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Die Tragödie der Judith Butler

Sind Gendertheorie, Queer Studies und der Postkolonialismus völlig entgleist oder gar eine Sackgasse? Eine Ehrenrettung.

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Judith Bulter hat es wieder getan. Bei einer Debatte in Frankreich meinte die US-Professorin, eine der berühmtesten Intellektuellen der Welt, wir sollten das Hamas-Gemetzel vom 7. Oktober nicht als „Terroranschlag“ und auch nicht als „antisemitisch“ bezeichnen, sondern als „bewaffneten Widerstand“ gegen eine Gewaltherrschaft. Zwar hat sie damit das Blutbad keineswegs gerechtfertigt, immerhin hat sie hinzugefügt, dass wir, auf dieser Basis gewissermaßen, dann diskutieren könnten, ob es eine legitime Form des „bewaffneten Widerstandes“ sei oder nicht. Aber das sind dann schon eher Haarspaltereien. Der erwartbare Aufschrei blieb nicht aus. Schon vor vielen Jahren bezeichnete sie die Hamas, die Hisbollah und andere als „Progressive, auf der Linken, als Teil der globalen Linken“.

Bei aller Gutwilligkeit: da bleibt man nur mehr kopfschüttelnd zurück.

Eine Spielart der kulturellen Linken – die Schlagworte lauten dann schnell die „Woken“ oder die Anhänger von „Identitätspolitik“ – sind gegenwärtig sehr im Eck, sie zerlegen sich quasi selbst. Die Nachwehen und Verrücktheiten nach dem 7. Oktober und in Folge des Gazakrieges sind dafür ein Grund, aber nicht der einzige. Es gibt hier drei Gründe:

Erstens: Butler ist gewissermaßen die Ikone der „Gender Theory“ und der „Queer Studies“, die fixe Geschlechteridentitäten dekonstruierten und konventionelle Lebensformen angriffen, das, was man in dieser Denkschule die „Heteronormativität“ nennt. Viele Fans dieser Thorien der jüngeren Generation haben diesem Denken gewisse Breitenwirksamkeit beschafft, aber in den Augen vieler, etwa auch feministischer Zeitgenossinnen, auch massiv „übertrieben“. Das hat schon seit einiger Zeit sehr viel aggressive Ablehnung und Gegenwehr ausgelöst. Im linken Zirkelwesen grassieren neumodische Sprachspiele über „FLINTA“ oder Unfug-Rede über „weiblich gelesene Personen“. Das, so der Vorwurf, führe zu einer Isolation dieser radikalen, postmodernen Linken von den Lebensrealitäten der breiten Masse an Unterprivilegierten und schadet der Linken daher massiv. Für Konservative ist ein Kult von Queerness oder von Auflösung von Geschlechteridentitäten sowieso ein rotes Tuch, wir sehen das an den dauernden Triggerdebatten um Transpersonen.

Zweitens: In den auf Fragen von Identität und Lebensformen kaprizierten akademisch-linken Milieus sind nicht nur Fragen von Queerness en vogue, sondern auch Fragen von „Race“ – wie man in den USA dazu noch sagt – oder, wie man in unseren Breiten formulieren würde (da der Begriff „Rasse“ nicht mehr so leicht über die Lippen geht), von Ethnizität. Im Grunde haben die „Queer“-Theory und etwa die „postkoloniale Theorie“ nicht automatisch sehr viel miteinander zu tun, denn Benachteiligung durch Geschlecht, sexuelle Orientierung etc., und Unterdrückungserfahrung durch Hautfarbe, Herkunft, Ethnizität und Kolonialismus sind an sich ja zwei verschiedene Sachen, aber sie sind in der Realität doch eng verbunden. Erstens, weil einfach die Aktivistengruppen mehr oder weniger die gleichen sind, die sich in diesen Fragen engagieren, andererseits weil die betreffenden Denkschulen stets beteuern, dass Konflikte rund um Klasse, Sexualität, Geschlecht und Ethnizität miteinander verwoben sind. Sie haben, wie das in akademisch-exaltierten Diskursen nicht unüblich ist, dafür sogar einen eigenen Begriff erfunden, nämlich den der „Intersektionalität“. Klingt hochtrabend, ist aber banal. „Intersect“ heißt auf Englisch ja nichts anderes, als dass etwas verbunden sei, aufeinander einwirkt. Das ist also in etwa so, als würde man sich hinstellen und die Theorie des „Verbundismus“ oder der „Verwobität“ predigen.

Das klingt nur in einer Fremdsprache gut, in Deutsch enthüllt sie die Blödsinnigkeit schnell.

Hier wird mit Gigantomanie eine Banalität bemäntelt: Dass nichts auf der Welt monokausal ist und alles irgendwie miteinander verbunden, das ist jetzt nicht die größte Entdeckung seit Entwicklung des kopernikanischen Weltbildes.

Viele Denkschulen der postkolonialen Theorie haben die Ansicht stark gemacht, dass Herabsetzung und Unterprivilegiertheit durch Ethnizität auch dann weiter wirken, wenn rechtlich gesehen formale Gleichheit herrscht, und dass selbst die subtilsten Zurücksetzungen eine Form von Gewalt sind. Weiße dagegen seien, selbst wenn sie selbst unterprivilegiert sind, von dieser Gewalt niemals betroffen, und selbst wenn sie sich als Antirassisten verstehen, können sie sich angelernter rassistischer Stereotype nicht entziehen. Jedenfalls müssen sie sich diese mühsam abtrainieren, also verlernen. Sie müssen ihre „Identität“ verändern. In die Seelen von Minderheiten, von Nicht-Weißen, von Zuwanderern gar, schreiben sich die Rassismuserfahrungen als Abfolge von unendlich vielen Verwundungen ein. Und imperiale Unterdrückung ist nicht nur eine Sache aus der Vergangenheit. Machteffekte drücken sich nicht nur in manifester Repression aus, schon ein scheeler Blick kann ein Machteffekt sein. Nichts von all dem ist falsch, aber wie wir in der jüngsten Zeit erkennen konnten, kann diese „Theory“ einem dichotomischen Weltbild Tür und Tor öffnen, einer Mischung aus Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit, einem Schwarz-Weiß-Denken, bei dem die einen immer nur Täter, die anderen immer nur Opfer sind.

Der dritte Vorwurf: Diese „Identitätspolitik“, wie sie salopp genannt wird, spaltet. Unterschiedliche Gruppen konzentrieren sich nur mehr auf ihre eigenen speziellen Unterdrückungserfahrungen, mehr noch, es zieht ein konfrontativer Stil ein, der breite Allianzen erschwert oder sogar verunmöglicht. Ein weiterer, nicht unähnlicher Vorwurf lautet: Konflikte rund um Fragen von „Lebenskultur“ werden groß gemacht, aber die großen Konfliktlinien, etwa um materielle Interessen, um Klassenunterschiede geraten in den Hintergrund. Die arbeitenden Klassen sind nicht mehr aktionsfähig, weil sie dauernd um andere Themengruppen herum gespalten werden, etwa: Wie hältst du es mit Transtoiletten? Wie ist das mit dem Gendern? Wie soll man sprechen? Arbeitest du auch ehrlich deine Privilegien als Weißer auf? Hältst du bitte einmal die Klappe, damit auch mehr Unterprivilegierte endlich einmal zu Wort kommen? Eine Klasse, die eigentlich solidarisch agieren sollte, wird permanent gegeneinander aufgebracht.

Ich halte ja alle diese Kritikpunkte an der „Identitätspolitik“ für richtig und teile zumindest einige Aspekte dieser Kritik. Die überzogene Erfindung von dauernd neuen Begriffen ist ein bisschen lächerlich, aber auch noch schlimmer: Sie versucht Zurücksetzungen zu bekämpfen, indem sie, oft ohne es zu merken, neue schafft oder zementiert – wer nicht die gerade angesagtesten Begriffe kennt oder lernt, wird als zurückgebliebener Trottel hingestellt oder geschulmeistert und zurechtgewiesen. Was die einen ermächtigen soll, macht zugleich die anderen runter. Schwarz-Weiß-Denken kann im schlimmsten Fall Gewalt und so etwas wie leninistische Unbedingtheit nach sich ziehen. Und der konfrontative Stil spaltet und verhindert, dass Gutmeinende gemeinsam an einem Strang ziehen, die in Einzelfragen unterschiedliche Ansichten oder Empfindungen haben. Alles wahr.

Nur frage ich mich langsam, ob nicht die Gefahr besteht, dass wir damit auch das Kind mit dem Bade ausschütten.

Denn vieles an Gesellschaftsanalyse und -kritik von Gender-, Queer- und postkolonialer Theorie ist ja nicht nur wahr: Wir können und sollen hinter sie nie mehr zurück.

Judith Butler hat schon vor mehr als 25 Jahren einen berühmten Text geschrieben mit dem eleganten Titel „Lediglich kulturell“. Die Kämpfe um Queerness, Geschlechteridentitäten, Rassismus und Ethnizität nennt sie in diesem Text die „neuen sozialen Bewegungen“, die von marxistischen oder eher traditionellen linken Kritikern als „spalterisch, identitär und partikularistisch“ hingestellt werden, und während die alte Linke um materielle Fragen – ökonomische Gleichheit, ordentliche Löhne etc. – kämpfen wolle, seien, so referiert sie die Einwände, die neuen sozialen Bewegungen „lediglich kulturell“. Die Theorien, die die Bewegungen motivieren, etwa der „Poststrukturalismus“ seien „destruktiv, relativistisch und politisch lähmend“. Was Butler ins Visier nimmt, ist die in ihren Augen fragwürdige Unterscheidung zwischen „kulturellen“ Themen und „materieller“ Unterprivilegiertheit. Sie fragt: „Ist es überhaupt möglich, auf analytischer Ebene zwischen einem Mangel kultureller Anerkennung und materieller Unterdrückung zu unterscheiden, wenn genau jene Definition der Rechtspersönlichkeit rigoros durch kulturelle Normen begrenzt wird, die untrennbar mit ihren materiellen Effekten verknüpft sind?“

Einfacher gesagt: Wer als Angehörige/r einer Minderheit, die am Rand steht, definiert wird, der oder die wird kulturell abgewertet (beispielsweise das Ausländerkind, das doch schon mit einem Job als niedriger Hilfsarbeiter zufrieden sein kann), hat es daher aber auch materiell schwer. Noch einfacher gesagt: Rassismus und niedrige Löhne sind ja nicht zu trennen. Aber das gilt nicht nur für Minderheiten: Auch die Herablassung gegen die Arbeiterklasse, die als schlicht, ungebildet, unmodern, schlecht gekleidet „kulturell“ abgewertet wird, ist sowohl Folge als auch Ursache für ökonomische Ausbeutung. Das Kulturelle, so Butler, lasse sich nie unterschlagen. Es gibt nichts, was „lediglich kulturell“ ist. Der Aufstieg der Arbeiterklasse in den besten Zeiten unserer Geschichte brachte umgekehrt ja auch beides: Einen materiellen Aufstieg, ordentliche Löhne, Arbeitsrechte und zugleich einen Gewinn an Respektabilität, an Anerkennung und einen Zugang zu Bildung und Kunst und Kultur. Das Materielle und das Kulturelle – immer untrennbar verwoben.

Und da hat sie natürlich recht. Genauso wie die Vertreter der postkolonialen Theorie, die das Weiterwirken auch subtilster Unterdrückungsformen thematisieren, recht haben. Genauso wie sie natürlich auch recht haben, dass Angehörige einer Mehrheitsgesellschaft oft einen stereotypisierenden Blick haben, selbst wenn sie sich als Antirassisten begreifen. Das mag eine schmerzliche Wahrheit sein für jemanden wie beispielsweise mich, der ich ethnisch-kulturell Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft in meinem Land bin, aber deswegen ist es ja nicht falsch.

Und das gleiche gilt natürlich für die gesamten Themenkomplexe von Feminismus, Geschlecht, sexueller Orientierung, Queerness etc.

Wir haben es hier mit realen Konflikten zu tun, die eine lange Geschichte haben. Frauen waren lange unterdrückt, hatten nicht einmal formal gleiche Rechte und mussten sich vieles erst erkämpfen. Geschlechterrollen, Chancenungleichheit, Sexismus und ökonomische Ausbeutung sind Aspekte eines miteinander verbundenen Geschehens. Wir haben hier viel erreicht, aber es ist noch nicht alles getan. Das selbe gilt für Schwule, Lesben, etc. Es ist noch nicht lange her, da war jede Abweichung von der heterosexuellen Norm sogar illegal und als „pervers“ gebrandmarkt. Heute haben wir weitgehend einen Konsens, sogar bis in Konservative und rechtsextreme Kreise hinein, dass das Mist aus glücklicherweise versunkener Vergangenheit ist. Aber Jugendliche, die ihr Schwulsein oder Lesbischsein „entdecken“ (es ist ja meist eher ein Empfinden von Gewissheit, bei etwas, was man schon verspürte), haben es sehr oft immer noch schwer. Dass man irgendwie anders ist als die Mehrheit, ist nie leicht. Umso mehr, wenn oft noch die Umgebung mit Ressentiment reagiert. Das ist ja nicht völlig vorbei.

„Queer zu sein, macht mich mehr verletzlich“, notierte Susan Sontag in ihr Tagebuch, da war sie schon eine Starautorin. Ursprünglich bedeutete der Terminus „Queer“ übrigens nichts anderes als „eine seltsame, komische Person“ zu sein, und wie so oft wurde eine negative Vokabel von den Betroffenen dann ins Positive gekehrt. Komplex war das alles sowieso schon immer. Die offene, nonkonformistische Lebenskultur der Städte, etwa in den berühmten „Goldenen Zwanziger Jahren“ in Wien, Berlin und anderswo, war immer schon auch von den schwulen und lesbischen Lebensstilen geprägt, auch zu einer Zeit, als der Konformismus sexuelle „Devianz“ noch verfolgte.

Was aber auch nichts anderes heißt als: die radikale Freiheit von Lebensformen hat nicht nur das Leben derer besser gemacht, die direkt davon profitierten, sondern auch aller anderer. Mit ihr ging Freiheit für alle einher. Die freien Lebenskulturen der Städte wurden immer von „Abweichungen“ geprägt. Mit diesen ging auch die Freiheit einher, dass jeder seine kleinen eigenen „Abweichungen“ leben konnte. Man kann gewissermaßen „queer“ sein, ohne schwul oder lesbisch zu sein.

Kommen wir zurück zu Judith Butler, die heute so gerne als Protagonistin von Theorien angesehen wird, die völlig entgleist seien. Schon Simone de Beauvoir, vielleicht die wichtigste Stichwortgeberin des modernen Feminismus seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, hat in ihrem 1949 geschriebenen Buch „Das andere Geschlecht“, formuliert: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Damit war schon das Hineinzwängen in Geschlechterrollen angesprochen, eine Thematik, die die spätere „Gender Theory“ aufgreifen und zentral machen wird, am berühmtesten eben Butler in ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“. Butlers These, die zunächst vor allem im poststrukturalistischen Theoriemilieu rezipiert wurde, lautet, dass das soziale Geschlecht nichts mit Biologie zu tun habe, sondern sozial diskursiv konstituiert und reproduziert wird. „Geschlecht“ in biologisch-anatomischer Hinsicht und „Geschlechteridentität“ seien zwei unterschiedliche Dinge. Wenn man die Dinge durchdenke, so Butler, so deutet viel „auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechteridentitäten hin (...) Selbst wenn die anatomischen Geschlechter in ihrer Morphologie und biologischen Konstitution unproblematisch als binär erscheinen“ – etwas, was ohnehin auch nicht so klar ist –, „gibt es keinen Grund für die Annahme, dass es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten bleiben muss“. Überdies sind die konventionellen (und deshalb normierten) Geschlechteridentitäten nicht ohne der Vorstellung der Heterosexualität als Norm zu denken. Die Frau, die zur Frau gemacht wird, wird dazu in einem Verhältnis der Relation gemacht, auf deren anderen Seite das heterosexuelle männliche Begehren steht.

Wenn der „alte“ Feminismus noch die Identität „der Frau“ hochhielt, und gewissermaßen die Befreiung dieser Frau forderte, so macht Butler dieser Idee einen Strich durch die Rechnung, indem sie sagt: die Frau existiert doch gar nicht. Das ist auch der Grund dafür, dass der 70er-Jahre-Feminismus der lila Latzhosenfraktion auf die neue Theorie etwas gereizt reagierte, weil diese die Frau, ihre Körperlichkeit und alles, was damit zu tun hat, hochhielt, vielleicht sogar eine spezifisch weibliche Emotionalität feierte, die irgendwo im Bauch gleich neben der Gebärmutter schlummere und die im Gegensatz zur männlichen Kriegswelt stünde.

Mit Theorien dieser Art kam eine Spielart von Identitätspolitik auf, die Identitätskritik zugleich ist, und deren Bruchstücke heute jede rebellische Gymnasiastin kennt – wenngleich eher in popularisierter Form. Ein raffiniertes Geflecht von Bedeutungen: Identitätspolitik heißt, dass das „Ich“ ins Zentrum rückt, Identitätskritik heißt, dass die Idee einer irgendwie klaren, fixen, essentiellen, gar fremdbestimmt-genormten Identität zurückgewiesen wird. Butler selbst spricht von der „Verdinglichung der Geschlechterbeziehungen“.

Margaret Thatcher sagte einmal, so etwas wie eine Gesellschaft gäbe es nicht, es gäbe nur Individuen und deren Familien. Das war nicht nur ein neoliberaler Kampfslogan, es war auch eine dramatisch dumme Aussage. Eigentlich ist das Gegenteil wahr: Individuen gibt es nicht.

Wir bilden uns viel ein auf unsere persönliche Einzigartigkeit und dass wir das, was wir unsere Identität und unser Ich nennen, selbst erschaffen. Aber wir sind natürlich im Guten wie im Schlechten einfach Produkt der Verwobenheiten, in die wir eingespannt sind. Was wir an Gutem erreichen, verdanken wir den Umständen, und was uns behindert und niederdrückt ist auch nur selten unsere persönliche Beschränktheit. Was wir sein wollen – unser Selbstbild – kommt nicht aus unserem Inneren, sondern aus dem Fundus aus Selbstbild-Angeboten, die uns umgeben, und oft sogar aus den ausgetreten Pfaden und Konventionen, in die wir hineingezwungen werden. Es gibt nur Personen, die durch Gesellschaft zu dem gemacht werden, was sie sind. Überspitzt gesagt zumindest. Natürlich sind wir auch zugleich Co-Autoren unseres Ich.

All das ist wahr und die verschiedenen, heute so umstrittenen Theorien haben uns viel über diese Conditio Humaine zu sagen. Wir sollten sie, wie gesagt, nicht wie das Kind mit dem Bade ausschütten. Zugleich ist natürlich ebenso wahr: Radikalismus und Übertreibungen sind nie gut. Exaltiertheiten, die die Bildung von Allianzen verunmöglichen, sind die Pest. Gleiches gilt für Sektierertum, das verunmöglicht, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wenn legendäre Denkerinnen völlig entgleisen, ist das schmerzhaft mitanzusehen.

Betrachte ich die Videoclips von Judith Butlers umstrittenen Wortmeldungen und konzentriere ich mich nicht nur auf das Gesagte, sondern auch auf Körpersprache und Mienenspiel, dann habe ich immer den Eindruck, eine Frau zu sehen, die Angst hat. Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Sie ahnt schon, dass das, was sie jetzt sagt, ihr wieder einen Sturm der Entrüstung einträgt. Aber es gibt noch eine andere Angst, die sie möglicherweise dazu bringt, das zu sagen, was sie sagt. Die Angst vor dem Verlust des eigenen Resonanzraums. Die Angst, sich vor ihrem eigenen Publikum in die Nesseln zu setzen, das eigentlich kein Publikum ist, sondern ein Aktivistenmilieu, das sie zu brauchen glaubt, eine Anhängerschaft. Auch das ist gewissermaßen mit der Theorie eng verwoben. Theorien wie die von Butler glauben nicht an ein Wissen, das unabhängig vom Standpunkt ist. Aktivismus und Denken sind nicht getrennt, sondern verbunden. Das hat seine Stärken, aber auch seine Schwächen und eine tödliche Gefahr: Die denkende Aktivistin hat Panik davor, die Aktivistenmilieus zu verlieren, wenn sie etwas sagt, das diesen nicht passt. Daraus erwächst, was für Intellektuelle die wahrscheinlich größte Gefahr ist. Nicht Feigheit vor dem Feind, sondern Feigheit vor dem Freund. Würde sie die Hamas verurteilen, hätte sie ein Problem mit Teilen der eigenen Milieus, und dem versucht sie aus dem Weg zu gehen. Ich glaube, das zu sehen und zu spüren, und kann mich da natürlich irren. Aber genereller gesprochen ist das ein kaum zu leugnender Aspekt: Während der „freischwebende Intellektuelle“ an seiner Isolation leidet und an seiner Getrenntheit von konkreter Praxis, läuft der „organische Intellektuelle“ stets Gefahr, seiner Aktivistenmilieus nach dem Mund – und sich dabei um Kopf und Kragen zu reden.

Oder anders gesagt: Die Revolution frisst ihre Mütter.

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