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“Eine illiberale Demokratie gibt es nicht”

Im Mai hatte ich die große Ehre, bei der Befreiungsfeier des Mauthausenkomitees Gallneukirchen die Festrede halten zu dürfen. Hier jetzt etwas verspätet der Text zum Nachlesen:

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
verehrte Antifaschisten!

Ich sage das mit einer gewissen Absicht: „Antifaschisten“.

Denn heute wird gelegentlich so getan, als wäre der „Antifaschismus“ eine Meinung unter anderen, oder sogar so etwas wie eine radikale Werthaltung. Aber der Antifaschismus ist in unserer Republik keine bloße Meinung, die die einen haben, die anderen ablehnen können. Der Antifaschismus ist der Gründungskonsens unserer Republik, er ist der Gründungskonsens des demokratischen Nachkriegsösterreichs, er ist die Staatsräson dieses Landes.

Der Antifaschismus ist keine „Meinung“ unter mehreren möglichen, sondern der Gründungskonsens dieser Republik.

Jede Person, die kein Antifaschist ist, ist in diesem Sinne ein Staatsfeind.

Die jährlichen Befreiungsfeiern, an diesem Mahnmal wie an anderen Orten, sie haben den Sinn, uns dessen zu vergegenwärtigen.

„Vergegenwärtigen“ ist ein schönes Verbum, aber so wie viele Begriffe benützen wir auch diesen mitunter unbedacht. Man sagt die Dinge so dahin. Genauso wie die Erinnerung an das Grauen von Diktatur, Nationalsozialismus, Holocaust, Völkermord und das Mordbrennen des Krieges manchmal phrasenhaft werden kann. Rituelle Beschwörung. Nicht, dass ich das kritisieren würde wollen, auch Rituale haben ihre Berechtigung. Selbst die Floskeln haben ihre Berechtigung, denn würden wir bei jedem Wort genau nachdenken, bevor wir es benützen, würden wir nur mehr herumstottern. Aber die Worte werden leer, wenn sie bloße Rituale oder Floskeln werden, dahingesagte Allerweltswendungen.

Vergegenwärtigen, habe ich gesagt. Was heißt denn das? Die Lehren aus der Vergangenheit auf die Gegenwart anzuwenden. Sich die Gegenwart auch ganz genau anzusehen, und die Bedrohungen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Die Bedrohungen der Demokratie. Deren Gefährdung. Und uns zu überlegen, was es heute bedeutet, was das für eine Aufgabe ist, was für eine Aufgabe da an uns gestellt ist, wenn wir als Maxime formulieren:

Demokratie verteidigen.

„Ich höre ein Ungeheuer atmen, ich höre, wie der Atem der Demokratie schwächer wird. Ich bin froh, dass Sie alle hier sind und ihr neues Leben einblasen wollen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät“ – das sagte Elfriede Jelinek bei der großen Demonstration vor dem Parlament Ende Januar in Wien.

Demokratie verteidigen.

Es gibt ja genügend Bürgerinnen und Bürger, die die Ansicht vertreten, es wäre ein überzogener Alarmismus, von einer Gefährdung der Demokratie auszugehen. Die rechten Populisten und sogar die rechten Extremisten fordern ja nicht die Abschaffung der Demokratie, sie plädieren nicht für die Errichtung einer Diktatur oder einer autokratischen Herrschaft, sondern manchmal bezeichnen sie sich als die echten Demokraten, als Stimme der Mehrheit, als Stimme der normalen Leute, der schweigenden Mehrheit. „Was soll denn daran undemokratisch sein, Ansichten und Werthaltungen der Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren?“ sagen sie dann.

Und nicht nur die Anhänger der Ultrarechten sagen das, auch andere sagen das, die vielleicht nicht einmal mit ihnen sympathisieren:

In der Demokratie haben auch radikale Ansichten ihren Platz.

Und sie haben damit ja auch nicht unrecht. Zur Demokratie gehört ja auch, dass Meinungen akzeptiert werden, die ich nicht teile, ja, die ich sogar leidenschaftlich ablehne. Zur Demokratie gehört auch, dass sie repräsentiert werden. Und gibt es in unserer Gesellschaft heute nicht ganz generell die Tendenz, dass man Meinungen, die einem nicht passen, nicht einfach kritisiert, sondern dass man sich wünscht, dass die Meinungen, die einem nicht passen, nicht ausgesprochen werden dürfen? Dass man den einen „cancelt“ wegen dieser Ansicht, die andere wegen jener Ansicht? Ist nicht die Behauptung, eine Meinung, die einem nicht gefällt, wäre deswegen gleich eine illegitime Meinung, ist diese Behauptung nicht auch eine Gefahr für die Demokratie, nämlich für die Freiheit, auch krass abweichende Meinungen zu vertreten, ohne Gefahr zu laufen, zur Unperson erklärt, als moralisch verdammenswertes Subjekt verunglimpft zu werden?

Auch das ist ja nicht ganz falsch.

Denn denken wir nur an einen ganz kanonischen Text des liberalen Freiheitsdenkens, an die Überlegungen John Stuart Mills über „die Freiheit des Gedankens“ aus dem Jahre 1859. Darin erklärt Mill, warum selbst die Äußerung noch des abwegigsten Argumentes erlaubt sein soll, etwa, weil nur die kontroverse Diskussion unterschiedlichster Gesichtspunkte uns der Wahrheit näherbrächte. „Und selbst, wenn die Wahrheit schon entdeckt wäre, würde sie robuster dastehen, wenn sie sich regelmäßig gegen herausfordernde Argumente behaupten müsste“, proklamierte Mill.

Das ist der Geist der Aufklärung – nämlich, dass sich der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ durchsetzen würde. Es ist das Vertrauen auf den Gebrauch der Vernunft, des leisen Wortes statt des Geschreis oder gar der Gewalt; es ist übrigens auch der Geist der Demokratie und des liberalen, demokratischen Verfassungsstaates.

Denn dahinter steht die Annahme, dass in Gesellschaften mit Pluralismus und Parlamenten bessere Entscheidungen getroffen werden als in Autokratien, in Führerdiktaturen oder absolutistischen Monarchien: Wenn jeder Gedanke, der geäußert wird, geäußert werden kann, er aber auch sogleich von allen konkurrierenden Gedanken herausgefordert wird und sich dadurch beweisen muss, dann werden wir klügere Entscheidungen treffen. Alle zusammen. Wir werden dann eben nicht nur in freiheitlichen Gesellschaften leben, sondern auch in Gesellschaften, die prosperierender sind, weil Fehlentscheidungen korrigiert werden, ja, weil sogar weniger Fehlentscheidungen begangen werden.

Der freie Diskurs macht uns alle schlauer. Und wenn wir schlauer sind, werden wir auch schlauere Entscheidungen treffen und in einem besser regierten Staatswesen leben. Diktatur macht dumm und führt zu dummen Entscheidungen.

Die heutigen rechten Populisten und rechten Extremisten bezeichnen sich selbst als Demokraten, habe ich gesagt. Das ist ja durchaus anders als zu früheren Zeiten: Hitler, Mussolini, Franco, aber auch ihre Geistesfreunde, mit denen sie nicht alles, aber vieles verband, – Dollfuss in Österreich, Horthy in Ungarn, Pilsudski in Polen –, sie lehnten ja Demokratie und Republik explizit ab.

Damals konnte man noch ohne jede Scham für die Diktatur sein, und die Autoritären früherer Tage waren das auch. Auch sie haben zwar oft behauptet, sie würden einem angeblichen Volkswillen zum Durchbruch verhelfen, aber sie hätten sich niemals als „Demokraten“ bezeichnet.

Mit den Autoritären von heute ist das anders.

Viktor Orban etwa spricht bekanntlich seit Jahren schon von der „illiberalen Demokratie“.

Diese „illiberale Demokratie“ solle konservative, nationale Werte verteidigen, und sie soll das aggressiv gegen alle Gegner tun.

Für diese aggressive Verteidigung dieser konservativ-nationalen Werte sei es nötig, so dieses Denkens, den rechtlichen Spielraum für Pluralismus und Heterogenität eng zu ziehen, für Heterogenität, also Vielfalt in Wertefragen, in ethnischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich von Lebensstilen, Lebensentwürfen.

Letztendlich läuft diese „illiberale Demokratie“ darauf hinaus, die Artikulationsmöglichkeiten aller Minderheiten und überhaupt aller Gegenspieler im Namen einer Herrschaft der Mehrheit zu unterdrücken.

Hier sieht man ganz deutlich: Eine „illiberale Demokratie“ ist am Ende keine Demokratie mehr.

Sagen wir es klar und ohne Umschweife: Eine „illiberale Demokratie“ gibt es nicht. Entweder ist eine Demokratie liberal oder sie ist keine Demokratie.

Demokratie, werden jetzt unsere Freunde des Altgriechischen womöglich einwenden, ist doch nur Volksherrschaft, also Herrschaft der Mehrheit. „Demos“, das Volk, „Kratos“, Macht, Herrschaft.

Aber die längst verwesten Griechen helfen uns da nicht wirklich weiter. Denn zur Demokratie, wie sie zu dem Modell für die Herrschaft von Freiheit und Rechten wurde, gehören ein paar Dinge elementar dazu:

Minderheitspositionen, die nicht nur geachtet, sondern durch Rechte fest abgesichert sind.

Ein Rechtsstaat, der auch die Macht der Regierung selbst begrenzt, mag sie auch eine überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hinter sich wissen.

Minderheitenschutz, der Pluralismus, Vielfalt und Heterogenität gegen Zwang, Homogenisierung, gegen gewaltsame Vereinheitlichung absichert.

Demokratie ist nicht Unterdrückung und Mundtotmachung der Minderheit durch die Mehrheit, sondern auch Schutz von Nonkonformismus.

Kurzum:

Eine „illiberale Demokratie“ ist also schon vom Begriff her ein gefährlicher Unsinn.

Auch der „demokratische Rechtsstaat“ ist nicht primär dafür da, Ordnung mit „harter Hand“ durchzusetzen. Polizei und Justizsystem sollen Kriminalität bekämpfen, das Verbrechen, und manchmal wird dann die „volle Härte des Rechtsstaates“ gefordert. Aber das ist schon selbst eine kleine Wortverdrehung. Denn der Kern der demokratischen Rechtsstaatlichkeit besteht darin, dass der Einzelne vor willkürlicher Verfolgung geschützt ist, gegen überschießende Maßnahmen der Obrigkeit, sein Wesen ist die Bindung der Regierung an das Gesetz und die Beschränkung ihrer Macht.

Und gegen all das sind die Rechtsextremisten. All das achten sie nicht, wenn sie in Regierungen sind.

Deswegen sind sie eine Gefährdung der Demokratie.

Wenn rechte Populisten und Extremisten in Regierungsämter kommen, läuft es praktisch immer so ab:

Es werden erste Attacken auf die Maximen des demokratischen, liberalen Rechtsstaates geritten.

Gesellschaften geraten dann auf eine schiefe Bahn.

Für diese Attacken werden gute Gründe gesucht, um die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen.

Nicht jeder Angriff ist geplant, oft sind es einfach Reaktionen auf Umstände, die eintreten. Etwa, wenn die Opposition bedrohlich wird und vielleicht drauf und dran ist, Oberwasser zu bekommen, schränkt man ihre Artikulation ein.

Man hat nichts gegen freie Wahlen, solange man sie gewinnt. Aber wenn man verliert, dann achtet man die Regeln plötzlich nicht mehr, so wie Donald Trump, der nach seiner Abwahl einen Putsch inszenierte.

Damit all das ein wenig leichter funktionieren kann, wird die Medienfreiheit und -vielfalt beschnitten. Loyale Parteimedien und die Oligarchenpresse werden alimentiert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird zerschlagen, oder ausgehungert, seine prominentesten Mitarbeiter angeprangert und verleumdet.

Wut wird geschürt, denn negative Emotionen sind der Treibstoff für die Spaltung der Gesellschaft, den Hader, die Gereiztheit, von der die Autoritären leben.

Gegebenenfalls hetzt man Kritikern die Steuerbehörde an den Hals, die jeden Zettel umdreht, Verfahren einleitet und selbst wenn sie nichts findet, den Betrieb kritischer Medien lahmlegt.

Geschäftsmodelle lassen sich auch mit kleinen Gesetzesänderungen zerstören.

Das ist dann der Moment, in dem man reiche Oligarchenfreunderln vorschickt, die betreffenden Medien zu übernehmen.

Und irgendwann hat man dann weitgehend gleichgeschaltete Medien, die als das Sprachrohr der Macht fungieren.

Wenn die Verfassungsrichter nerven, schickt man auch nicht unbedingt Schwarzhemden mit Baseballschläger in die Höchstgerichte, wie in den dreißiger Jahren, man beschließt vielleicht besser Gesetze zur Zwangspensionierung und ersetzt die renitenten Verfassungshüter durch loyale Speichellecker.

Andersdenkende werden zu Feinden erklärt, und es ist nicht mehr die Opposition, die die Regierung attackiert, sondern umgekehrt, die Regierung, die die Opposition attackiert.

Es wird, vom rechten Populismus und vom rechten Extremismus eine Stimmung des „geistigen Bürgerkrieges“ geschürt – das ist ein Originalzitat von Götz Kubitschek, einem Vordenker der Neuen Rechten, den die FPÖ unlängst im Parlament eine Bühne bot. Der „geistige Bürgerkrieg“, das ist das Ziel, ganz offen ausgesprochen.

Die Rechtsextremisten machen das, wenn sie in Opposition sind, um den Zorn anzustacheln, der ihr Brandbeschleuniger ist, um den Empfänger der Erzählung – die Bürgerschaft – in einen permanenten Zustand wutentbrannter Empörung zu versetzen. Maximilian Krah, einer der Frontfiguren der AfD, hat das in seinem Buch „Politik von rechts“ jüngst in aufreizender Offenherzigkeit gesagt, nämlich dass die Politik darauf auszurichten sei „Menschen über die Ablehnung einer Entwicklung zu mobilisieren, statt über die Zustimmung zu einer positiven Aussage“.

Diese Politik des Zorns ist aber eben nicht nur ein Instrument, um an die Macht zu kommen, sie wird auch fortgesetzt und perfektioniert, sobald man an den Regierungshebeln sitzt. Wer anderer Meinung ist, wer einer Minderheit angehört, ja, die gesamte Vielfalt und Heterogenität unserer Gesellschaft wird eben nicht nur abgelehnt, sie wird in einer Strategie der andauernden Übertreibung zu einer Gefahr für Identität, zu einer Gefahr für Wohlstand, zu einer Gefahr für das Volk erklärt und in grellen Farben ausgemalt. Der Sinn davon ist, eine maximale Bedrohung zu zeichnen, zu deren Abwehr dann alle Mittel recht sind, also auch Mittel, die die Mehrheit zuvor womöglich noch abgelehnt hätte. All das geht Schritt für Schritt vor sich, oft vielleicht auch nur in kleinen Schritten, in einem Prozess der Allmählichkeit, einem schleichenden Prozess.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Die Demokratie verteidigen heißt, ganz konkret und in aller Genauigkeit auf diese Bedrohungen der Demokratie hinzuweisen, und das mit der nüchternen Unterscheidungsfähigkeit des Verstandes, aber zugleich auch mit Leidenschaft zu tun. Nicht mit Alarmismus, nicht mit Übertreibungen, sondern mit Vernünftigkeit und Entschiedenheit zugleich.

Die Demokratie ist ein Schatz, ein Schatz, der funkelt. Sie schützt die Vielfalt und Vielheit, achtet die Präferenzen eines jeden und einer jeden, und die Freiheitrechte der liberalen Demokratie sind eben genau das: Rechte, die den Einzelnen nicht nur vor der Willkür der Obrigkeit, sondern auch vom Konformitätsdruck der Mehrheit schützen, vor den Zumutungen einer behaupteten „Normalität“.

Sie, die Demokratie, ist ein andauerndes gesellschaftliches Gespräch, ein Selbstgespräch der Gesellschaft mit sich selbst, die die kontroversesten Positionen und Werte zu achten hat und ihr Recht, zu Wort zu kommen, gegen alle autoritären Anwandlungen verteidigen muss. Sie ist die Achtung des Rechts, und die Achtung des Andersdenkenden, sie ist das Abenteuer der Vernünftigkeit, das Wagnis, das wir unserer selbst wegen eingegangen sind. Sie ist das Wunder, der Traum von Generationen, die wir verwirklicht haben.

Wie alles in der Welt ist sie selten perfekt und gelegentlich auch ramponiert, und wenn sie an ihren eigenen Zielen, Ansprüchen und Normen scheitert, dann ist das ein Anlass, sie zu verbessern, nicht, sie aufs Spiel zu setzen.

Es ist, nicht zuletzt, der Auftrag der Generationen vor uns, die diese Ordnung der Freiheit unter Einsatz ihres Lebens erkämpft haben.

Und vergessen wir nicht, in all dem Getöse und Gereiztheit:

Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.

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