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Fanatiker sind immer die anderen

Selbst kleine Meinungsabweichungen werden heute schnell als „unmoralische“ Auffassungen verleumdet. Das ist eine gefährliche Sackgasse.

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Vor ein paar Tagen bin ich bei der Frankfurter Buchmesse meinem Freund und Autorenkollegen Harald Welzer über dem Weg gelaufen. Wir haben uns lange nicht gesehen und uns über die Wiederbegegnung entsprechend gefreut. Wir haben uns umarmt und sind dann auf einen kleinen Tratsch auf die Terrasse am Rande der Messehalle gegangen und haben herumgealbert. Dazu muss man wissen, dass Harald in den vergangenen Jahren zu einer Reihe von Themen „problematische“ Meinungen vertreten hat. „Problematisch“ sind heute Meinungen meist dann, wenn jemand etwas meint, was man selbst gerade nicht meint. Wenn ich mich recht erinnere, ging es dabei primär um den Konflikt in der Ukraine.

Kurz davor habe ich auf einer der Messebühnen eine Debatte mit Ralf Stegner gehabt, der hat auch „problematische“ Meinungen zu einem oder zwei Themen, um die es aber bei der Debatte nicht ging.

Bleiben wir einmal bei dem Beispiel: Konflikt in der Ukraine. Natürlich gibt es Haltungen, die die Person, die sie vertritt, nicht nur intellektuell, sondern sogar moralisch diskreditieren. Etwa die Meinung, dass Wladimir Putin ein großer Staatsmann und Humanist, die Invasion in der Ukraine eine wunderbare Sache und eine antikolonialistische Tat gegen westliche Dominanz sei.

Diese Meinung vertreten aber ja nur ein paar Spinner.

Deutlich mehr Menschen hängen der Ansicht an, dass ein überfallenes Land alles Recht der Welt auf Selbstverteidigung hat, und wenn dieses Land auch noch eine Demokratie ist, die sich gegen eine autokratische Diktatur wehrt, dann sollten wir mit allen Mitteln diese Nation unterstützen. Grosso modo ist das die Ansicht, der ich mich am nächsten fühle.

Dann gibt es jene, die die Meinung vertreten, dass ein Ausweg aus der Eskalationslogik gefunden werden sollte und dass dieser auch mit einem ruchlosen Autokraten wie Putin gesucht werden könnte; dass ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen und ein Kompromiss ein Gebot der Stunde seien, denn Frontverschiebungen von vier Kilometer in die eine oder andere Richtung rechtfertigen keine zehntausende Tote und eskalierende Spannungen.

Dazwischen gibt es noch jede Menge Graustufen unterschiedlicher Meinungen.

Auch Gegenmeinungen können legitim sein

Die meisten dieser Analysen sind weder grotesk, verbrecherisch, illegitim oder gar unmoralisch. Ich halte, wie die meisten Menschen, meine Meinung für die richtige (ansonsten hätte ich sie wohl kaum), ich halte sie üblicherweise zugleich für moralisch geboten als auch für sachlich-vernünftig begründbar. Das macht aber andere Standpunkte keineswegs zu illegitimen, verdammenswürdigen Auffassungen.

Heute werden aber konkurrierende Meinungen sehr schnell mit verächtlichen, missbilligenden Attributen belegt. Absurderweise gilt das nicht nur für grundlegend entgegengesetzte Ansichten, sondern in rasant zunehmendem Maße sogar für Auffassungen, die nur in Nuancen von der jeweils eigenen abweichen. Eine kleine Differenz reicht aus, um den jeweils anderen zum ruchlosen Meinungsverbrecher abzustempeln.

Es ist absurd und unerträglich.

Diese Erfahrung macht man bei vielen Themen und besonders merkbar ist das gerade angesichts des bestialischen, monströsen Terroraktes der Hamas und der israelischen Bombardements und Militäraktionen in Gaza in Reaktion darauf. In zwei von 194 Nationen der Welt hatte sich ja schon davor die Meinung durchgesetzt, dass jede Ansicht, die von der Ansicht der Netanjahu-Regierung abweicht, „antisemitisch“ sei.

Schweigen im verminten Gelände

Diese zwei Länder sind Österreich und Deutschland. Skurriler-, aber auch nachvollziehbarerweise gehört nicht einmal Israel zu diesem exklusiven Club. Ich glaube, die meisten die sich in Österreich und Deutschland gerade in dieser Weise äußern, merken gar nicht, dass der hiesige, sehr eindeutige Konsens, der selbst leise Hinweise auf die Geschichte von Besatzung und Konfrontation als „Relativierung“ abkanzelt, in der gesamten restlichen Welt als eher schrullig angesehen wird, was die Überzeugungskraft dieser Meinung stark einschränkt, übrigens völlig unabhängig von der Frage, ob sie richtig oder falsch ist.

Es gibt ja zur Nahost-Thematik eine Reihe möglicher Ansichten, einige dazu sind leidenschaftlich und entschieden abzulehnen, einige sind durchaus begründbar, aber auch kritikwürdig, andere plausibler. Viele Menschen wagen aber nicht einmal mehr eine in Nuancen abweichende Meinung zu vertreten (wie etwa „auch das Bombardement der Zivilbevölkerung in Gaza ist schrecklich“), weil sie Angst haben, sie könnten in vermintes Gelände geraten.

Auch davon war die Frankfurter Buchmesse überschattet. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat die Eröffnungsrede gehalten, in der er die Terrorakte der Hamas entschieden verdammte, explizit jedes Recht Israels auf einen Gegenschlag und die Zerstörung der Hamas betonte, zugleich aber anmerkte, dass man ein solches – wie jedes andere – Geschehen nur verstehen könnte, wenn man die verschiedensten historischen und aktuellen Verwicklungen benennt, die man dafür für relevant hält. Die einen werden dieses, die anderen jenes für relevant halten, oder auch nur unterschiedlich gewichten. Sobald man aber auch nur vorsichtig damit beginne, wird der Verwurf der „Relativierung“ erhoben und „Antisemitismus“ unterstellt, was, so Žižek, im Endausbau auf ein „Analyseverbot“ hinauslaufe. Žižeks Rede war nicht unbedingt brillant, er war fahrig, nervös, verlor auch den Faden, was sicherlich zum Eklat beitrug, war noch wirrer als üblich und man kann ihm sicher vorhalten, dass er die nachdenkliche Balance, der er eigentlich das Wort redete, selbst überhaupt nicht hinbekam. Während seiner Rede begannen einige Provinz-Funktionsträger empört zu stören und zu pöbeln und wollten Žižek das Wort verbieten, als wären sie extra engagiert worden, um seine Hypothese zu bestätigen.

Eklat auf der Frankfurter Buchmesse

Geschehnisse sind komplex. Radikalisierungsprozesse schaukeln sich hoch. Verbrechen werden begangen. Traumata bleiben zurück. Neue Verbrechen geschehen. Zeitebenen überlagern sich. Fanatiker vergiften die Gehirne. Gemäßigte werden entmutigt. Antagonismen scheinen unüberwindbar. Falsche Wahrheiten und wahre Falschheiten fallen sich ins Wort. Was da einigermaßen und halbwegs richtig ist, wird eine tastende Analyse nur herausfinden, wenn sie verschiedene Argumente gegeneinander abwägt, mit „einerseits“ und „andererseits“ und „wiederum“ und „umgekehrt“ und „aber“ einen bohrenden Denkprozess in Gang setzt, bei dem die Analyse übrigens auch durchaus in Irrwege und Sackgassen geraten darf. Nachdem Žižek seine Rede mit Ach und Krach beenden konnte, trat die Vorsteherin des Börsenvereins des deutschen Buchhandels an, um einen haarsträubenden Satz zu sagen: „Mit einer Ablehnung des Wortes ‚Aber‘ eröffne ich die Frankfurter Buchmesse.“

Das muss man sich einmal vorstellen. Die Dame ist ja nicht Politbüro-Sprecherin der Kommunistischen Partei Nordkoreas. Sie ist Repräsentantin der Bücherwelt, des Diskurses und des grübelnden Nachdenkens. Eigentlich ist sie so etwas wie eine berufsmäßige Schutzheilige des „Aber“.

Es ist unfassbar.

Komischerweise wurde im Feuilleton Žižeks Rede als fragwürdig hingestellt und nicht der Skandalsatz von Frau Börsenvereins-Apparatschik.

Gedankenfreiheit und Wahrheit

Man vermutete einstmals, dass in liberalen Demokratien mit ihrem Freiheitsgeist die Überlegungen John Stuart Mills über „die Freiheit des Gedankens“ aus dem Jahre 1859 einigermaßen Konsens geworden wären. Darin erklärt Mill, warum selbst die Äußerung noch des abwegigsten Argumentes erlaubt sein soll, etwa, weil nur die kontroverse Diskussion unterschiedlichster Gesichtspunkte uns der Wahrheit näherbrächte. „Und selbst, wenn die Wahrheit schon entdeckt wäre, würde sie robuster dastehen, wenn sie sich regelmäßig gegen herausfordernde Argumente behaupten müsste.“ Auch die liberale Demokratietheorie geht von der Prämisse aus, dass in freiheitlichen Demokraten bessere Entscheidungen getroffen werden als in autoritären Systemen.

Salman Rushdie plädierte zum Abschluss der Buchmesse dafür, die Meinungsfreiheit „erbittert“ zu verteidigen – „auch dann, wenn sie uns beleidigt“. Wir sollten, meinte er, „schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann“.

Halten wir etwas nüchterner einfach einmal folgendes auseinander: Es gibt unterschiedliche Argumente und Meinungen und zwar a) Meinungen die plausibel, sachlich begründet, und in jeder Hinsicht legitim sind, und die viel für sich haben – und diese Argumente können sich dennoch fundamental widersprechen; weiters gibt es b) Meinungen und Argumente, die das nicht sind, weil sie etwa naiv, dumm, unrealistisch, sachlich unbegründet sind; dann gibt es welche, die c) abstrus sind, aber von der Meinungsfreiheit gedeckt und auch nicht moralisch verwerflich; und dann gibt es d) jene, die falsch, abstrus und auch noch moralisch verwerflich sind.

Ultimative Ablehnung verdient natürlich nur letzteres.

Das Problem wird durch die Tatsache nicht kleiner, dass verschiedene Personen verschiedene Ansichten haben werden, ob eine Auffassung in Rubrik a, b, c oder d gehört.

Alles Antisemiten, außer Netanjahu

Heute würde, beispielsweise, sicherlich eine relevante Minderheit, höchstwahrscheinlich aber sogar eine Mehrheit der jüdischen Israelis folgendes Argument für richtig halten: Benjamin Netanjahu verfolgt seit Jahren kein anderes Ziel, als sich selbst an der Macht zu halten (und sich an diese zurückzubringen), um Verurteilung und Haft zu entgehen. Dafür koaliert er mit offenen Faschisten, radikalisierte die Siedlungstätigkeit in der Westbank, weil seine Koalitionspartner dies fordern, und die radikalen Siedler wiederum brauchen den Schutz des Militärs – weshalb dieses dann an der Grenze zu Gaza fehlte. Eine Zerstörung der israelischen Sicherheitsarchitektur, die das Massaker der Hamas erst ermöglichte.

Wer hierzulande dieses Argument (eigentlich ist es eine nüchterne Aufzählung von Fakten, die schwer zu leugnen sind, also keine „Meinung“) vorbrächte, würde schnell mit dem „Relativierungs-“ und „Antisemitismus“-Vorwurf belegt.

Es gibt ja alle möglichen Meinungen, die zum Verhältnis Israel-Palästina schon vertreten wurden oder heute vertreten werden, manche sind vernünftiger, manche weniger, manche sind auf eine Weise emotional einseitig, die jeden Humanisten zornig macht, wie die Kaltherzigkeit mancher Palästina-Solidaritäts-Aktivisten, die die Bestialität des Hamas-Massakers einfach emotional ausblenden, und andere sind wieder emphatischer.

So etwa gab es bis vor gar nicht so langer Zeit auch unter jüdischen und israelischen Linken (und auch unter palästinensischen) den Traum von der Schaffung eines „binationalen Staates“. Also die Utopie des Zusammenlebens von Juden und Arabern auf dem Territorium des jetzigen Israel, der Westbank und von Gaza in einer demokratischen, säkularen Republik. Man kann das für unrealistisch, utopisch-verträumt, blöde, undurchdacht halten, aber es ist sicher keine unmoralische Vision. Sie wurde etwa von so großen jüdischen Intellektuellen wie dem Historiker Tony Judt vertreten. Aber natürlich hat man versucht, Judt und andere als „Israelhasser“ zu verleumden.

Viele Muslime kritisieren wiederum, dass der Westen mit Doppelstandards messe, dass westliche Opfer von Gewaltkonflikten immer betrauert werden, während sich um muslimische Opfer westlicher Gewalt nie jemand schert. Man kann dieses Argument unterstützen, es ablehnen, oder dazu eine ambivalente Position einnehmen, man kann vor allem auch der Ansicht sein, dass ein bestialischer Terrorakt, bei dem 1400 Menschen hingeschlachtet wurden, der falscheste Moment für dieses Argument ist. Aber selbstverständlich ist es keine per se unmoralische Haltung und sowieso von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Gefahr des Einheitsdenkens

Heute wird bereits jeder und jede, die eine Palästinenserfahne hochhalten, als Antisemit hingestellt. Man sieht wieder einmal: Menschen denken, die Fanatiker sind immer die anderen, und bemerken gar nicht, dass sie selbst schon in einen Tunnel absurder Fanatisierung drinstecken.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich selbst würde nie eine Palästinenserfahne schwenken, und schon gar nicht jetzt im Augenblick. Aber es ist natürlich weit innerhalb des Bogens, der von der freien Meinungsäußerung abgedeckt wird. Wir wissen auch nie genau, was die Motive jener sind, die es tun, solange wir sie nur Fahnen schwenken sehen. Einige werden wahrscheinlich Israel das Existenzrecht absprechen, zu viele werden tatsächlich Antisemiten sein, viele wiederum der Ansicht sein, dass das Leid der Palästinenser auch zur Sprache gebracht werden sollte, dass es aber auf grob einseitige Weise ignoriert wird.

Jene, die heute Israelfahnen schwenken, drücken damit auch primär ihre Solidarität angesichts von existenziellen Bedrohungsgefühlen von Juden und Jüdinnen in Israel, aber auch hierzulande aus und ihre Erschütterung über die Blutorgie der Hamas, die in einer Liga ist mit Gräueltaten wie Srebrenica. Nur ganz wenige würden automatisch eine Unterstützung von Landnahme und Vertreibung in der Westbank durch Netanjahus Siedler-Extremisten mit dem Fahnenschwenken verbinden.

Auch das ist so eine Krankheit unserer Zeit: Dass wir immer gerne das Schlechteste von den Anderen annehmen.

Von der Meinungsfreiheit sind übrigens auch absurde Argumente gedeckt, denn die Meinungsfreiheit besteht nicht nur für Ansichten, die ich oder sie für vernünftig oder zumindest für legitimierbar halten.

Ich bin sogar dann gegen Meinungsdiktaturen, wenn ich der Diktator wäre, um das ganz offen zu sagen.

Wir müssen darauf achten, dass wie die Unterscheidungsfähigkeit behalten, zwischen dem was wirklich Verhetzung, Antisemitismus, rassistische Hetze ist – und was nur eine Ansicht zu einem komplexen Problem ist, die ich oder sie nicht teile.

Den Gegner moralisch erledigen

Ultrarechte sprechen gerne von der Meinungsdiktatur der politischen Korrektheit, was natürlich meistens Unsinn ist, weil ein Großteil der „unterdrückten“ Meinungen, die sie da im Auge haben, erstens nicht verboten sind, zweitens dauernd in allen TV-Debatten oder Zeitungskommentaren vertreten werden, und weil sie drittens bei der niederträchtigen Diskreditierung abweichender Meinungen sowieso meist vorne dabei sind – aber eben nur bei Meinungen, die ihnen nicht passen.

Aber nur weil die Rechtsextremen unglaubwürdige Clowns sind, heißt das nicht, dass eine Art des Problems nicht besteht.

Wir ziehen in vielen Fällen heute den Korridor der legitimen Meinungen sehr eng, sodass selbst unproblematische und legitime Auffassungen wie sittliche Verfehlungen behandelt werden, die jene, die sie vertreten, moralisch erledigen.

Im Meinungskampf neigen heute Gruppen, oft sogar minoritäre Kleingruppen dazu, die Meinung der anderen Seite nicht als kritikwürdig oder sachlich falsch, sondern als moralisch verwerflich hinzustellen. Wenn das gelingt, werden abweichende Meinungen gar nicht mehr vertreten, und es entsteht ein gefährlich falscher Konsens, der auch noch zur Dummheit neigt, weil korrigierende Gesichtspunkte nicht mehr vorgetragen werden.

Und Menschen werden der Möglichkeit beraubt, für ihre Ansichten oder auch nur Empfindungen eine Sprache zu finden, was erfahrungsgemäß selten gut ausgeht.

Das Terrain des Demokratischen – nämlich des Austausches von Argumenten –, verkommt dann zu einer reinen Arena eines Machtkampfes.

Jemand, der zu einem Sachthema oder einer Frage, die ethische Streitfragen berührt, eine andere Meinung als ich vertritt, sollte nicht per se als moralisch verwerfliche Person markiert werden, weil das so jede Argumentation zerstört und außerdem viele Menschen in eine Haltung des stumm-grollenden Schweigens drängt.

Um das an einem Beispiel zu illustrieren:

Man kann durchaus der Meinung sein, dass alte weiße Männer wie ich immer Rassisten sind, weil sie in einer Kultur von Stereotypisierung gefangen sind, sich daraus nie ganz befreien können und die Erfahrung von Rassismusbetroffenen niemals auch nur annähernd nachvollziehen können.

Man kann aber auch der gegenteiligen Meinung sein, dass wir als zur Empathie und Einfühlung fähige Subjekte Stereotypisierungen überwinden können, dass das Ziel eine „farbenblinde“ Gesellschaft sein muss, in der identitätspolitisches Gegeneinander überwunden ist, und dass das vernunftbegabte soziale Tier Mensch in der Lage ist, durch Kommunikation die Erfahrungen anderer nicht nur rational, sondern auch emotional zu begreifen.

Beides sind legitime Argumente, die Plausibilität auf ihrer Seite haben. Wenn aber das zweite Argument als „das typische Argument eines rassistischen weißen Mannes“-verunglimpft wird, wird es irgendwann von niemandem mehr vorgebracht werden, der sich die Verleumdung des Rassismus ersparen will.

„Das Gesetz der Gruppenpolarisierung“

Der amerikanisch-jüdisch-deutsch-polnische Intellektuelle Yascha Mounk berichtet in seinem jüngsten Buch über sozialpsychologische Experimente von Verhaltensökonomen, in denen eine beliebige politische Frage zunächst einzelnen Individuen ähnlicher Wertorientierung vorgelegt wurde. Sie wurden dann nach ihrer Meinung sowie zu Lösungsvorschlägen befragt. Diese waren meist sehr maßvoll und reformorientiert. Danach wurde dieselbe Frage ganzen Gruppen vorgelegt, und sie mussten in einer Diskussion ihre Meinung und ihre Vorschläge erarbeiten. Die Meinung war deutlich zorniger, erregter, radikaler und die Vorschläge waren weit weniger maßvoll. Verhaltensökonomen nennen das „das Gesetz der Gruppen-Polarisierung“. Nun muss diese Gruppenpolarisierung nicht zwangsläufig falsch sein. Mitunter hat man eine entschlossenere Ablehnung gegenüber kritikwürdigen Geschehnissen, wenn man sich mit anderen austauscht. Aber möglicherweise entsteht durch gegenseitiges Anstacheln auch eine Dynamik überzogener Selbstradikalisierung. Verhaltensforscher haben im Nachgang auch noch etwas anderes herausgefunden. Wenn es sich um eine politisch-sachliche Streitfrage handelt, und eine Gruppe überbietet sich in immer radikaleren Ansichten, dann melden sich irgendwann einmal dissidente Stimmen aus der Gruppe selbst, die anmerken: „Übertreiben wir jetzt nicht? Lasst uns noch mal vernünftig darüber nachdenken.“ Ist aber die Fragestellung selbst schon moralisch aufgeladen, sodass selbst dieser Einwand diskreditierbar ist, dann bleiben die abweichenden Stimmen stumm und die Gruppenradikalisierung geht ungebremst weiter.

Dazu kommt, dass uns als soziale Geschöpfe nicht immer die Formulierung einer vernünftigen Ansicht ein Anliegen ist, sondern oftmals eher die Zustimmung der eigenen Gesinnungsgruppe.

Kurzum: Wenn ich damit rechnen muss, dass auf meinen Einwand erwidert wird, „du liegst mit deinem Argument falsch“, dann werde ich den Einwand vorbringen.

Wenn ich befürchte, dass man mir entgegnet: „Und damit hast du dich als Antisemit/Rassist/Sexist/Putinknecht/Hamasfreund-etc. erwiesen“, dann werde ich eher schweigen.

Hand auf’s Herz: Wie oft haben Sie schon deshalb die Klappe gehalten?

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