eine Reaktionsbildung.“ Dieser neue Konservativismus steht „auf dem Legitimationsboden eben dieser bürgerlichen Gesellschaft“. Dubiel hatte ein Phänomen vor Augen, das seit den sechziger Jahren die politische Diskurslage in den USA – und Großbritannien – signifikant verändert hat, aber in anderen Teilen der Welt, namentlich Kontinentaleuropa, noch weitgehend exotisch war: das des Neokonservativismus. Unter diesem Namen wurde eine amerikanische politisch-intellektuelle Strömung bekannt, die seither zum Bezugspunkt und Vorbild aller Konservativer wurde, die mit Schärfe und einigermaßen argumentativ aufgerüstet gegen den Zeitgeist vorgehen wollen.

Hierzulande sind diese „Neokons“ mittlerweile auch dem breiteren Publikum bekannt, weil sie es waren, die George W. Bush’ aggressive Außenpolitik orchestrierten und die Propagandatrommel für den Einmarsch im Irak rührten. Weniger bekannt ist, dass das ursprüngliche Terrain des Neokonservativismus nicht so sehr eine aggressive Außenpolitik war (wenn man vom Antikommunismus des Kalten Krieges absieht), sondern das der Kulturkritik und der Sozialpolitik. Es waren die späten fünfziger und dann die sechziger Jahre, in denen sich diese Strömung formierte. Anders als traditionelle Konservative, die sich eher als „praktische Männer“ sahen, vertrauten sie von Beginn an auf die Macht der Ideen. „Ideen haben Folgen, wenn auch auf mysteriösen Wegen“, schrieb Irving Kristol, eine der intellektuellen Gründerfiguren der Neocons. Der Konservativismus der Neocons war von Beginn an weniger skeptisch oder nostalgisch, sondern utopisch und vorwärtsgewandt. Kein Wunder, denn seine Leitfiguren kamen, so paradox das klingen mag, überwiegend aus der radikalen Linken. Kristol und Irving Podhoretz, der zweite Godfather der Neocons, waren in jungen Jahren Aktivisten einer trotzkistischen Splittergruppe, andere, wie der später zu Weltruhm gelangte Soziologe Daniel Bell waren gemäßigte Progressive. Allesamt waren sie als Linke Antistalinisten und entwickelten sich während der fünfziger Jahre zu strammen Antikommunisten. Gänzlich ins rechte Lager wurden sie aber erst in den sechziger Jahren getrieben. Einerseits durch das sozialreformerische Projekt von Präsident Johnson, das, „Great Society“ genannt, aus den USA einen Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung machen wollte, vor allem aber wegen des Aufstiegs der Gegenkultur, von Hippies, Künstlerboheme und Aussteigern. In den ungewaschenen Langhaarigen sahen sie nur mehr eine Pervertierung der linken Kultur, von der sie sich angewidert abwandten. Das Präfix „Neo“ vor Neokonservativ sagt schon aus, dass hier ein ganzes Milieu neu ins rechte Lager stieß. Aber sie waren nicht nur ehemalige Linke, die sich zu Konservativen wandelten, sondern sie wandelten auch den Konservativismus. Sie legten zwar ihre Überzeugungen ab, nicht aber ihren Habitus. Sie blieben in ihrer Mentalität Radikale.

„Das herausragende Ereignis dieser Epoche war die Studentenrevolte und der Aufstieg der Gegenkultur“, schreibt Kristol in seinem Rückblick auf diese Zeit. Kristol: „Von einer dissidenten Kultur über die Gegenkultur sind wir endgültig bei der nihilistischen Antikultur angekommen.“

Der drohende Nihilismus, der Relativismus und der Verfall aller Werte, dies war es, was zu Beginn an die Neocons in Schrecken versetzte. Aber als kluge und gebildete Leute wollten sie nicht einfach nur ressentimentgeladen über die Gegenwart herziehen – sie machten sich durchaus tiefschürfende Gedanken darüber, woher diese Probleme kommen. Und als Anhänger des liberalen kapitalistischen Systems der USA sahen sie sich schnell vor folgendem Dilemma: Es waren ja nicht die Gegner dieses Systems, die für den Verlust der Tugend verantwortlich waren. Es war ja dieses System selbst.

Der große geistige Übervater der Neokonservativen war der Philosoph Leo Strauss, ein deutsch-jüdischer Denker, der nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 zuerst nach England auswanderte, 1938 in die USA übersiedelte und zuletzt in Chicago von 1949 bis 1969 eine erstaunlich nachhaltige Lehrtätigkeit entfaltete. Über den Einfluss der Strauss-Schüler haben in den vergangenen Jahren, vor allem angesichts des Zugriffs der Neocons auf die Politik von George W. Bush, viele Verschwörungstheorien kursiert. Das US-Magazin „The New Republic“ nannte die Straussianer eine „der Top-Ten-Gangs des Millenniums“, der britische „Observer“ beförderte Strauss zum „Hohepriester der Ultrakonservativen“. Strauss, ein Verehrer der antiken Philosophie, war nicht nur von der Tugendhaftigkeit der Alten überzeugt, sondern auch von der Überlegenheit ihres Denkens. Er hatte eine Reihe philosophischer Überzeugungen, die auf den ersten Blick reichlich verschwurbelt anmuten – etwa, dass die Philosophie so gefährlich ist, dass sie für Aufruhr sorgen kann, und deshalb für das einfache Volk nicht geeignet sei. Die Alten hätten das gewusst und deshalb gewissermaßen zwischen den Zeilen geschrieben, um ihre Überzeugungen zu verbergen, weshalb man sie in etwa so lesen müsse, wie eine Presseerklärung aus dem Pentagon – man müsse lesen, was sie zu vertuschen suchten. In seinen Jugendtagen war der berüchtigte nationalkonservative Staatsrechtler Carl Schmitt der Förderer von Strauss. An ihn schrieb Strauss: „Weil der Mensch von Natur böse ist, darum braucht er Herrschaft. Herrschaft ist aber nur herzustellen, d.h. Menschen sind nur zu einigen in einer Einheit gegen - gegen andere Menschen. Jeder Zusammenschluss von Menschen ist notwendig ein Abschluss gegen andere Menschen.“

Freilich, Strauss, den manche für einen der größten Denker des 20. Jahrhunderts halten, war ein vielschichtiger Philosoph, ohne direkte politische Absichten – einem breiteren Publikum blieb der Mann, der vor allem die antiken Texte mit Akribie lesen wollte, Zeit seines Lebens ein Unbekannter. Erst seine Epigonen schlugen seine Ideen etwas grob mit der Axt zu. Andererseits: Vieles, was bei seinen Schülern etwas plump daher kommt, ist bei Strauss angelegt. Und dies gilt vor allem für seine Kritik an Werterelativismus und Nihilismus. „Die große Bedeutung, die Strauss für Konservative hat, beruht darauf, dass er den tiefsten philosophischen Nachweis dafür erbracht hat, was falsch am Liberalismus ist“, schreibt Robert Locke im Neocon-Kampfblatt „FrontPage“ . Der Liberalismus, jedenfalls wie er im 20. Jahrhundert in den hochentwickelten Ländern praktiziert würde, hat „eine intrinsische Tendenz zum Relativismus, der zum Nihilismus führt“.

Strauss war überzeugt, der Liberalismus, wie hehr seine Absichten auch sein mögen, sei schon ein Weg in den Abgrund. Denn dieser Liberalismus postuliere, dass es eine Vielzahl von Werten gibt, „deren Forderungen einander widersprechen und deren Konflikt durch menschliche Vernunft nicht gelöst werden kann. Die Sozialwissenschaft und die Sozialphilosophie können nicht mehr tun, als diesen Konflikt mit allen seinen Nebenwirkungen klarstellen“, schrieb Strauss. Und fuhr fort: „Ich behaupte, dass Webers These (von der Wertfreiheit der Wissenschaft beispielsweise) mit Notwendigkeit zum Nihilismus oder zu der Ansicht führt, dass die Vernunft außerstande ist, zwischen dem Bösen, Gemeinen oder Unsinnigen und deren Gegenteil zu entscheiden.“ Eine solche Ethik der „Wertfreiheit“ müsse, selbst wenn sie von den edelsten Motiven getragen ist, bindende Normen und moralische Imperative verwerfen. Sie sei sogar in sich unlogisch, monierte Strauss. Denn gewiss sei der „Nihilismus“ von Weber von edlerer Art als der gemeine Nihilismus eines Massenmörders, aber auch eine solche Charakterisierung könne man nur vornehmen, solange man ein Wissen darüber besitzt, was „edel“ und was „gemein“ ist – und ein solches Wissen könne die „Wertfreiheit“ gerade nicht bereit stellen . Strauss Pointe: „Wenn alle Werte relativ sind, dann ist der Kannibalismus eine Geschmacksfrage.“

Bleiben wir zunächst bei der Werterhetorik der neuen Konservativen, und widmen wir uns dieser einmal im Detail. Unter „Werten“, „Ethik“, „Tugenden“ verstehen wir spontan ja etwas, nunja, Freundliches. Unter jemanden, der von Werten geleitet wird, stellen wir uns jemanden vor, der, beispielsweise, alten Frauen über die Straße hilft, einem Gestolperten dabei unterstützt, wieder auf die Beine zu kommen, jemanden, der nicht nur seinen eigenen Vorteil sucht, sondern sich auch um das Geschick seiner Nächsten kümmert und so weiter. Jemanden, der Anderen mit Respekt begegnet, oder jemanden, dem eine solidarischere oder eine friedfertigere Welt ein Anliegen ist. Und nun stellen wir uns einen imaginären Konservativen vor: Treffen diese Charakteristika in aller Regel oder zumindest häufig auf konservative Politiker und Ideologen zu? Sind das die Werte, die sie propagieren, für deren Verbreitung sie sich einsetzen?

Nun, um das zurückhaltend zu formulieren: Nicht immer. Nicht oft.

Aber was meinen Konservative dann, wenn sie von Werten sprechen und wie ist dieses Meinen mit den politischen Auffassungen verbunden, die sie in aller Regel äußern? Betrachten wir, beispielsweise, eine politische Überzeugung, die praktisch von allen neuen Konservativen vertreten wird. Der Sozialstaat knüpfe ein viel zu dichtes Netz, sodass die sozialen Sicherheitsmaßnahmen nicht nur zu teuer, sondern auch kontraproduktiv seien. Man solle daher den Armen die Stütze kürzen oder ganz streichen. Für alle anderen Menschen, außer für Neokonservative und hartleibige Wirtschaftsliberale, ist das hartherzig – und Hartherzigkeit ist keine Tugend. Aber für Konservative ist es eine Kleinigkeit, solche Hartherzigkeit im Handumdrehen in eine Tugend zu verwandeln. Führen wir das an einem Beispiel aus, das zentral und wirklich exemplarisch ist für das, was die neuen Konservativen unter moralischer Politik verstehen.

Die Geschichte geht so: Konservative sind der Meinung, dass die Familie sehr wichtig ist. Sie ist der beste Platz, um als Kind aufzuwachsen, und sie ist ein wichtiger stabilisierender Faktor einer Gesellschaft. Aber für sie ist die Familie, mit Daddy, Mama und Kindern nicht so sehr ein Ort der Fürsorge füreinander, sondern ein ökonomischer Mikroorganismus. Ein guter Vater ist nicht jemand, der mit seinen Kindern spielt oder ihnen sagt, dass er sie liebt, ein guter Vater ist einer, der arbeiten geht, um seine Kinder zu ernähren. „Ein guter Vater hat zwei Eigenschaften. Erstens, er ist einfach da, als loyales Mitglied des Haushalts. Zweites ernährt er seine Familie“, meint Irving Kristol. „Die Tatsache, dass seine Frau möglicherweise auch arbeitet, sei es Teilzeit, so es Vollzeit, ist irrelevant. Denn sie darf arbeiten, aber er muss arbeiten, weil Vaterschaft und arbeiten sind dasselbe. Ob er seine Freizeit mit ihnen verbringt oder sie umsorgt, ob er sie liebt, das ist weit weniger wichtig.“ Wichtig ist nämlich ausschließlich, dass der Vater arbeitet – „es ist die ‚väterlichste’ Sache der Welt“. Der zeitgenössische Kapitalismus und der Wohlfahrtsstaat haben nun aber folgendes Resultat gezeitigt. Erstens: Frauen wollen arbeiten, weshalb sie schon seltener Kinder bekommen. Aber wenn sie Kinder haben, dann sind sie nicht mehr auf den Vater auf Gedeih und Verderb als Ernährer angewiesen. Sie können sich auch trennen – sei es, weil sie selbst über Einkommen verfügen; sei es, weil sie wissen, dass sie Sozialhilfe, Kindergeld, Wohngeld usw. erhalten, also weder verhungern noch auf der Straße landen werden. Das beeinflusst das Verhalten der Frauen, was die Neokonservativen schon nicht wirklich freut. Aber es beeinflusst auch das Verhalten der Männer, und das ist noch viel entsetzlicher. Denn ebenso wie die Frauenerwerbstätigkeit raubt der Wohlfahrtsstaat den Familien ihre ökonomische Funktion. Und damit gilt auch: „Wohlfahrt nimmt dem Familienoberhaupt seine ökonomische Funktion und macht aus ihm einen ‚überflüssigen Mann’.“ Die Wohlfahrtsprogramme kicken den „Vater aus seiner Rolle als Brotverdiener“, wer keine höhere Schulbildung habe, könne kaum mit dem „Wohlfahrt-Einkommen konkurrieren“. Deshalb würden Wohlfahrtsprogramme nicht dazu beitragen, soziale Probleme zu lösen – etwa die ökonomische Lage armer Familien zu verbessern oder alleinerziehende Mütter zu unterstützen –, sie produzierten gewissermaßen die sozialen Probleme. Weil diese Programme existieren, müssten Männer keine Verantwortung mehr übernehmen, können lebenslang Kleinkinder bleiben, verlassen sie ihre Familien, wann immer sie Lust darauf haben; weil sie existieren, packen Frauen Flugs ihre sieben Sachen und ihre Kinder zusammen und lassen den Mann hinter sich, wenn der sie nicht mehr interessiert. „Wohlfahrtsstaatliche Leistungen sind in hohem Maße für die Desorganisation der Familien verantwortlich“, lautet das Credo der neuen Konservativen. Der Sozialstaat, so ließe sich die Meinung der neuen Konservativen zusammenfassen, „müsse abgeschafft werden, um den moralischen Verfall des Volkes aufzuhalten“. Sozial „unerwünschtes“ Verhalten wird nicht mehr als Folge von Armut gesehen, umgekehrt erscheint plötzlich die Armut als Folge des sozial unerwünschten Verhaltens. Staatliche Hilfe ist damit nicht Hilfe gegen Armut, sondern eine Art Komplizenschaft beim sozial unerwünschten Verhalten, das dann auch noch zur Armut führt.

Diese Logik führte dazu, dass die amerikanischen Konservativen das Problem der alleinerziehenden schwarzen Frauen als das zentrale soziale Problem anzusehen begannen, aber als Lösung nicht etwa vorschlugen, die existentielle Lage der amerikanischen Schwarzen zu heben. Im Gegenteil, für kaum etwas haben sie sich mit so viel Energie und Enthusiasmus eingesetzt wie für die Abschaffung der Sozialhilfe für alleinstehende Mütter. Mittlerweile ist die argumentative Figur auch in unseren Breiten angekommen.

Übrigens gehört es seit jeher zum Standard in der „Rhetorik der Reaktion“: dass die Programme der Sozialfürsorge die Armut verbreiten, „statt sie zu vermindern“; dass jeder Schuss nach hinten los geht. Wie der US-Soziologe Albert O. Hirschmann belegte, wurde dieses Argumentationsmuster von den neuen Konservativen nur wieder aufgenommen und modernisiert. Armenfürsorge verführe „zur ‚Faulheit’ und ‚Sittenverderbnis’ und erzeuge damit die Armut, statt sie zu lindern“, liest man schon bei englischen Essayisten des frühen 19. Jahrhunderts: „Erdacht, den Elenden zu helfen, wurden die Armengesetze zur Grundursache des Elends…“

Gerade dieses Exempel zeigt, wie obskur die Argumentation der neuen Konservativen ist. Natürlich können staatliche Maßnahmen unintendierte Folgen zeitigen – dann muss man sie eben korrigieren und Verbesserungen vornehmen. Aber indem sie allen Ton auf diese unintendierten Folgen legen, suggerieren die neuen Konservativen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen hätten ausschließlich kontraproduktive Wirkungen. Und das ist natürlich bei weitem nicht der Fall. Hätte man den altkonservativen Warnern vor den „Armengesetzen“ Glauben geschenkt, würden die Unterschichten heute immer noch so leben wie die Elenden im England des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich waren die sozialreformerischen Anstrengungen, durch Hilfe, Umverteilung und Beteiligung am Reichtum die Lage der Unterklassen zu verbessern, im Ganzen ein grandioser Erfolg.

Und auch wenn es unintendierte Nebenfolgen geben mag, sind die möglicherweise durchaus wünschenswert. Die Behauptung der neuen Konservativen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen einen Anteil am Zerfall von Familien haben, ist nicht völlig von der Hand zu weisen, weil weniger Menschen durch materielle Ausweglosigkeit in Familienverbände eingepfercht bleiben, in denen sie eigentlich unglücklich sind. Wenn Frauen heute ihre Männer wirklich leichter verlassen, als das noch vor dreißig, vierzig Jahren der Fall war, was ist daran so schlecht? Was ist, fragt Albert O. Hirschmann, so verdammenswürdig, wenn es einer „mittellosen Frau heute möglich ist, sich aus einer Ehe zu befreien, in der sie körperlich drangsaliert oder auf andere Weise misshandelt wird“?

Warum spricht es für „Werteorientierung“, wenn man einen solchen Jammer prolongieren will?

Von der erstaunlichen „Entdeckung“, dass die Hilfe für arme Familien nicht etwa zur Verbesserung der sozialen Lage, sondern im Gegenteil zu deren Verschlechterung beiträgt, sind die neuen Konservativen derart elektrisiert, dass sie geradezu außer Rand und Band geraten. Im Überschwang nennen sie die „unverheirateten Mütter und ihre Babys“ schon mal ein „menschliches Desaster“. Nun, ich bin schon mehreren alleinerziehenden Müttern begegnet und kenne auch diverse Kinder, die in einer solchen Konstellation aufwachsen oder aufgewachsen sind; manchmal läuft die Sache runder, manchmal ist sie komplizierter, nicht viel anders übrigens, als bei klassischen Vater-Mutter-Kind-Familien, wenn man davon absieht, dass die organisatorische und lebenspraktische Leistung, die alleinerziehenden Müttern abverlangt wird, noch deutlich fordernder ist. Kurzum, ich kam schon auf die unterschiedlichsten Gedanken, wenn ich mit solchen Alleinerzieher-Haushalten konfrontiert war. Aber auf eine Idee bin ich bisher noch nicht verfallen: Dass es sich bei diesen tapferen Frauen, die Job und Kind und Leben ohne viel Hilfe organisieren und ihren Babys um ein „menschliches Desaster“ handeln könnte. Jedenfalls wäre ich nie auf den Gedanken verfallen, dass es irgendeine Hilfe für diese Mütter wäre, wenn ich sie als „menschliches Desaster“ beschimpfe.

Wir sehen also: Es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, die „Werte“, von denen die Konservativen immerzu sprechen, hätten irgendetwas mit Menschenfreundlichkeit oder mit Achtung vor Mitbürgern in komplizierten Lebenssituationen zu tun. Völlig irreführend wäre zudem die Annahme, es wäre für Konservative „moralisch“, anderen Menschen in sozialer Bedrängnis zu helfen. Das würde nämlich in ihren Augen nur dazu führen, dass sie sich in dieser Bedrängnis bequem einrichteten und andere einen Anreiz bekommen, sich in eine ebensolche Lage zu bringen. Staatliche Unterstützung für die sozial Schwachen ist in dieser Logik nicht moralisch, sie ist sogar unmoralisch. Übrigens ist es keineswegs so, dass die Konservativen der Meinung sind, die Männer, Frauen und Kinder wären in klassischen Familien unbedingt glücklicher. Sie wissen sehr wohl, dass die traditionelle Vater-Mutter-Kinder-Familie durchaus ein recht unerquicklicher Ort zum Leben sein kann und es manchmal besser ist, sich zu trennen und sich weiter mit Respekt und Zuneigung zu begegnen, als endlos eine zerrüttete Beziehung aufrecht zu erhalten. Das wissen sie durchaus. Es ist ihnen jedoch egal, wie Allan Bloom in erfrischender Offenheit bekundete: „Natürlich gibt es viele unglückliche Familien. Aber das ist irrelevant.“

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