Folge 10
Etwas Altes: Als sei nichts gewesen
Montagmittag, Rathaus-Center Pankow. In der Selbstbedienungsbäckerei. Mein zehnjähriger Sohn und ich. Kakao und Kaffee. Eine Frau stürmt herein. „Ich würde mal einen Krankenwagen rufen. Da liegt ein alter Mann am Boden und macht komische Geräusche.“ Der Shopbetreiber geht hinaus. Genervt. Seine Mitarbeiterin wählt die 112. Ich mache mir eine innere Notiz: Erste-Hilfe-Auffrischungskurs machen!!! Stehe dann auf. Durchs Fenster sehe ich einen Mann über einem anderen Mann am Boden kauern. Erkenne die ruckartigen Bewegungen einer Herzdruckmassage. Es hilft jemand. Ein Glück. Bleich geworden erkläre ich meinem Kind die Situation. Wir sitzen stumm. Er liegt ja noch da. Neben ihm, erstarrt, seine Frau. Dahinter Gaffer.
Eine Frau kommt herein, nicht die von eben. Unvermittelt beginnt sie zu sprechen: „Auf keinen Fall mache ich das noch mal. Dreimal sind genug. Das wird man nicht mehr los.“ Was will sie? Absolution dafür, dass ein anderer hilft? Es vergeht eine unfassbar lange Zeit, bis der Krankenwagen kommt. Wir sind mitten in Berlin. Das nächste Krankenhaus ist 500 Meter entfernt. Nicht einer, sondern drei Rettungswagen kommen. Ein Sanitäter führt die Herzmassage fort. Irgendwann fahren die Krankenwagen weg. Zwei machen die Sirene an. Die Gaffer gehen ihrer Wege. Lebt der Mann noch? Mein Kind sagt: „Wie schlimm muss das für seine Frau gewesen sein ... und ... jetzt ... alles wie vorher. Als sei nichts gewesen. Schon vergessen.“
Zuerst publiziert in der Rubrik FÜNF MINUTEN STADT im Tagesspiegel am 26.10.2013
Etwas Neues: Mein Gärtnerinnen-Entwicklungsroman, Kurzfassung
Kindheit: Es gibt immer einen Garten, erst vor dem eigenen Haus (fotogestützte Erinnerung), dann vor dem gemieteten Haus (Super-8-gestützte Erinnerung, direkt dahinter liegt ein Feld, ein Mähdrescher fährt vorüber), dann vor der Erdgeschosswohnung im Block (sehr genaue eigene Erinnerung). Der Garten ist der Ort meiner Mutter, immer zupft sie irgendwas oder sie sitzt einfach still da und beobachtet die Vögel. (Dazu irgendwann viel mehr.) Auch bei meiner einen Oma gibt es einen Garten, ich kann mich genau an die Bepflanzung erinnern, könnte ihn zeichnen, aber gärtnerisch positive Gefühle lösen damals nur Früchte aus, die mir gut schmecken: Kirschen, Erdbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Pfirsiche, Mirabellen, Birnen, nicht ganz so toll, aber auch gut: rote Johannisbeeren, Stachelbeeren, Pflaumen, akzeptabel, weil gut in Pfannkuchen: Äpfel, weird, aber irgendwie auch interessant: schwarze Johannisbeeren. Quitten sind eine Provokation: wunderschön, aber unverarbeitet nicht essbar, der absolute Alptraum für ein Kind. Für Blumen interessiere ich mich nicht; wenn ich mich jetzt beim Schreiben aber genauer erinnere, haben aber sowohl meine Mutter als auch meine Oma überwiegend Blumen angepflanzt, die ich heute nicht sonderlich mag bzw. sie in Farben gehabt, die ich ästhetisch ablehne. Vielleicht wäre alles anders gelaufen und ich von Anfang an leidenschaftliche Gärtnerin gewesen, hätte man mich in einem englischen Landschaftspark mit kaltem Farbschema aufgezogen.
Jugend: Mein Vater und ich sind zu meiner Oma gezogen, um sie zu pflegen. Der Garten spaltet sich jetzt in zwei Räume auf: den der lästigen Pflicht (Johannisbeeren pflücken, Falläpfel aufsammeln) und den des Rückzugsraums bei schönem Wetter (Buch, Zeitschrift, Walkman). Blumen sind mir komplett egal. Ein Junge, den ich gut finde, kommt mich das erste Mal besuchen und checkt nicht, wie man aufs Gelände kommt, wir wohnen sehr abgelegen. Statt die Wiese heraufzukommen, schlägt er sich durch die die eine Grundstücksseite umgebende, zwei Meter hohe und drei Meter tiefe Brombeerhecke – die Dornröschenanalogie, er selbst bringt sie auf, ist eine schöne Eröffnungserzählung, sie passt als Hybrid aus Ironie und Romantik gut in die damalige Zeit.
22: Ich bin Studentin, lebe in der Großstadt und kaufe mir ab zu Schnittblumen, weiße Lilien, weil ich sie glamourös finde. Der Geruch ist mir latent unangenehm, später im Leben wird er Migräne erzeugen.
25: Ich entwickle Balkonsehnsucht, haber aber keinen. Deshalb baue ich mir mit einem Margeritenbäumchen im Topf in meinem WG-Zimmer in Neukölln eine balkonähnliche Atmosphäre am Fenster.
27: Ich habe endlich eine Wohnung mit Balkon und evolviere gärtnerisch, schleppe mit der U-Bahn riesige preisreduzierte Terrakottatöpfe nach Hause, Toscana im Wedding.
33: Mein Freund und ich haben eine Doppelhaushälfte in Lübars gemietet, ich wüte kurz vor der Niederkunft mit meinem zweiten Kind noch entschlossen mit der Gartenkralle herum und bekämpfe Giersch. Leider wird der Traum zum Alptraum, der große Hund der Nachbarin läuft frei im gemeinsamen Garten herum und scheißt, wo unsere Kinder spielen sollten. Mit einem Neugeborenen im Tragekorb und einem Hibiscus im Tontopf ziehen wir wieder um.
34: Wir haben in Pankow eine Wohnung mit zwei Balkonen und einer Loggia gefunden, ein Traum. Meine schönste Bepflanzung in der Zeit ist der Kinderbalkon mit gigantisch großen Cosmeen in großen Töpfen reihum auf dem Boden. Mein Schwiegervater, der Gartenarchitekt ist, sagt, dass er noch nie so riesige gesehen hätte. Es ist ein weiß-rosa Märchenwald.
36: Weil man bekanntlich den Hals nicht voll bekommt, mieten wir noch einen Schrebergarten an, 30 Minuten Radfahrzeit weit weg, direkt neben dem Hauptbahnhof, auf einem ehemaligen Gefängnisgelände. Wir wollen Gemüse anbauen, davon sehen wir jedoch schnell wieder ab, als wir beim Beetanlegen Grabsteinreste und Knochen ausgraben, die wir für menschliche halten. Blumen sind ja auch schön. Unser Gartennachbar ist ein Imam, wenn er grillt, reicht er uns manchmal einen Teller Köfte rüber. Und wir ihm ab und zu Kuchen. Seine Enkel und unsere Kinder spielen miteinander. Unser großes Kind lernt auf dem Weg vor dem Garten Radfahren. Es gibt in der Anlage auch Piefiges, Vereinsmeierei und Heckenkritik, aber alles bleibt im Rahmen. Das Zusammengärtnern auf engem, aber fair verteiltem Raum läuft so, wie ich mir Berlin und Deutschland vorstelle. Menschen sind unterschiedlich, aber man kommt klar, weil man nicht davon ausgeht, dass man nicht klarkommt.
Jetzt: Ich habe seit gut zehn Jahren einen wirklich großen Hausgarten, er war, weil der Vorbesitzer beim Gartenbauamt arbeitete, schon sehr gut angelegt, so dass ich meinem englischen Landschaftsgarten näher als zu erwarten gekommen bin. Ich habe nur sehr viele Pflanzen ausgetauscht. Blühpflanzen gibt es ausschließlich in kalten Farben, nein, stimmt ja gar nicht, neuerdings gibt es eine knallbunte Ausnahmezone. (Dazu irgendwann mehr.) Der Garten ist – abgesehen von meiner Familie, meinen Freund*innen und Laser – mein ganzes Glück. Je schlimmer die Welt und/oder Twitter ist, desto länger stehe ich einfach draußen rum und sehe Pflanzen beim Wachsen zu. Es ist, als würde dabei die graue Schlacke langsam wieder aus mir rausgezogen.
Das regenerierende Aufblumenstarren habe ich schon in der Weddinger Wohnung begonnen. Ich kann es nur empfehlen. Es ist nicht abhängig von der Gartengröße. Kletterpflanzen haben sich für mich in diesem Kontext als beste Companion-Pflanzen erwiesen.
Heute weiß ich, was meine Mutter damals im Garten gesucht und gefunden hat: Seelenfrieden, der auch für sie, rational betrachtet, ausgeschlossen war.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»The love of gardening is a seed once sown that never dies.« – Gertrude Jekyll
Etwas Uncooles: Plastikteilchen
Ich habe ein emotional sehr ambivalentes Verhältnis zu Plastik, viel Liebe, viel Abscheu, dazu wird bald ein längerer Text erscheinen. Plastik in Beeten aber ist der reine Horror. Es gibt wirklich keinen Zentimeter im Garten, wo sich nicht beim Umgraben winzige, leicht glänzende Plastikteilchen finden würden, Reste von irgendwelchen Verpackungen, Abdeckfolien, Töpfen aus den letzten 100 Jahren. Nicht nur das Meer ist voll damit, es ist buchstäblich der ganze Planet. »Reichsbürger«-Nazis haben Angst vor dem Austausch der Bevölkerung, ich vor dem Austausch des Erdreichs durch Plastik. Mir bleibt nichts anderes übrig, als jedes winzige Plastikfisselchen brav zum Müll zu tragen, was natürlich, gemessen am Ausmaß des Problems, nichts bringt. Als Kind habe ich mal eine Erzählung von Edgar Wallace gelesen, in der jemand glaubte, die Welt würde von Regenwürmern übernommen. Das ist für mich heute im Vergleich eine sehr beruhigende Vorstellung, vielleicht sind Regenwürmer ja achtsamere Kreaturen als Menschen. Nein, ganz sicher sind sie es, jede Spezies ist es. Was nützen einem Bewusstsein und Intellekt, wenn man nur Mist damit baut ...
Rubrikloses
The beach
Definiere Reichtum.
Wenn ich mal sehr ambitioniert bin, schreibe ich über Gartenkunst und Kolonialismus, kann aber sein, dass es nie passiert, weil ich mich nicht immer aufregen möchte.
Liebe kleine Formen in allen Welten.
Bei »Perfektion« werde ich niemals an ein Auto denken.
Guerlica
Zurück zu denen, die lieber nichts als andere sehen wollen. Wir sehen uns nächste Woche wieder. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
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