Hallo!
Sollen wir eine Abkürzung für „Weltuntergangsverbesserung“ einführen? Wie wäre es mit „Wetugabung“? Auch als Hashtag schön, eigentlich: #wetugabung. Mir kommt dazu gleich „Weggabelung“ in den Kopf, und stehen wir nicht alle immer am Scheideweg? (Heinz G. Konsalik, „Arzt am Scheideweg“ - gab es das, oder verwechsle ich das mit dem „Arzt von Stalingrad“? Ach, Deutschland.)
In den vergangenen Wochen habe ich sehr schöne Stadtspaziergänge mit einer (zahlenden!) Abonnentin unternommen, auf denen wir gemeinsam Architektur verachten und ganz ganz selten auch mal durchgehen lassen. Meistens kommen wir dabei leider hier vorbei:
Gut. Das ist, was es ist. Das hätte nicht sein müssen, ist aber da. Wir stehen davor, an der Ekelschwelle, im Grunde ein reizvoller Ort. Jede muss selbst wissen, wie lange sie dort verweilen will. Aber wenn man diese Installation einmal gesehen hat, kann man sie nicht wieder ungesehen machen. Um Marlon Brando am Ende von „Acopalypse Now“ zu zitieren: „The horror… the horror…“
Viele bildende Künstler*innen würden mit ihrer Arbeit gerne so viel Eindruck machen wie dieser Unfall in der Gastro-Werbung, aus dem wir lernen, dass die Infrastruktur in Berlin inzwischen ganz auf betrunkene Tourist*innen ausgerichtet ist. Denn wer würde das nüchtern bestellen?
Geschmacksnerven am Scheideweg.
1. Die Lage
Auch Prominente haben den Bundespräsidenten gewählt. Gut. Das ist, was es ist. Das hätte nicht sein müssen, ist aber so. Atemlos meldete die ZEIT am Wahltag: „Viele Prominente schon vor Ort!“ Für den Teil der Leserschaft, die sofort informiert werden möchte, wenn die Kutsche von Roland Kaiser vorfährt.
Der bei mir um die Ecke von der Politik und ihrem Hofstaat aus Prominenz wiedergewählte Bundespräsident wurde dann mit den Worten zitiert: „Wer die Demokratie ablehnt, hat mich zum Feind!“ Das wurde als Zeichen der Entschlossenheit gewertet.
Ich muss gestehen, dass ich vor Satz und Wertung so ratlos stehe wie vor dem Street-Art-Mobile aus in fettige Teigwürste eingefassten Spiegeleiern. Was muss in einer demokratisch verfassten Republik schon alles schief gegangen sein, wenn ein Bundespräsident so einen Allgemeinplatz von sich zu geben sich gedrängt fühlt? Und diese Selbstverständlichkeit dann als Wagemut ausgelegt wird? Was ist da alles schon verloren?
Ich stelle mir eine internationale Gemeinschaft aus Ego-Shooter-Zockern vor, die völlig zugekokst DESTROY DEMOCRACY spielen, bämbämbämbäm. Und ihr Endboss ist – Frank Walter Steinmeier. Der Präsident eines Landes, in dem man sich ganz oben in Verlegerkreisen immer noch vorbehält, Verteidiger der Demokratie als Teil einer linken Verschwörung zu denunzieren. In der man sich mit einer bestimmten Elite arrangieren muss, die Demokratie nur so lange stützt, wie sie den eigenen Geschäftsinteressen nutzt. Aber dazu später mehr unter der Rubrik „Promiklatsch“.
Man weiß heutzutage gar nicht mehr, wo der Promiklatsch anfängt und wo er aufhört, man kann nur beten, dass man nie eine Talkshow bekommt oder das Bundesverdienstkreuz oder aus Versehen neben Juli Zeh im Regionalzug aufs Dorf sitzt, wo man gemeinsam mit ihr versuchen muss, Rechtsradikale zu verstehen. Angeblich leben wir in einer Republik, als Gleiche unter Gleichen, aber zu viele Menschen verdienen zu viel Geld damit, sie als höfische Gesellschaft abzubilden.
Schade eigentlich.
2. Tier des Monats
Heute behandle ich der Einfachheit halber die ganze Tierwelt. Anlass ist ein schönes Interview mit dem Verhaltensbiologen Karsten Brensing in der taz, das ich unten verlinke. Brensing hakt sich in die in diesem Newsletter veröffentlichten Ergebnisse meiner Krähenforschung ein und stellt grundsätzlich infrage, ob sich die Unterscheidung zwischen Tieren als Instinktwesen und Menschen als Vernunftwesen aufrecht erhalten lässt. Ob also, um das weiterzudenken, die Behauptung von der Überlegenheit des Menschen über die Tiere – jedenfalls alle einem Pantoffeltierchen an Komplexität überlegenen Tiere – nichts anderes ist als die Machtphantasie skrupelloser Conquistadores. Muss das Tierreich dekolonialisiert werden? Karsten Brensing, Donna Haraway und ich finden: ja. (Und dabei hätten wir noch nicht einmal angefangen, über die Intelligenz von Algen und Flechten zu sprechen.)
Am Ende des Interviews steht dann die Frage, ob man Tiere noch essen darf.
An dieser Stelle möchte ich vom Veganerüberfall auf die Berliner U-Bahnlinie 8 berichten, in den ich vor ein paar Wochen geraten bin. Vier Männer und eine Frau stürmten den Waggon. Die Männer platzierten sich im Geviert an den Türen und hielten den beiden Abteilen links und rechts Laptop-Bildschirme hin, über die zu dräuender Musik entsetzliche Videos aus Schlachthäusern und Legebatterien flimmerten.
Kinder, die davon traumatisiert worden wären, waren nur zufällig nicht zugegen. Zu den Videos rief die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, dass jedes tote Tier eines zu viel sei und alles Tierleid sofort beendet werden müsse. Weil: Tiere seien wie wir, denkende, fühlende Wesen. Auf den Laptopbildschirmen gab es nun Bilder glücklicher, kuschliger Bisons auf offener Weide zu harmonischen Klängen.
In der Vereinfachung eher schwierig. In der Übergriffigkeit des Auftritts auch.
Tiere fressen regelmäßig Tiere. Es gibt Tiere, die Menschen fressen, sobald man sie lässt. Oder auch völlig unvermittelt. Es gab und gibt außerdem Menschen, die Menschen fressen. Es gibt sogar Pflanzen die Tiere fressen.
Es gibt überhaupt dieses andauernde einander Verschlingen und Verdauen, dieses einander in andere Energiezustände Versetzen, ohne das es kein Leben gäbe. Natur! Allein die Machtfrage haben bisher nur die Menschen gestellt und auf eine furchterregende und für sich und alle anderen zerstörerische Weise beantwortet.
Karsten Brensing fordert, die Tiere zu "vermenschlichen". Ich weiß nicht, welchem Menschenbild wir dabei folgen sollen – Menschen behandeln auch andere Menschen sehr gern „wie Tiere“. Menschen sind also kein wirklich gutes Vorbild. Außerdem weiß ich nicht, ob der Bison als Haus- oder Kuscheltier überhaupt ein glücklicheres oder weniger kolonisiertes Tier wäre.
Gut. Das ist, was es ist.
Vielleicht muss ich das Mensch-Tier-Verhältnis mit meinen Krähen neu aushandeln. Aber in welcher Sprache? Sie haben mir bisher jedenfalls noch nicht signalisiert, dass sie sich gern vermenschlichen oder verniedlichen lassen würden.
Aber sie signalisieren mir, dass sie Kontakt wollen. Einen Kontakt – behaupte ich – , in dem sie als das gesehen werden, was sie sind. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In einem nicht funktionalisierbarem Nebeneinander, das gegen Hierarchisierung und Ausbeutung ebenso immun ist wie gegen Verkitschung.
3. Promiklatsch
Nun zum Tier im Mann, zum Mann als Tier.
Böhmermann.
Diese Fleisch gewordene Einladung zum Fremdschämen, diese mit dem Schwung ganz alter Schule präsentierte Daueranmaßung mit dieser stolzen Teigwürstchen- und Spiegeleihaftigkeit, diesem postmoderne Johannes-Heesters-Elan, diesem metaglamouröse Männlichkeitsverzicht, die ich mir jede Woche angucken muss, weil meine Partnerin mich dazu zwingt.
Was man ihm alles zubilligen muss, und wie er einen immer wieder quengelnd zwingt, es zu tun! Zähneknirschend.
Böhmermann ist der, der sich die Freiheiten der freiheitlichen Gesellschaft einfach herausnimmt, mit einer Feindschaft gegenüber den Feinden der Demokratie, wie sie der Bundespräsident nie wagen würde. Weil der Bundespräsident ja immer noch dem Dogma folgt, dass man die Republik nicht spalten darf, nicht einmal in ihre Verteidiger*innen und ihre Totengräber*innen. Appeasement. Der Chamberlain-Komplex. Ein Erfolgsmodell, wie wir wissen.
Wie konnte es so weit kommen, dass Böhmermann hinter dem Buprä aufwischen muss? Sagen die einen. Während die anderen sagen: Wie konnte es soweit kommen, dass sein "ZDF Magazin Royale" überhaupt gesendet werden darf und die Öffentlich-Rechtlichen noch finanziert werden? Dabei beharrt der Große Moderator immer darauf, nichts anderes zu sein als ein Spießer, den man einfach nicht los wird.
Diese kurze Hymne ist ein Zeichen meines Stockholm-Syndroms, nach monatelanger Geiselhaft vor dem "ZDF Magazin Royale", dieser cringigen, ranschmeißerischen Nebenstelle der Bundeszentrale für politische Bildung, ich bitte um Entschuldigung, ich kann ja nichts dafür. Meine Partnerin ist Schuld. Ein Video findet ihr unten, es behandelt den Fall Peter Thiel, des US-deutschen Milliardärs, der Freiheit und Demokratie nicht vereinbar findet, der aber zu viel Einfluss haben dürfte, um vom Bundespräsidenten zum Feind erklärt zu werden. Das muss man ja noch sagen dürfen.
4. Buchtipp
Auf meiner Leseliste steht der Essay "Gemeinschaft der Ungewählten" von Sabine Hark (Soziologie, Gender Studies etc.) Ich habe ihn noch nicht gelesen, aber es geht vielleicht grundsätzlich auch darum, die Beschwörung des "Wir-Gefühls" nicht Giovanni di Lorenzo zu überlassen.
Der Jungle World 38/21 nach ist das Buch aber Mist: „Grundsatzdiskussionen sind überfällig, doch der faktenbefreite und mediokre Essayismus der Gender Studies zeigt, dass daran kein Interesse besteht.“ Das ist ein sehr spannender Text, weil er Absatz für Absatz seine Ablehnung der Person der Autorin, der Gender Studies und ihres Essays zum Ausdruck zu bringt, ohne sie jemals wirklich zu begründen - ich verlinke ihn unten.
Was ich aus dem Verriss mitnehme, ist die schwer zu widerlegende Kritik am Begriff der Gemeinschaft als schwammig und ungefähr. Und um die Formulierung eines positiven Begriffs von Gemeinschaft geht es hier - wobei es sich um eine von allen freiwillig gebildete Gemeinschaft handeln dürfte und nicht um eine mit revolutionären Mitteln erkämpfte Zwangsgemeinschaft, was das Buch natürlich sofort unter Liberalismusverdacht stellt.
Für das Online-Magazin "Geschichte der Gegenwart" hat Sabine Hark gerade den Essay "Mit dem Virus leben. Politiken der Sorge in der Pandemie" veröffentlicht, ich verlinke ihn unten. Und was ich dort finde, verführt mich dazu, dem Harkschen Begriff der Gemeinschaft und Sorge doch eine Art revolutionäres Potential zuzusprechen, nämlich im notwendigen Kampf gegen den Neoliberalismus. Denn die "Politik der Sorge", die Hark sich wünscht, lässt sich nur in direkter Konfrontation mit der Politik der Vorteilsnahme erkämpfen, einer Konfrontation, die an Härte vielleicht auch die Autoren der "Jungle World" zufriedenstellen könne. (Die Politik der Vorteilsnahme ist ein scharfer Schnaps, den Christian Lindner als edlen Cognac vertreibt, und die Querdenker verkloppen ihn als selbstgebrannten Wodka.)
Hoffentlich kann ich Sabine Harks Buch bald lesen. Ich sehne mich jedenfalls nach Gemeinschaft.
5. Schlusswort
Hier möchte ich erschöpft schließen. Ziemlich begriffslastig ist diese Ausgabe geworden, hoffentlich ist sie trotzdem verdaulich. Danke fürs Lesen. Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Frohen Valentinstag! Und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn diese Texte Spaß machen und das Geld reicht. Jeder Cent hilft bei der Errichtung eines "Wir" im Nebeneinander, großes Eherenwort!
Links & Vids
Karsten Brensing:
https://taz.de/Biologe-ueber-denkende-Lebewesen/!5832912/ (Si apre in una nuova finestra)Böhmermann:
https://www.youtube.com/watch?v=S-Jo-djilvo (Si apre in una nuova finestra)Sabine Hark:
https://jungle.world/artikel/2021/38/der-weg-die-nestwaerme (Si apre in una nuova finestra) https://www.genialokal.de/Produkt/Sabine-Hark/Gemeinschaft-der-Ungewaehlten_lid_44540056.html (Si apre in una nuova finestra) https://geschichtedergegenwart.ch/mit-dem-virus-leben-politiken-der-sorge-in-der-pandemie/ (Si apre in una nuova finestra)