Passa al contenuto principale

Bodyguard im Reservat

Noch immer trampeln Westdeutsche allein und schutzlos durch ihre Protektorate im Osten. Das muss nicht sein. Engagieren Sie einfach einen erfahrenen indigenen Fremdenführer! Oder gleich den Besten – mich.

Lesedauer: 4 Minuten

Vorbildlich! So achtsam und sensibel geht es auf X zu.

Vor Wochen teilte eine Rechtsanwältin aus Nordrhein-Westfalen dem Rest der Welt mit, sie fahre heute nach Sachsen. Außerdem fragte sie auf der früher Twitter genannten Plattform X (Si apre in una nuova finestra) – mutmaßlich augenzwinkernd: „Gibt es da irgendwas zu beachten, um die Eingeborenen nicht zu verärgern?“

Zuerst habe ich auch geschmunzelt. Kurz nach den Landtagswahlen im Osten war der Tweet immerhin eine kleine Erfrischung zwischen Problem-Wähler-Analyse und dumpfer Nazi-Hysterie im Westen. Dann aber dachte ich: Was gibt es da eigentlich zu lachen?!

Gerade unter Xern, die sich sonst achtsam um jede Minderheit bemühen, wäre das doch auch ohne Ironie eine berechtigte Frage? Zudem machte ich mir Sorgen um die leichtfertige Juristin. Womöglich wollte sie nicht nur einen Gag landen, sondern irrte tatsächlich allein und unbewaffnet im Regionalexpress durch den wilden Osten. Und schließlich – typisch für die hiesigen Eingeborenen immer noch zuletzt – sah ich endlich eine neue berufliche Perspektive. Für mich.

Gleich am nächsten Tag verschickte ich Mails und Angebote an westdeutsche Firmen. Ich ließ eine Homepage drucken und Visitenkarten programmieren, bot Consulting, Seminare und Begleitschutz für heikle Missionen im Osten an. Und was soll ich sagen? Es läuft wie Sau. Kein Wunder bei meiner Expertise!

Knapp fünfundzwanzig Jahre habe ich ahnungslosen Wessis den nahen Osten erklären müssen. Ab und zu schickte mich die Hamburger Redaktion auch weiter weg, nach Grönland, Indien oder Ostwestfalen. Im Wesentlichen aber war ich für die rätselhaften Landsleute in Bitterfeld und Eisenhüttenstadt zuständig; für Sömmerda, Bautzen und das Elend dazwischen. Den Busch.

Schöne Landschaft, gefährliche Gegend

In Wahrheit ging es dabei nie um neue Erkenntnisse, die drei oder vier Abonnenten vor Ort oder gar darum, mit Klischees aufzuräumen. Nazis und Wölfe, schöne Landschaft, gefährliche Gegend – fertig war die Ost-Reportage. Dafür hielt sich jede große West-Postille, die etwas auf sich hielt, einen möglichst indigenen Buschläufer. „Unser“ Mann aus Leipzig, „unsere“ Kollegin aus Dresden, „aufgewachsen in der DDR“ – so wurden den eigenen Lesern authentische Stimmen von drüben vorgegaukelt. Es waren auch bei Spiegel und Zeit, FAZ oder Süddeutscher Zeitung oft nicht die schlechtesten Schreiberlinge. Wir kannten uns alle von Preisverleihungen oder erkannten uns an der weniger großen Fresse auf Hamburger Medienfesten. Man schmückte sich mit uns, gewissermaßen mit fremden Indianerfedern. Genutzt hat es wenig.

Anders als bei den ersten Expeditionen von West-Männern verstanden wir zwar die seltsamen Dialekte in den Ostgebieten und konnten manchmal sogar Unmut und Zorn in barrierefreies Westdeutsch übersetzen. Aber leisere Töne blieben allenfalls zwischen den Zeilen hängen. Wir waren Feigenblätter im Wind. Selbst als noch sauberer Journalismus gefragt war, also vor mindestens zehn Jahren, kam ich mir stets wie ein schäbiger Verräter „meiner“ Leute vor, die mir in Gesprächen als einem der ihren vertraut hatten.

Ein Gehalt, fast so üppig wie das meiner Hamburger Kollegen, war der Judaslohn. Weihnachten gab es extra Schmerzensgeld. Mit „Schnauze Wessi (Si apre in una nuova finestra)“ erlaubte man mir sogar ein kleines Ventil für Abscheu und Selbsthass. Warum das eines Tages nicht mehr reichte, werde ich an dieser Stelle demnächst auch noch verraten. (Newsletter abonnieren! (Si apre in una nuova finestra)) Dann wird es richtig schmutzig!

Jetzt wird erstmal als Diversity Coach richtig abkassiert.

Der Markt ist riesig, der Bedarf unüberschaubar und augenfällig zugleich. Ich schule Personalchefs und schlichte als Unterhändler in den Reservaten, etwa bei Umsiedlungen oder als Befindlichkeits-Scout für verunsicherte westdeutsch geführte Ministerien. Das Geschäftsfeld Wutmanagement wächst zweistellig, sogar die private Nachfrage für begleitete Wochenendausflüge in den Thüringer Wald. Lediglich Medienanfragen als Dolmetscher für Interviews sage ich inzwischen ab – zu gefährlich.

Nicht alle Naturvölker grüßen mit gebücktem Rücken. In Sachsen kann das auch Ablehnung bedeuten - oder die Suche nach einem Stein. Quelle: Liebig Chromos

Leider geht es meinen Klienten immer noch zu selten um Rücksichtnahme auf die Gefühle der ostelbischen Naturvölker, sondern nach wie vor eher um Geschäfte und Glasperlen. Einerseits haben sie Angst, das ist gut. Andererseits soll alles diskret und geräuschlos im Hintergrund laufen. Statt mit konkreten Referenzen aufzuwarten, kann ich deshalb das weite Feld meiner Dienstleistungen hier nur grob skizzieren:

Wie sage ich zum Beispiel meiner Belegschaft in Cottbus, dass ihre verlängerte Werkbank bald in der Ukraine steht, weil auch in Ostdeutschland zu hohe Mindestlöhne drohen? Darf ich eine hart sächselnde Bewerberin bei einem Vorstellungsgespräch in Dortmund fragen, wie lange sie schon im richtigen Deutschland lebt – und wo sie eigentlich herkommt?

Was antworte ich dem Wortführer eines Hooligan-Mobs, der mich in einer dunklen Gasse von Dresden als „Wessi-Schwein“ identifiziert hat und wissen will, was ich hier zu suchen hätte? Und wenn es eine Anführerin ist?

Welche Pronomen bevorzugen Ost-Nazi-Frauen überhaupt?

Oder stellen Sie sich vor, Ihre Tochter bringt einen jungen Mann aus Chemnitz mit nach Hause und Sie wissen nicht, wie Sie Ihre Vorbehalte kultursensibel ausdrücken sollen? Ein falsches Wort – und sie haut womöglich für immer ins Erzgebirge ab, studiert aus Trotz in Zittau und möchte künftig – Gott bewahre Sie und uns alle davor! – selbst als Ossi gelesen werden.

Dann ist guter Rat teuer, natürlich auch bei mir.

Für Tagessätze ab 2.000 Euro plus Mehrwertsteuer berate ich Firmen, die ihren Billigkrempel oder die Kollektion des vorvorletzten Frühjahrs losschlagen wollen. Bei kommunikativ höheren Ansprüchen wie Impfkampagnen oder Wahlkämpfen von im Osten traditionell nicht besonders gelittenen Parteien kommt selbstverständlich eine angemessene Entschädigung für meine Reputation vor Ort hinzu.

Als Führer für kleinere Touristengruppen auf Zonensafari bin ich jedoch auch schon für 500 Euro plus Spesen zu haben und sorge in haarigen Situationen mit speziellen Lauten für Deeskalation.

Unterschätzen Sie den gefährlichen Osten nicht! Teilen Sie dieses Angebot gern mit arglosen Besuchern. Bis Juni bin ich allerdings ausgebucht.

© Holger Witzel 🍊🍊🍊🎃🍊 2025