Blasenschwäche
Warum wird, etwa bei den ermüdenden „Wokeness“-Debatten, jeder mit minimal abweichenden Ansichten so schnell zum menschlichen Scheusal erklärt? Versuch einer Erklärung.
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Ich möchte heute auf etwas zurückkommen, was ich vor ein paar Wochen am Rande angetippt habe, es aber ausführen und weiterdenken. Ich habe geschrieben: „Debatten werden heute sehr oft mit viel Erregung geführt, mit Gereiztheit, mit der Entschlossenheit, den Anderen maximal misszuverstehen. Häufig spürt man die verbissene Absicht, irgendeinen Halbsatz zu finden, den man möglichst fies und krass verdrehen kann, um diesen Anderen als menschliches Scheusal darzustellen. (…) Ich empfinde gelegentlich, dass mir meine eigenen Meinungen unsympathisch werden, nur, weil diese Meinungen von unsympathischen Menschen auf unsympathische Weise vertreten werden. Und das ist natürlich auch wiederum verrückt.“
Nehmen wir nur diese dauernd aufpoppenden Diskussionen über Wokeness, die Empfindsam- und Achtsamkeit Diskriminierungen gegenüber und, umgekehrt, die regelmäßigen Klagen über eine reale oder angebliche „Cancel Culture“. Nun bin ich in vielen dieser Themen häufig, um nicht zu sagen: meist, eher auf der woken Seite. So bin ich beispielsweise der Meinung, dass wir in zunehmend multiethnischen und diversen Gesellschaften die vielen subtilen und auch weniger subtilen Diskriminierungen bekämpfen müssen. Rassismus ist allgegenwärtig, aber auch die feinen Unterschiede, die Abwertungen und die Erfahrungen, die beispielsweise Heranwachsenden machen, die ethnisch nicht der autochtonen Mehrheitsgesellschaft entstammen – nämlich, dass sie nicht dazugehören, dass sie sich mindestens doppelt oder dreifach beweisen müssen, und es selbst dann verdammt schwer haben. „Ich werde hier nie dazu gehören, ich werde immer eine Ausländerin bleiben“, solche wütenden und traurigen Sätze hört man sehr oft und sie sind Ausdruck emotionaler Verwundungen und Verletzungen, die bei den meisten schon im Kindergartenalter beginnen. Ich bin voller Empathie für diese Menschen und sauer, dass sie dem ausgesetzt sind. Ich bin auch der Meinung, dass die bisher Ungehörten nicht Repräsentanten aus der Mehrheitsgesellschaft als Fürsprecher brauchen, sondern selbst zu Wort kommen sollen. Nicht nur ihretwegen, sondern der Gesellschaft als Ganzes wegen, die authentische Stimmen aus allen sozialen Gruppen benötigt, um ein demokratisches Selbstgespräch mit sich selbst führen zu können. Dass wir im Zuge dessen einiges zu hören bekommen, ist klar – das muss man schon aushalten. Zugleich hat der oder die „Betroffene“ nicht immer automatisch recht, auch gegen emotionale Empfindungen sind rational begründete Einwände möglich, und eine Kränkung neutralisiert nicht notwendigerweise einen vernünftigen Gedankengang. Dasselbe gilt für Fragen des Feminismus, misogyne Übergriffe, die nicht erst mit der handgreiflichen Belästigung beginnen, sondern auch schon mit den taxierenden, sexualisierten Blicken und den berühmten besoffenen Geschichten, und überhaupt mit Handlungen, die die jeweiligen Anderen instrumentalisieren, zu Objekten der Begierde reduzierenm oder auch nur mit Herablassung behandeln. Nicht anders ist das bei Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden oder wegen einer von der Norm abweichenden Geschlechteridentität. Letztlich sind mir auch die aggressiven biologistischen Debatten relativ egal („ist eine ‚Transfrau‘ jetzt eine biologische Frau oder ein biologischer Mann mit einer fluiden oder abweichenden Geschlechteridentität?“), denn völlig unabhängig von fragwürdigen biologistischen Argumenten sollte wohl niemand diskriminiert werden oder gar Gewalt ausgesetzt sein. Wenn heute über diese Fragen weitgehend fiktive und bizarre Scheingefechte ausbrechen („soll so eine Transperson, wenn sie straffällig wird, in ein Männer- oder Frauengefängnis?“) so ist meine erste Reaktion darauf eher, dass es eine solche Person im Männergefängnis eher nicht schön hätte, also völlig unabhängig von biologistischen Haarspaltereien. Und dass man für diese wenigen Fälle daher doch wohl eine Lösung finden könne, die Gewalt, Diskriminierung und Übergriffe ausschließt. Die Beispiele können wir endlos weiterführen, aber egal. Kurzum: Ich bin in den meisten Fragen eher „woke“.
Church of Wokology
Dennoch spüre ich, dass mir diese – meine! – Ansichten gelegentlich auf die Nerven gehen, weil sie auch von Leuten vertreten werden, die mir auf die Nerven gehen, beziehungsweise, um das ganz präzise zu formulieren, weil sie von Menschen auf eine Weise vertreten werden, die mir auf die Nerven geht. Und ich weiß, dass es sehr vielen Menschen genauso geht.
Das führt ja schon zu dem eigentümlichen Umstand, dass heute niemand mehr „woke“ sein will, nicht einmal die „Woken“. Das ist insofern überraschend, als der Begriff ursprünglich durchaus affirmativ benützt wurde (anders als etwa „Gutmensch“, was immer schon eine abwertende Kampfvokabel war). Vor ein paar Jahren war man noch gerne „woke“, heute will sich niemand mehr damit schmücken, was natürlich auch damit zu tun hat, dass der Begriff von den rechten Gegnern der „Wokeness“ mit negativen Assoziationen umgeben wurde. Aber das ist wohl nicht der alleinige Grund.
Wie beim Christentum ist es auch bei den Woken: Die übermotivierten Anhänger sind meist die schlechteste Reklame für eine an sich noble Idee.
Was aber geht vielen Menschen daran auf die Nerven? Ein paar unvollständige Hinweise: Der Geist des Sektierertums, dass jeder und jede, der/die nicht zu hundert Prozent die gerade angesagte woke Meinung teilt – sondern nur zu 97 Prozent (!) – gleich zum Feind, Rassisten, Transhasser oder was auch immer erklärt wird. Sogar wenn zwei „woke“ Haltungen gegeneinander stehen, endet es beinahe in Schlägereien. Was viele abstößt, ist die Unerbittlichkeit und die Tendenz zur persönlichen Verunglimpfung, die natürlich ein Versuch ist, all jene mundtot zu machen, die vielleicht dies oder jenes weniger entschieden sehen. Motto: Wozu überzeugen, Rufmord macht doch viel mehr Spaß! Hinzu kommt so eine Art Parallelsprache, wie man sie auch aus verschworenen religiösen Gemeinschaften kennt. Wenn sich die Bubble wechselseitig bestätigt und in einen Rausch hineinsteigert, wirkt das mehr als nur ein bisschen wie eine „Church of Wokology“. Das aggressive Wir-gegen-Sie, das im skurrilen Kontrast zum gepredigten Wert der „Achtsamkeit“ steht, hat logischerweise zur Folge, potentielle Verbündete ins Lager des Gegners zu treiben, statt diese für die eigenen Ansichten zu gewinnen. Nun kann man sagen, solches Sektierertum war immer ein ungesunder Nebeneffekt von lobenswerter Entschlossenheit, ja, sogar, wie das unlängst eine Bekannte von mir formulierte: „Gesellschaftlicher Fortschritt geht halt immer mit Übertreibungen einher, das muss man aushalten.“ Das stimmt, einerseits. Vielleicht ist es aber auch so ähnlich wie früher bei den radikalen Sozialisten, bei denen es ebenfalls immer sonderliche, verschrobene, verbissene oder verbiesterte Gestalten gab, weshalb George Orwell einmal schrieb: „Wie bei den Christen sind beim Sozialismus seine Anhänger die schlechteste Reklame.“ Vielleicht ist es also auch hier einfach so, dass für eine prinzipiell gute Sache einige übermotivierte Anhänger die schlechteste Reklame sind. Etwas daran ist sicherlich wahr. Somit: Nichts grundlegend Neues unter der Sonne.
Inhalt und Stil der Argumentation
Aber was bedeutet das genau? Halten wir also einmal den bemerkenswerten Umstand fest: Was viele Leute abstößt, sind weniger die Argumente und schon gar nicht die grundlegende ethische Weltsicht, sondern der Stil, in dem sie vorgetragen werden.
Ich zweifle aber, dass das bloß die heutige Erscheinungsform des Schrulligen, Wunderlichen und Sektiererischen ist, wie es sie immer schon gegeben hat. Es hat etwas mit der Ordnung von Diskursen und dem Stil von Debatten zu tun, wie wir sie ja generell erleben, wie sie sich ausgebreitet haben, wie sie zu wuchern begannen. Vielleicht hat es weniger mit links und rechts zu tun. Womöglich ist der Stil woker Empörungsbewirtschaftung dem Stil rechter Empörungsbewirtschaftung ähnlicher, als den Protagonist*innen lieb sein kann. Die Gesellschaft zerfällt nicht nur in Meinungs-, sondern auch in Lebensstil-Subkulturen, in ein Puzzle von Minderheiten. Die digitale Kommunikation und die Revolution in der „Medienwelt“ – zu der heute neben klassischen Medien wie Zeitungen, Radio, TV auch Blogs, Webseiten mit ihrer Aufmerksamkeitsökonomie („Klickbait“) gehören und Social Media von Twitter, Facebook, Instagram bis zu vergleichsweise relativ geschlossenen Systemen wie Telegram etc. haben eine Reihe von Eigenarten. Erstens: Was maximal erregt, hat mehr Aufmerksamkeit. Zweitens: Man kommuniziert weniger in einer „allgemeinen Öffentlichkeit“, sondern in getrennten Öffentlichkeiten. Drittens: Die Beteiligten der jeweiligen Subgruppen entwickeln sehr leicht einen Tunnelblick. Viertens: Der Versuch, die noch nicht Überzeugten zu erreichen, verspricht weniger sichtbaren und schnellen Erfolg, als die Strategie, Applaus bei der eigenen Fanbase oder Peergroup zu erlangen. Überzogene, überspannte Positionen haben dabei einen doppelten Nutzen: Sie führen bei der eigenen Gruppe zu begeisterten Zuspruch und bei der „feindlichen“ Gruppe zu empörter Ablehnung. So hat jeder etwas davon. Die jeweiligen gegnerischen Gruppen sind einerseits in Abneigung, in Wirklichkeit aber auch in Komplizenschaft verbunden. Meist wahrscheinlich, ohne es überhaupt zu merken.
Der Versuch, die noch nicht Überzeugten zu erreichen, wird unterlassen – da die Strategie, Applaus bei der eigenen Fanbase zu erlangen, kurzfristig viel aussichtsreicher und emotional bequemer ist.
Je mehr man darüber nachdenkt, umso klarer wird : Bei immer mehr Debatten, bei immer mehr Subgruppen funktioniert das stets nach dem gleichen Mechanismus. Setze statt „Woke“ etwa grüne Klimaschützer ein oder sozialdemokratische Grünen-Kritiker, oder konservative Gegner der „politischen Korrektheit“ – die Dynamik ist stets ähnlich. Von Winnetou bis zur Panzerlieferung für die Ukraine, was gelegentlich vernünftig beginnt, endet in völlig überzogenen Feinderklärungen, die die Verständigung, worin man sich denn eigentlich einig ist, verunmöglichen.
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit
Vergangene Woche habe ich Jürgen Habermas‘ druckfrisches Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und deliberative Politik“ gelesen. Nun kann man sagen: Ein 93jähriger Mann, der den Großteil seines Lebens per Brief oder Fax kommunizierte, schreibt über das Internet. Intuitiv neigt man da zu dem Ausruf: Muss das sein? Aber bei Habermas ist das etwas anderes, nicht nur wegen seiner legendären Fähigkeit, Witterung aufzunehmen, sondern auch wegen des Umstandes, dass er vor mittlerweile 60 (!) Jahren sein Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ herausbrachte, der neue, schmale Band also auch eine Art Selbstzitat ist.
Jetzt schreibt Habermas von Medienarbeitern, die oft zu „Influencern“ werden, „die um die Zustimmung von Followern für ihr eigenes Programm und ihre eigene Reputation werben“. Zunächst verdeutlicht Habermas, welch Wunder stabile pluralistische Demokratien sind, in denen die Bürgerinnen und Bürger durch unterschiedliche Meinungen, divergierende Interessen, zentrifugale politische Lager, durch Individualismus und die Diversität von Lebenslangen getrennt sind. „Je heterogener die sozialen Lebenslagen, die kulturellen Lebensformen und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft sind, desto mehr muss das Fehlen eines a fortiori bestehenden Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung wettgemacht werden.“ Der „neue Strukturwandel der Öffentlichkeit“ setzt frühere Tendenzen fort (etwa Kommerzialisierung oder die Herrschaft politischen Häppchen-Entertainments), zerstört die bisherigen Formen von Medienöffentlichkeit, zerreißt die Gesellschaft in Bubbles, die nichts mehr miteinander zu tun haben, macht sie zum „Kampfplatz konkurrierender Öffentlichkeiten“. Bisher akzeptierte Prinzipien von Rationalität, die erst den Wettstreit konkurrierender Auffassungen ermöglicht haben, verlieren ihre Geltung. Diskurs löst sich auf in Geschnatter „unserer redseligen Spezies“. Eine ausführlichere Besprechung des Buches habe ich im aktuellen „Falter“ geschrieben (Si apre in una nuova finestra).
Eine plebiszitäre Öffentlichkeit mit Gefallens- und Missfallensklicks
Habermas beschreibt die Infrastruktur einer plebiszitären „Öffentlichkeit“ (die Gänsefüßchen sind wohl Absicht), in der alles auf „Gefallens- und Missfallensklicks“ hinausläuft, in der öffentlich so kommuniziert wird, wie in der privaten Sphäre (der oder die ist dann schnell ein „Trottel“, ein „Faschist“, ein „Rassist“, mindestens „Rechts“ oder eine sonstwie verabscheuenswürdige Person) und in der „kommunikative Inhalte nicht mehr in der Währung kritisierbarer Geltungsansprüche ausgetauscht werden“.
Habermas meint, simpel gesagt, dass es anders sein sollte: Es sollte nicht damit getan sein, zu bekunden, dass mir deine Meinung nicht gefällt, ich muss die höhere Plausibilität meiner Ansichten mit Argumenten begründen, die von der Gegenseite theoretisch zumindest akzeptiert werden könnten – oder sie eben dazu verpflichten, mit plausibleren Argumenten dagegen zu halten.
Die Räume der allgemein geteilten Öffentlichkeit werden enger – genau jene Foren also, in denen man sich mit konkurrierenden Auffassungen auseinandersetzt, und zwar vor einem Publikum, das nicht notwendigerweise von der einen oder anderen Meinung überzeugt ist, sondern gewonnen werden kann und muss; dagegen gewinnt die Kommunikation mit der eigenen Bubble an Gewicht, die nicht überzeugt werden muss, sondern durch Akklamation die Reputation der „sendenden Person“ heben soll. In wirklicher Konkurrenz ist man allenfalls mit Sprecherpositionen in der eigenen Gruppe, die mehr Zuspruch erhalten. Unter den Bedingungen einer individualisierten Wettbewerbsgesellschaft ist davon oft auch das eigene Einkommen abhängig, unter den Bedingungen von Prekarität ist noch hinzuzufügen: das ohnehin mickrige, eigene Einkommen.
Es ist die Eigenart vieler Netzdebatten: Es geht nur mehr primär darum, die anderen möglichst schlecht aussehen zu lassen.
Es geht dabei nicht um Fakten oder Wahrheit, sondern primär darum, die meisten anderen möglichst schlecht aussehen zu lassen und selbst in den Augen der Fanbase möglichst gut dazustehen. Betrachtet man die Sache so, dann haben die oben beschriebenen Seltsamkeiten weniger mit „Wokeness“ oder den vertretenen Inhalten selbst zu tun, und mehr mit der politischen Ökonomie der Aufmerksamkeitswirtschaft im Zuge des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit.
Das hat natürlich Folgen, die nicht unterschätzt werden dürfen. Die zentrifugalen Tendenzen in Gesellschaften werden verstärkt, da der Anreiz gering ist, einen relativen Konsens für die eigenen Positionen herzustellen (was ja üblicherweise in Kompromissen und Aushandlungsprozessen mündet, die die eigenen Positionen „verwässern“), während der Anreiz umso größer ist, sich den Zuspruch der eigenen Submilieus zu sichern, indem man möglichst überpointiert formuliert. Was für den einzelnen linken Protagonisten / die einzelne linke Protagonistin nützlich sein kann, die Verehrung des eigenen Publikums nämlich, kann für „die Linken“ (im weitesten Sinne verstanden) generell schädlich sein, weil es die Fähigkeit unterminiert, Indifferente, Schwankende und Noch-Nicht-Überzeugte für progressive Positionen zu gewinnen und unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln.
Was dann wiederum die Lage für die Diskriminierten, in deren Namen man spricht, auch noch verschlechtert, wenn es ganz blöd läuft – und nicht verbessert.