Jungfrauen mit Holzgewehren
Vor Jahren habe ich einigen Halb-Weisen aus dem Abendland jede Menge Unsinn über Weihnachtsbräuche in der DDR erzählt. Seitdem habe ich Angst, diesen Quatsch in Zeitungen oder Schulbüchern zu finden.
Die Reue nach Betriebsweihnachtsfeiern hat viele Gesichter, oft eher Fratzen. Abgewehrte Knutsch-Attacken, peinliche Karaoke-Videos, Glühwein-Kater und -Katerinnen. Was ich allerdings seit einer solchen Feier mit mir herumschleppe, wiegt weitaus schwerer.
Das Schlimmste war schon überstanden: Die Rede der Verlagsleitung voller digitaler Verheißungen für den Hamburger Stern, gegen die der in Bethlehem mit seinen drei Followern und ein paar Probe-Abo-Hirten richtig alt aussah. Der Basar mit ungelesenen Rezensionsexemplaren, bei dem sich jedes Jahr Szenen abspielten wie 1990 am ersten Transporter mit Beate-Uhse-Katalogen auf dem Marktplatz von Leipzig. Sogar die schreckliche Top-40-Band. Mit ein paar Kollegen war ich noch auf einen Absacker in eine portugiesische Kneipe umgezogen.
Dort drehten sich die Gespräche weiter um den üblichen Redaktionstratsch, Neid um Themen und Korrespondentenstellen, bis die Runde, vom Alkohol sentimentalisiert, bei weihnachtlichen Kindheitserinnerungen landete. Wer etwa welche Rolle beim Krippenspiel ergattern konnte, was offenbar schon damals wichtig für einen westdeutschen Lebenslauf war.
Es saßen einige Marias am Tisch, Engel und Erzähler, alles Hauptrollen der Verkündigung - Journalisten eben. Und wie oft in solchen Konstellationen übte sich der einzige Weise aus dem Morgenland in staunendem Schweigen, bis mich ein Andreas - bei Vornamen soll es diesmal bleiben - fragte: Wie habt ihr eigentlich Weihnachten gefeiert, ich meine damals, in der DDR?
Fassungslos sah ich ihn an. Mein Gesicht muss derart entgleist sein, dass sich eine achtsame Kollegin sofort entschuldigte. Andreas habe das sicher nicht so gemeint. Bestimmt sei das alles nicht einfach gewesen mit Geschenken und religiösen Festen. Und ihr mitfühlender Einwand brachte mich überhaupt erst auf die Idee.
Ich holte tief Luft und sagte wahrheitsgemäß, dass es mir schwer falle, darauf zu antworten: Krippenspiele hätte es eigentlich nur in der Kinderkrippe gegeben. An Gold und Myrrhe könne ich mich auch nicht erinnern.
Wir hatten ja nichts, sogar weniger Jungfrauen.
Weil niemand lachte, wollte ich die Sache auch nicht mit einem schnöden „nur Spaß“ beenden. Der sowjetische Weihnachtsmann, erklärte ich stattdessen, sei leider jedes Jahr zwei Wochen zu spät gekommen. Vom gregorianischen Kalender hatten einige schon mal gehört, nichts aber von Väterchen Frost und seiner lieblichen Enkelin Snegurotschka. Nach ihr, so lernten sie nun, sei auch die berüchtigte Winter-Wehrübung der Jungpioniere benannt gewesen - das „Manöver Schneeflocke“. Und obwohl Westdeutsche damals noch nicht wieder alle von Wehrertüchtigung und Kriegsfähigkeit schwärmten, nahmen sie mir wahrscheinlich sogar ab, dass wir uns im Kinder-Feldlager von zehn Gramm kubanischer Ersatzschokolade ernähren mussten. Wöchentlich.
Einmal in Schwung, kann ich selten aufhören, über Not und Elend meiner Kindheit zu klagen. Es ist wie Tourette. Ich habe das schon an anderer Stelle bedauert. Der Trick ist eine Mischung aus Übertreibung, googlebaren Spuren der Wirklichkeit und ihrem schlechten Gewissen. Deshalb verschwieg ich natürlich auch die Kinder-Sonderschichten in der sozialistischen Produktion nicht. Unter dem Tarnnamen „Wichtel“ mussten wir Holzspielzeug für den Westexport schnitzen. Gut möglich, sagte ich traurig, dass die Sachen dann bei euch unterm Baum lagen.
Nach ein paar Sekunden Betroffenheit regte sich leiser Zweifel und nachträglich möchte ich der einzig skeptischen Kollegin gratulieren. Ich konnte sie nie leiden. Sie war eine typische Besserwisser-Maria, die nichts still in ihrem Herzen bewegen kann. Aber wie sich das für Journalisten gehört, hakte sie wenigstens nach und brachte sogar eine zweite Quelle ins Spiel. Ihre Verwandtschaft in Schwerin hätte ganz normal Weihnachten gefeiert, auch mit Kirchgang und so weiter. Vielleicht, sagte sie vorsichtig, sei es ja insgesamt doch diverser zugegangen in der DDR.
Wenn du meinst, antwortete ich mit schmalen Lippen, um danach zünftig aufzutrumpfen, wie ich es von anderen Randgruppen gelernt hatte: Zuerst wäre ja wohl mal zu klären, was „normale“ Weihnachten sind. Die Gänsefüßchen dabei waren nicht zu überhören, obwohl ich die Arme selbstgerecht verschränkte. Wer definiere das? Aus welcher privilegierten Position herab? Und ob es nicht sein könne, dass ihre Verwandten nur so getan hätten, um „normal“ zu erscheinen?
Manche Kollegen nickten ertappt. Und mit dem Instinkt eines lebenslang Marginalisierten holte ich zum moralischen Totschlag aus. Selbst wenn es diese Ausnahmen gab, belehrte ich die vorlaute Maria so leise wie eindringlich: Wolle sie damit etwa die Diktatur relativieren? Oder meine Erfahrung als Opfer entwerten?
Niederträchtiger geht es nicht, ich weiß - und erinnere mich , dass sofort eine kleine Strafe folgte. Um nicht lachen zu müssen, hatte ich mir triumphierend eine Handvoll Erdnüsse in den Mund geworfen und nun tatsächlich etwas in den falschen Hals bekommen. Auf einmal liefen echte Tränen über mein Gesicht. Man klopfte mir auf den Rücken, ich brauchte frische Luft. Und weil die Stimmung so oder so im Eimer war, löste sich die Runde betreten auf. Jedenfalls hatte ich keine Gelegenheit mehr, die Sache noch am gleichen Abend richtig zu stellen oder auch nur meinen Anteil an der Zeche zu zahlen.
Irgendein privilegierter Krippenspiel-Wessi muss das übernommen haben - oder die heilige Solidargemeinschaft. Zur Wahrheit gehört außerdem, dass ich als Kind in unserer Leipziger Kirchgemeinde immer nur textlose Hirten oder Schafe gespielt habe, weil es damals noch nicht so auf Hauptrollen ankam.
Die gute Nachricht könnte also sein: Auch DDR-Familien haben Weihnachten gefeiert, manche sogar „ganz normal.“ Aber so einfach ist es leider nicht. Immerhin habe ich meine ehemaligen Stern-Kollegen angelogen wie Herodes die Stern-Deuter aus dem Morgenland. Er wollte das Kind umbringen lassen, bei mir war es nur Schabernack. Und doch hat beides mit Deutungshoheit zu tun - und da wird es heikel, vor allem unter Journalisten.
Weil heute selbstbewusste Halb-Weise aus dem Abendland alles Mögliche deuten, „einordnen“ und kommentieren, steht womöglich irgendwann in Schulbüchern oder West-Zeitschriften, dass Kinder in der DDR an Feiertagen in Fabriken schuften mussten oder mit Holzgewehren Jungfrauen jagten.
Meine kleinlaute Weihnachtsbotschaft lautet deshalb: Glaubt nicht alles, nur weil ein Stern darüber steht! Nicht jeder kann ein Engel sein; die Welt braucht auch Hirten und Schafe.
© Holger Witzel 🍊🍊🍊🎃🍊 Weihnachten 2024