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Eine Woche Krieg und es ist faszinierend, wie schnell man sich mit dem Ungewöhnbaren arrangiert, ohne es erträglicher zu finden. Der „Westen“, eigentlich fast die gesamte Welt, hat sich immerhin schnell zu tatsächlichen Konsequenzen zusammengefunden. Ob das auch in der deutschen Außenpolitik gleich ein Paradigmenwechsel ist, wie zuletzt häufig zu lesen, wage ich zu bezweifeln: es ist eine Revision der Entspannungs- oder vielleicht eher Erholungsaußenpolitik der letzten 30 Jahre, aber nichts, was wir in der Bundesrepublik nicht schon als diplomatischen wie militärischen Grundkonsens gehabt hätten.

Als Historiker, der es gewohnt ist, den Ausgang der Sache zu kennen, sitze ich jedenfalls recht ratlos vor der Gegenwart des Krieges und flüchte mich in die unbeantwortbaren Metathemen: Wie wird die Geschichtswissenschaft mal auf diese Zeit zurückblicken? Gestern kam mir der Gedanke, dass Schulkinder in Jahrzehnten beim Blick auf die 2020er Jahre vielleicht das Corona-Kapitel ganz überspringen, weil es in der Rückschau nicht relevant genug wirkt – so wie wir zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg und ein bisschen Weimar, Völkerbund und Inflation die sog. Spanische Grippe fast vergessen hatten, eine Pandemie als „Nice to know“-Faktoid.

Andreas Rödder, der in den letzten Jahren zunehmend aus der W3-Professur mit dem Umweg Feuilleton ins nächste CDU-Schattenkabinett drängt, ist diese Frage auch vom Redaktionsnetzwerk Deutschland gestellt (Si apre in una nuova finestra) worden: Er hat sich natürlich nicht mehr der Unmöglichkeit aufgehalten zu prognostizieren, wie man in 100 Jahren über uns denkt, sondern unsere Gegenwart als Weiche begriffen mit zwei möglichen Routen der Welt: Dem Wiedererstarken oder dem Versagen des „Westens“. So weit so banal.

Interessanter ist, was Rödder ganz realpolitisch als Lehre aus Putins Krieg zieht und womit er nicht alleine dasteht:

„Das bedeutet auch, mehr Geld für Militär zu Verfügung zu stellen – und im Zweifelsfall abzuwägen, was wir dringender brauchen: funktionierende Streitkräfte oder hauptamtliche Diversitätsbeauftragte.“

Diese Idee, dass Diversität, Minderheitenrechte, Identitätspolitik oder all das andere linke Hippiegedö… äh, politische Programm unsere Verteidigungsfähigkeit geschliffen hätten, ließ sich in der vergangenen Woche sehr häufig lesen. Es ist einer der schäbigeren Versuche, eine Notlage gegen eine andere auszuspielen, die Diskriminierung von Menschen zu einer Art Luxusproblem zu machen. Destilliert man diese Idee auf ihren Kern herunter, kommt dabei heraus: Um gegen den illiberalen geopolitischen Gegner zu bestehen, müssen wir Liberalismus aufgeben.

So absurd schon der Gedanke ist, so absurd ist auch die Grundannahme, dass das Gehalt eines hauptamtlichen Diversitätsbeauftragten Deutschland auch nur einen Soldaten, ein Gewehr, eine Panzersperre vorenthalten würde. Ginge es Rödder tatsächlich um die Finanzierung einer modernen, funktionierenden Armee, hätte es sicher realistischere Einspar- oder auch Steuerbeispiele gegeben. Hier will aber jemand alte Rechnungen begleichen und nicht nur außenpolitisch zurück in die Logik der frühen Kohl-Republik. Bei anderen Wortmeldungen lässt sich noch deutlicher eine Sehnsucht feststellen nach einer Außenpolitik, die aus Männern besteht, die sich eigentlich in ihrer Weltsicht sehr ähnlich sind; die Menschen nur für sich sterben lassen, weil sie halt ihr eigenes Land für das Beste halten. Die Bewunderung eines Ulf Poschardt für die herkömmliche Maskulinität Putins wird nur mühsam übertüncht von seiner persönlichen Westbindung.

Das ist alles nicht neu: Konservative Modernitätskritik hat schon häufiger progressive Kulturwandler für reaktionäre Gewalt verantwortlich gemacht. Die Anhänger:innen einer Kulturzyklentheorie haben die Menschheitsgeschichte als Aufstieg und Zersetzung einzelner Hochkulturen beschrieben, also als Gegenteil einer marxistischen Fortschrittsgeschichte. Und natürlich wendete man eine solche Theorie dann auch immer auf die eigene Kultur an und wähnte sich im Niedergang. Niedergang kann aber nur durch zwei Impulse hervorgerufen werden: eine Zerstörung von außen oder eine Zersetzung von innen. Diese Zersetzung kommt aber natürlich nicht von denen, die die Hochkultur bewahren wollen, sondern von den Progressiven. Am ausführlichsten ausbuchstabiert worden ist das natürlich in der Zeit der Weimarer Republik, die gerade in den deutschen Großstädten (auch das kennt man als konservative Chiffre des Jahres 2022) eine besondere Form von Liberalismus, Urbanität und Kulturoptimismus entwickelte, die von konservativer Seite als Dekadenz betrachtet wurde.

Die Konservativen befinden sich somit als aktive Partei in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess: Wir führen ihn seit zehn bis zwanzig Jahren identitätspolitisch und seit einigen Jahren über die Klimapolitik. Beides, der (finanzielle) Aufwand für Minderheitenrechte und die mit erheblichem wirtschaftlichen Aufwand betriebene Abmilderung des Klimawandels, wird insofern als „dekadent“ betrachtet, weil es Geld kostet, das durch Ignorieren für andere Zwecke zur Verfügung stünde.

Kommt nun als zweiter Impuls der Kulturzyklentheorie noch die Bedrohung von außen hinzu, liegt natürlich die Erklärung nahe, dass diese Bedrohung erst möglich wurde, weil die Zersetzung von innen die Abwehrkräfte der Zivilisation zerstört haben. Die Erklärung hat etwas Tröstliches: Auf das Unveränderbare, also die Drohgebärden und Gewalttaten eines Putin-Russlands, kann man den Blick richten mit dem Vorwurf an die eigene Gender-Gaga-Gleichstellungs-Gesellschaft, die dafür ja irgendwie verantwortlich sei.

Gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit, aus dem Ausnahmezustand konkretes politisches Kapital zu ziehen: gerade in Deutschland ist das für Konservative gerade sehr wichtig, weil ihr natürlicher Koalitionspartner FDP zu Rot-Grün rübergemacht hat. Der bundesrepublikanische Liberalismus der FDP der letzten 40 Jahre ist also nicht mehr so selbstverständlich mit CDU und CSU verknüpft, erstmals seit 1982 muss man keine Rücksicht auf ihn nehmen, sondern hat ihn aus der Oppositionsrolle heraus sogar gemäß der eigenen Rolle zu kritisieren. Deutsche Konservative sind erstmals seit Jahrzehnten in der Lage, ohne Rücksicht auf Verluste ein eigenes Profil zu schärfen. Bislang scheitern sie damit, weil eine ganze Generation nicht gelernt hat, wie Opposition geht. Das Aufrechnen von militärischer Abwehrbereitschaft gegen individuelle Freiheitsrechte ist also auch ein Aushandlungsprozess innerhalb der inner- wie außerparlamentarischen Opposition, wie man denn nun damit umgeht nicht am Steuer zu sitzen.

Wir befinden uns hier also, das ist zumindest mein Eindruck, nicht inmitten eines Paradigmenwechsels, sondern in einem neuen Kapitel des Aushandlungsprozesses. Ich halte diese Argumente für nicht funktionabel, aber auch nicht für neu: Sie ähneln denen, die für jedes Unwetter allein den menschengemachten Klimawandel verantwortlich machen. Redlich ist beides nicht. Das wird im Laufe des Aushandlungsprozesses auch bald wieder zur Sprache kommen. Uninteressant wird es jedenfalls nicht. Selbst wenn wir uns das vermutlich alle wünschen würden.

Was noch war:

Jörg Baberowski hat für das „Deutschland Archiv“ der Bundeszentrale für politische Bildung einen exzellenten kurzen Text geschrieben, der miserabel bebildert wurde. Ja, wirklich. Ich empfehle uneingeschränkt zur Lektüre, gerade weil Baberowski es schafft die externe Brachialität von Putin in den bequem gewordenen Westen zu skizzieren, ohne dabei die Dekadenzvorwürfe aus der Schublade zu holen. Und nebenbei erklärt er noch den imperialen Kontext des postsowjetischen Russland: 

https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/505793/das-verhaengnis-des-imperiums-in-den-koepfen/ (Si apre in una nuova finestra)

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