Hallo!
Ein Newsletter ist ausgefallen. Das tut mir Leid. Es ging mir schlecht, aber es ist mir wieder nicht gelungen, Corona zu bekommen. Während es mir schlecht ging, hörte ich dann von den mobilen Krematorien des russischen Militärs und verfolgte die Debatte, ob die Fotos davon echt seien und ob man wirklich beweisen könne, dass sie zur Vertuschung von Massakern an der ukrainischen Zivilbevölkerung dienten und nicht zum Entsorgen der Leichen der eigenen gefallenen Soldaten. Davon ging es mir nicht besser. Die zweite Deutung des Einsatzes der mobilen Krematorien fand ich für das Ansehen der russischen Armee und mein Bild der Menschheit nicht förderlicher. Und mein allgemeines Gefühl der Trostlosigkeit machte es mir dann schwer, einen Newsletter zu schreiben, der sich ja komplexeren Formen von Trost widmen wollte.
Aber es ist, wie es ist. Vielleicht sollte dieser Newsletter ab jetzt unregelmäßig erscheinen, um sich unserer Wirklichkeit anzupassen, in der es immer weniger Regelmäßigkeiten gibt, ob bei der Leichenentsorgung oder beim Wetter. Er käme dann erst zwei Mal die Woche, wie eine Hitzewelle, und dann wieder nach drei Wochen wie der lang erwartete Regen. Mal sehen. Hier Unregelmäßigkeit fest anzukündigen, wäre schon wieder zu viel Regelmäßigkeit.
1. Verschwinden
Am Samstag vor zwei Wochen habe ich Kunst im Gebüsch gefunden. Ich hatte ich Frühschicht als Aufsicht des Kunstprojekts „Transgression“ im Volkspark am Weinberg in Berlin, 8-10h. Meine Lebensgefährtin Elisa Duca hatte das Projekt geleitet, und sie hatte eine eigene Arbeit in den Park gestellt: Vier Stelen aus Eis mit grellbunten Kleidungsstücken darin. Fast fashion, die nun ganz slow freigesetzt wurde, weil ihr Behältnis wegschmolz. Wobei die Elemente die Inszenierung des Kunstwerks übernahmen und eine von der Künstlerin unbeeinflussbare Performance dirigierten. Die Arbeit heißt „#wiwt“, auf Instagram ein Hashtag der Fastfashionistas für What I wore today. Hier ein Foto vom Anfang.
Aufsicht über sowas ist kompliziert. Am Samstagmorgen war da viel crushed ice und nasser Stoff, und bald war auch schon der Müllmann da, der alles abräumen wollte. „Ach, das ist Kunst? Ich hätte das weggemacht!“ Nein, bitte nicht wegmachen. Plötzlich lebte ich die berühmte Szene mit der Fettecke von Beuys und der Putzhilfe nach, die sie für Dreck hält.
Mein Verhältnis zu Menschen ist auch kompliziert. Grundsätzlich nehmen sie für mein Empfinden immer zu viel Platz für sich in Anspruch, drängeln sich vor und drängeln sich durch, besonders im Freizeitmodus, wenn es wirklich ganz um sie gehen muss und sie sich unter hohem Konkurrenzdruck ihr Recht auf Freude erkämpfen.
Wenn einem auf dem Fahrrad zum Beispiel etwas Undefinierbares den Weg versperrt, radelt man mitten hindurch. Schließlich kann einen niemand zwingen, sich mit etwas auseinanderzusetzen, das Kunst sein könnte, es aber nicht sein muss. Freiheit! Ich bin erstaunt, wie viel Abscheu Kunst in Park schon zwischen acht und zehn Uhr früh am Wochenende erzeugt, wie viel Zorn. Wie viel Druck, die eigene Normalität gegen das Unkalkulierbare, die Unregelmäßigkeit durchzusetzen.
Hier ein Foto vom Ende.
Nach der Schlacht. Riesen oder Tiere haben über Nacht Kunstbrocken auf den Rasen befördert, ein friedliches Bild. Ich bin nur froh, dass ich nicht als Aufsicht dabei war. Aus den Spuren von Verfall und Zerstörung kann ich ästhetischen Genuss ziehen, aus den Vorgängen selbst eher nicht.
Und verschwinden, in den Rasen sickern würde ich gerade selbst ganz gern.
2. Lesebefehl
Eben konnte ich das Buch nicht wiederfinden, dass ich euch allen heute anbefehlen wollte, und dann fand ich es nach langem Suchen in einem Stapel zwischen James Joyce und Laurence Sterne. Ohne Witz. Unbeschädigt fand ich es da. Unbeeindruckt.
In dem Buch gibt es ein Ich und eine Constanze, Kinder, den Tod, das Unsichtbare Kind, vermutlich vom Kapitalismus zerrüttete Wohnverhältnisse, einen Alltag, der pausenlos bewältigt werden muss, einen grandiosen Berg von Kleinlichkeiten, einen unversöhnlichen Zorn, gemildert nur durch erschöpftes Einverständnis mit dem Absurden (für die Älteren unter uns: Das Absurde ist freundlich mild wie der lächelnde Zauberer Pan Tau).
Das Buch ist mindestens genialisch und sehr sehr lustig, aber auch sehr sehr traurig. Es enthält also alles, was auch ein anständiger Roman enthält, nur dass die Autorin sich weigert, sich vom Buchmarkt die Klugheit ausreden zu lassen. Diese Weigerung glitzert in jedem einzelnen Satz. Das Buch heißt „Die Woche“, geschrieben hat es Heike Geißler, und es ist bei Suhrkamp erschienen. Es ist die Art von Buch, die einem die Hoffnung zurückgibt, dass Literatur – nicht-restaurative Literatur – vielleicht doch noch geht. Bitte lesen! Ich lege allen dieses Buch nicht nur ans Herz, sondern auch an den Kopf.
3. Schlusswort
Danke fürs Warten, danke fürs Lesen, danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht. Für den ausgefallenen Newsletter möchte ich mich hier noch einmal entschuldigen, aber die Rücktrittsforderungen der CDU lehne ich ab. Ich gehe wieder schweigen und werfe meine finstersten Gedanken in ein kleines mobiles Krematorium, dass ich mir für meinen Schreibtisch gebaut habe.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.
Links
Elisa Duca:
http://elisaduca.de/ (Si apre in una nuova finestra)Heike Geißler:
https://www.genialokal.de/Produkt/Heike-Geissler/Die-Woche_lid_45890731.html (Si apre in una nuova finestra)