Am Freitag kam es in meiner Heimatstadt zu etwas, was der Deutsche Wetterdienst als „klassisches Sommergewitter“ bezeichnete: Binnen einer Stunde fielen 50 Liter Wasser auf jeden Quadratmeter des Ortes, nach zwei Monaten Dürre konnten auch die Kleinstadtgärten solche Massen nicht aufnehmen, die Kanalisation war überfordert und das Wasser suchte sich den Weg des geringsten Widerstands. Der war, unter anderem, in unserem Keller. Und so verbrachte ich die vergangenen Tage damit, über den Wert von Dingen nachzudenken, die in diesem Keller in Bodennähe gelegen hatten. Was rettet man aufwändig, was wirft man weg? Und wie umgehen mit den vielen Sachen, die in der nassen Kiste weiter oben lagen und trocken blieben, die aber in den letzten 10 Jahren auch niemand gebraucht hat?
Viele, viele dieser Gegenstände waren Bücher. Ungefähr 50 bis 60 davon sind heute mit dem Papiermüll abgeholt worden, einige wenige trocknen vor sich hin, zwei dutzend haben ihren Weg in öffentliche Bücherschränke gefunden. Nicht alle Mitglieder meines Haushaltes konnten diesen Weg schmerzfrei mitansehen: Bücher wegwerfen, das ist emotional für viele Menschen nicht leicht zu verwinden. Ein Buch ist ja auch tatsächlich ein besonderes Ding: Darin stecken Monate, Jahre an Kopfarbeit, eine ganze Geisteswelt, die wir mit der Zivilisationstechnik Schrift abgekoppelt haben von der Funktionsfähigkeit des Gehirns, aus der sie kommt. Und im Gegensatz zum elektronischen Medium ist sie auch noch haptisch erfahrbar, man kann blättern und riechen, man spürt die Güte des Papiers. Und man sieht Büchern an, wie oft sie verwendet wurden. Ja, Bücher sind toll, keine Frage.
Aber alles Gute führt zu seiner eigenen Fetischisierung: Bücher, aber gerade auch das einzelne Buch, werden überhöht als Symbol für eine ganze Kultur und Zivilisation. Das wird immer dann offenbar, wenn dieser Anspruch auf die Realität dessen prallt, dass es eben doch nur ein Gegenstand aus totem, zerkleinerten Holz ist. Sehr anschaulich geschah das diese Woche mit diesem Tweet:
https://twitter.com/herbilis/status/1564239806254686208 (Si apre in una nuova finestra)Das „Bild des Schreckens“ ist eine zugegebenermaßen ruppige Umsetzung bibliothekarischer Normalität: Bücher werden weggeworfen. Das geschieht aus den unterschiedlichsten Gründen, weil sie kaputt sind und die Reparatur sich nicht lohnt, weil das Wissen veraltet ist, weil eine neue Auflage angeschafft wurde, weil die Bibliothek aufgelöst wird und so weiter. Es gibt viele Gründe für Büchereien, ihre Bestände zu entsorgen, nicht ein einziger lässt sich darauf zurückführen, dass Bibliothekar:innen Bücher hassen.
Was war dort geschehen? Die Räume der Fachschaftsinitiative der Bibliothekswissenschaften wurden renoviert und im Zuge dessen die dort stehenden Restbestände an Büchern entsorgt – nicht irgendwelche wertvollen Schriften, sondern Bücher, die offenbar seit 2005 zur Gratis-Mitnahme dort in Regalen standen und die niemand haben wollte (Si apre in una nuova finestra). Das wurde aus dem Ausgangstweet natürlich nicht deutlich (weil es der Urheber nicht wusste), weshalb sich ein Sturm der Empörung über die Bibliothek ergoss: So dürfe man mit Büchern nicht umgehen, warum hätte man sie nicht verschenkt oder verkauft, mitunter kam auch die Frage auf, warum nicht alles aufbewahrt wird, um Informationsverlust zu verhindern. Der Schilderung des Twitterusers und Germanisten Philip K., den ich vor Jahren einmal ganz kurz persönlich kennengelernt habe, nach nahmen viele Passant:innen aus den Haufen Bücher für sich mit. Das ist gut so, vielleicht finden die Bände in deren Wohnungen tatsächlich einen neuen Zweck, werden vielleicht sogar gelesen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber auch nicht gering, dass diese Bücher bald in öffentlichen Bücherschränken oder in „Zu verschenken“-Obstkisten am Straßenrand stehen.
Wahrscheinlich lernt man einen etwas kühleren Umgang mit Büchern auch, wenn man einmal an ihnen gearbeitet hat. Als Hilfskraft habe ich vor fast 15 Jahren täglich hunderte Signaturschilder auf Lehrbuch-Neuauflagen geklebt und diese dann im Magazin gegen die alten Bände ausgetauscht. Die meisten davon gingen auf Verschenken-Stapel oder zum Bücherflohmarkt. Rechtswissenschaftliche Literatur wurde direkt entsorgt, weil dort oft einschlägige Textstellen herausgeschnitten waren, damit die studentische Konkurrenz nicht mehr dran konnte. Einmal bekamen wir den bibliothekarischen Nachlass eines prominenten modernen Komponisten als vierte Institution angeliefert, was hieß: zwei Archive und eine Fachbibliothek hatten sich die Rosinen schon herausgepickt. Was übrig blieb, musste als „geschlossene Sammlung“ in unsere Bestände überführt werden und durfte aus kulturpolitischen Gründen nicht weggeworfen werden. Auch nicht die Hörzu-Ausgaben von Anfang der 1990er Jahre, die zwischen einigen Büchern geklemmt hatten. Das vermutlich bewahrenswerteste Buch war ein Band, in dem ich die Bleistift-Anmerkung „Geklaut aus der Bibliothek von Karlheinz Stockhausen“ entdeckte. Im Katalog ist das nicht verzeichnet.
Aber es bleibt das Problem, dass der Platz in Bibliotheken und auch Archiven nicht unendlich ist und deshalb aussortiert werden muss. Ganz auszuschließen ist dabei nicht, dass auch bewahrenswerte Dinge entsorgt werden. Damit das Risiko minimiert wird, entscheiden über solche Vorgänge ausgebildete Fachpersonen mit klaren Kriterien und ausgiebiger Berufserfahrung. Das Vertrauen sollten wir ihnen zugestehen.
Kritikwürdig ist also nicht das Entsorgen an sich. Der Modus hingegen kann natürlich hinterfragt werden: Die Bücher wurden achtlos auf die abgesperrte Fläche geworfen und bilden dort einen ungeordneten Haufen, mitten auf der Universitätsstraße, zwischen den verschiedensten wissenschaftlichen Gebäuden. Niemand erwartet, dass die an der Räumung und Renovierung beschäftigen Menschen die Bücher fein säuberlich einzeln im Container aufstapeln, aber rein aus Gründen der Öffentlichkeitsarbeit wäre es sinnvoll gewesen, sie zumindest gleich in ein entsprechendes Behältnis zu werfen.
Denn Öffentlichkeitsarbeit bedeutet ja nicht nur zu kommunizieren was richtig ist, sondern auch vorherzusehen, was an Unrichtigem behauptet werden kann: Im Ausgangstweet wird eine Assoziation zur Bücherverbrennung formuliert, die den dort Anwesenden wohl in den Kopf kam. Geografisch liegt das nahe: der heutige Bebelplatz, auf dem die erste große Bücherverbrennung im Mai 1933 stattfand, ist auf einem der im Tweet angehängten Fotos im Hintergrund erkennbar. Trotzdem ist die Assoziation falsch, sie ist ahistorisch und sie beleidigt die Bibliotheksangestellten zutiefst. Ohne zu tief in die Geschichte dieses Ereignisses einzugehen: Bei den Bücherverbrennungen ging es nicht um die Entsorgung von bedrucktem Papier, es ging um die Vernichtung der darauf gespeicherten Gedanken und nicht zuletzt um ein Gewaltsignal an jene, die diese Gedanken gedacht hatten. Die Öffentlichkeit war bei den Bücherverbrennungen das zentrale Element, auf einer Baustelle hingegen eine nur mit großem Aufwand zu verhindernde Nebenerscheinung. 1933 ging es darum, Inhalt zu zerstören, hier werden Kopien entsorgt. Assoziationen sind nicht immer rational, aber hier bestehen die einzigen Parallelen darin, dass wir in Berlin sind und Bücher involviert. Nicht jeder flüchtige Gedanke im Kopf muss es wert sein, ihn so zu veröffentlichen, dass er zwangsläufig auf bei denen ankommt, die damit in die Nähe von SA, Hitlerjugend und NS-Studentenschaft gerückt werden.
Was sonst noch war:
Christian Ströbele hat eines dieser Leben gelebt, anhand derer man Geschichte erzählen kann – hier die der westdeutschen Linken von RAF über Grüne bis in Berliner Hauptstadthipsterviertel. Michael Sontheimer hat ihm einen großartigen Nachruf geschrieben, der nichts auslässt, viel würdigt und subjektiv liebevoll ist: https://taz.de/Christian-Stroebele-ist-gestorben/!5878473/ (Si apre in una nuova finestra)