Weltreise
Ob sie genug Unterhosen eingepackt hätte, fragte sie sich, oder ob sie es vielleicht ein bisschen überschätzt mit dem Bedarf. Notfalls könnte sie sie auch waschen, einfach öfter waschen. Ihr Gepäck durfte nicht die 20 Kilos überschreiten, sonst kostet das extra, und die Fliege waren so günstig, dass sie ihrem Glück kaum glauben konnte. Kein Grund, es jetzt mit zu viel Gepäck teurer zu machen.
Dreizehn Stunden sollte sie fliegen, bis zur Hauptstadt, und dann noch ein nationaler Flug in den Süden, dort dann zack auf die Fähre, und danach nur noch eine schnelle Taxifahrt bis zum Camping-Platz am weißen Strand mit Palmen. Ein Katzensprung.
Sie war leicht, aber wirklich nur leicht, nervös, dass sie so lange alleine unterwegs sein wird. Ein halbes Jahr plante sie, sparte Geld, sie wollte so viele Länder wie sie kann bereisen, so viele neue Menschen kennenlernen, wie es nur ging. Sollte sie sich währenddessen entscheiden, die Reise zu verlängern, könnte sie sich auf Mama und Papa verlassen. Neues Essen, neue Luft, neues Licht, und vielleicht würde sie auf dieser Reise sogar sich selbst finden – so weit weg von zuhause wie es geht, genau dort musste sie liegen, diese Person, die sie schon immer sein wollte, am anderen Ende der Welt. Alles würde sich ändern. Sie würde sich ändern. Mama und Papa können bestimmt nicht glauben, dass ein brandneuer Mensch zurück zum Esstisch kehrt, sie würde stärker, klüger, vor allem aber interessanter nach dieser Reise sein – sie konnte es spüren und kaum erwarten.
Sie stieg in den Doppeldecker-Flugzeug. Von Vorne bis zum Ende durch, konnte sie nur blonde Köpfe sehen. Kein Problem, dachte sie. Sie trug ihre bunten Klamotten, lässig, weltoffen – sie war nicht einfach eine von diesen 371 Passagieren. Sie wollte nicht einfach nur Urlaub machen und den ganzen Tag Cocktails schlürfen – sie wollte etwas lernen, sich entfalten. Sie war auf einer vor allem spirituellen Reise, auf der Suche nach der Wahrheit, nach dem Sinn.
Arsch flach wie Fladenbrot, durfte sie endlich aufstehen und aussteigen. Die Luft draußen war warm und schwer, sie war erschöpft, aber voller Freude, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie holte ihren großen, schweren Rucksack aus dem Band und lief hinaus, wartete noch vier Stunden bis zu ihrem nationalen Flug in den Süden des Landes. Als sie endlich in ihrem Bungalow auf der kleinen Insel war, war sie erleichtert, schlief tief und lange.
Die nächsten Wochen verbrach sie in Restaurants und Cafés, Bars und Märkten, unterhielt sich viel mit anderen Reisenden, lernte viele spannenden Menschen kennen. Sie hüpfte von Insel zu Insel, aber sie ähnelten sich sehr. Mit der Lokalbevölkerung konnte sie sich leider nur minimal verständigen – ihre Sprachkenntnisse gingen kaum über Danke und Bitte hinaus und die Locals wiederum sprachen kein Englisch, obwohl sie in einer Region wohnten, die vom Tourismus lebte. Sie fand das zwar unverständlich, aber auch sympathisch. Sie hatten hier nicht so gute Schulen.
Sie verbrach mehrere Monate auf ruhigen Inseln in lauten Hostels und Strand-Bungalows, die auf Sand gebaut waren, machte drinking contests mit, tanzte unter dem Mondlicht, hatte Sex am Strand, probierte Acid und MDMA. Sie machte alles, was diese Orte zu bieten haben, mit, sie spielte die Inseln aus. Es war an der Zeit, sich mal eine Großstadt anzusehen.
Die Hauptstadt war großzügig zu ihr. Hier wurde sie im Hostel auf eine Rooftop-Party eingeladen, und lernte dort die Inhaberin eines Kaffee-Labels kennen, bei dem sie schon immer arbeiten wollte, weil Kaffee ihre Leidenschaft war, und sie gab ihr sogar ihre private Telefonnummer. Sie sollte sie anrufen, wenn sie zurück nach Hause kehrt, sagte die Inhaberin. Sie dachte, dass sie hier dort ankam, wo sie ihr ganzes Leben ankommen sollte, es musste ihr Schicksal sein. Diese Großstadt, die so herzlos zu so vielen anderen ist, war gut zu ihr – das musste an ihr liegen, sie war hier richtig. Und vor allem war sie hier frei.
Sie schaute sich Museen an, aß street food, trank Wassermelonen-Shakes und Gin-Tonic, lief durch kleine, enge Gassen, schaute in die Privatleben der Einhemischen hinein, in ihre winzigen kleinen Wohnungen, die kaum größer waren als eine Streichholzpackung. Mütter, Väter und Kinder, die auf dem Boden sitzen, gleich bei der Wohnungstür fernsehen, wie passen sie da überhaupt rein, ihr Bungalow war größer. Sie waren zwar arm, dafür aber sorglos und glücklich, dachte sie. Sie wünschte, sie könnte eine von ihnen sein.
Als sie am Ende ihrer Reise Mama und Papa anrief, um ihnen Bescheid zu sagen, dass sie bald endlich zurück fliegt, fragte sie Mama, was sie sich zu essen wünschte. Sie antwortete: "Einfach Nudeln mit Tomatensoße. Ich will wieder was normales." Sie kam in einem Sommer im grauen Deutschland an, es war kühl und nieselte, der Rucksack fühlte sich noch schwerer an als beim Abflug. Sie lief aus dem Flughafen heraus und ging zum Bahnhof. Sie kaufte sich eine Fahrkarte und steckte sie ins Portemonnaie. Als ein Kontrolleur kam, holte sie das Ticket raus und zeigte es dem Kontrolleur vor. Nur, sie hatte die Karte nicht entwertet, und das war so etwas wie schwarzfahren. Sie erklärte dem Kontrolleur, dass sie einfach vergaß, dass sie die Karte entwerten musste, weil sie seit Monaten im Ausland war, am reisen, und da vergisst man halt so belanglose Sachen wie Fahrkarten zu entwerten. Dem Kontrolleur schien das alles egal zu sein, sie musste trotzdem zahlen, auch wenn sie gerade vom Urlaub wiederkommt. Sie war nicht im Urlaub, sondern auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, korrigierte sie. Ob sie ihn gefunden habe, fragte der Kontrolleur. Sie wusste keine Antwort. Sie starrte ihn an, mit einer Rechnung in Höhe von 60 Euro in einer Hand, eine 12 Euro teure, nicht entwertete Fahrkarte in der anderen. "Einen schönen Tag noch", sagte der Kontrolleur und zog weiter.
Als sie zuhause ankam, war Mama an der Tür, lächelnd, und Papa war nicht da, er war Tennis spielen. Die Luft im Haus roch nach Kaffee, Tomate und Parmesan. Sie ging die Treppe hinauf, in ihr Zimmer rein, legte ihren schweren Rucksack auf den Boden. Sie öffnete ihren Schrank, holte sich frische Klamotten, ging duschen. Auf dem Treppenhaus, in ihrem Zimmer, im Flur, im Badezimmer, sah alles genauso aus wie vor ihrer Reise, nichts hatte sich bewegt, nichts hatte sich geändert. Noch nicht einmal sie, ihr Spiegelbild. Sie war immer noch genauso blass, als hätte sie die letzten Monate nicht in einem tropischen Klima verbracht. Und am schlimmsten war vielleicht, dass sie sich nicht anders fühlte. Sie wusste nur, dass sie hier und jetzt nicht wirklich sein möchte, dass sie am liebsten zurückkehren würde, wenn sie könnte, aber es war kein Wunschkonzert, das hier war ihr echtes Leben, der Ort, wo sie hingehört, und sie musste hier sein, weil sie nicht nur reisen kann, weil ihre Freundinnen und Familie hier waren. Sie ging die Treppe hinunter, setzte sich an den Esstisch. Mama fragte: "Und? Wie war dein Urlaub?"
Sie wusste keine Antwort.
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