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In der dritten Ausgabe: CLARA COSMOS +++ MONA LISA +++ NEBENKAPITALISMUS  +++ HOLZFÄLLER +++ SANDY ARCHER +++ DAVID GRAEBER +++ NEANDERTALER +++ BÄUME +++ BOEUF BOURGUIGNON

Hallo!

Wir sind gerutscht. Wir sind angekommen und wissen nicht wo.

Eine neue Abonnentin dieses Newsletters aus Leipzig fotografiert unter dem Namen Clara Cosmos und hat im Louvre Menschen aufgenommen, die auf die Mona Lisa blicken. Ich mag diese Fotos sehr. Hier ist eines davon:

Wo blickt hier wer hin und warum? Wo befinden sich die einzelnen Menschen? Und wo kommen sie her? Es könnte sein, dass sie alle etwas völlig anderes erleben. Es ist ein Wunder, dass sie es aushalten, so verschieden zu sein und dabei so dicht nebeneinander zu stehen.

Alle Blicke wirken fragend.

Womit über die Wirkung von Kunst viel gesagt wäre.

So viel zur Gruppentherapie, die ich hier anbiete – heute: Kunsttherapie. Eine andere wichtige Abonnentin dieses Newsletters (die mit dem Hund) ruft immer „Von Kunst verstehe ich nichts!“, sobald das Gespräch droht, auf so ein Thema zu kommen. Aber was gibt es da nicht zu verstehen? Es genügt ja manchmal, sich auf die eigene Ratlosigkeit einzulassen. Es mit anderen nebeneinander auszuhalten. Weniger darf Kunst nicht wollen. Schlechte Kunst ist Kunst, die zu wenig Ratlosigkeit provoziert.

Das alles scheinen die Fotos von Clara Cosmos aus dem Louvre zu wissen. Es ist eine ganze Serie, und ich verlinke sie unten.

1. Die Lage

Ich habe mir meinen Newsletterjahrgang 2021 noch einmal genau angeguckt, alle beiden, vielleicht etwas zu kurzen Texte, und mir war sofort klar, worauf das hinauswill – auf einen leicht anironisierten Öko-Mystizismus. „Anironisiert“ bedeutet dabei: auf einen Öko-Mystizismus, der darauf verzichtet, so krass selbstverliebt daherzukommen, wie die ganzen anderen Mystizismen. Einen ohne Erlösungsversprechen, ohne Paradies oder Nirvana, zu denen man sich erlebnisökonomisch den Zugang erkaufen kann.

Im Grunde ist dies dann wohl die Einladung zu einer Sektengründung, und das ist natürlich sehr zeitgemäß. Wir spüren längst, wie sich bei ständig steigenden Verängstigungsniveau explosionsartig Sekten bilden, wie Irrsinn sich auskristallisiert zu Splittergruppen, zu Gemeinschaften, die sich davor schützen, die eigentliche Ursache der Verängstigung zu erkennen. Zum Beispiel die menschengemachte Klimakatastrophe. Und die sich stattdessen auf die Angst davor einigen, dass fremde Mächte ihnen etwas Vertrautes wegnehmen wollen, zum Beispiel den SUV, um dann Befreiung im Widerstand zu suchen. Wir sehen schon ganze Landstriche zur Entsolidarisierungsbekräftigung Reenactments der Mad-Max-Filme üben, innerlich und sicher bald auch äußerlich.

Die Sekte, die mein Newsletter vielleicht wider mein besseres Wissen gründen möchte, an mir vorbei sozusagen, wäre eine, die ein gewisses Einverständnis mit dem Wahnsinn anbietet, als Voraussetzung, ihn zu überwinden – denn besiegen lässt er sich wahrscheinlich nicht.

Dazu noch Nebenkapitalismus, als Bonus-Angebot für zahlende Abonnent*innen eventuell. Nicht Antikapitalismus – ich möchte dem lieben Kapitalismus keine Angst vor mir machen. So viele Menschen sind süchtig nach ihm und halten ihn für eine Staatsform. Ich bin gar kein Staatsfeind. Systemtreue Staatsfeindlichkeit, staatliche Staatsfeindlichkeit und die Angst des Staates vor der eigenen Autorität haben in den beiden vergangenen Jahren Tausende Leben gekostet. Der Irrtum des Staats, sich mit „der Wirtschaft“ zu verwechseln, hat in der Pandemie Tausende Leben gekostet.

Und besiegen lässt dieser Kapitalismus sich wahrscheinlich nicht. Vielleicht (dies sei auch allen angehenden Öko-Terrorist*innen gesagt) ist das Siegen überhaupt uninteressant geworden, weil es auch nur eine Ausdrucksform der sportlichen Konkurrenz- und Wettkampfkultur genau jener Männerwelt ist, die uns gerade den Untergang bringt.

Ulrike, der Kampf geht nicht weiter. Und nicht kämpfen heißt nicht, besiegt zu sein. Dieser Newsletter möchte im Grunde also einführen in das große Nebenuniversum der Unsportlichkeit. Nicht im Sinne der Unfairness (schon mal aufgefallen, dass Fairness im Sport immer nur behauptet wird?), sondern um Sinne der Verweigerung vergifteter Rituale.

(Das Schlüsselwort dieser Newsletterfolge lautet offenbar „neben“.)

Aber jetzt etwas ganz anderes.

2. Promiklatsch

Es war einmal in Amerika, da ließ der Präsident Ronald Reagan die kleine Insel Grenada überfallen, und ich erfuhr im Supermarkt eines Holzfällerdorfs in Nordkalifornien davon, an der Kasse. Ich war dort gleich nach dem Abitur gelandet und besuchte eine Bewegungstheaterschule. Mit Hilfe der Fluglinie PanAm, die es heute nicht mehr gibt, hatte ich mich selbst aus einer Heimat vertrieben, die ich beklemmend fand. Der Kulturschock war so heftig, dass ich seitdem verstehe, was es bedeutet, es habe jemanden irgendwohin „verschlagen“. Man könnte auch sagen, dass mich eine riesige Ohrfeige an diesen Ort versetzt hatte, und ich hatte sie mir selbst verpasst, mit aller Kraft.

Die Gegend war zu einem Fünftel von Aussteigern aus der Szene des San Francisco der Sechziger- und Siebzigerjahre bewohnt, und zu vier Fünfteln aus harten, meistens betrunkenen Rednecks. Ich war der Jüngste in der Klasse und trug einen dünnen hellblauen Overall und links einen auffälligen Ohrring. In der Holzfällerbar – der „Logger Bar“ - fragte mich eines frühen Abends ein Mann aus. Aus Deutschland würde ich kommen, um hier auf eine Theaterschule zu gehen?

Er fand das nicht lustig. Er meinte es nicht gut mit mir.

Ein älterer Schüler der Schule kam herein, Bill, neben seinen Theaterambitionen Schafzüchter in Australien. Er peilte die Lage, platzierte sich geschickt zwischen uns und verwickelte den Mann strahlend in ein Gespräch unter Kerlen und winkte mir unauffällig, zu verschwinden, sodass ich unverprügelt davonkam.

Später erzählte Bill mir, der Mann habe sich beim Holzfällen mit der Axt den Fuß gespalten, sei zu hart gewesen, um sich behandeln zu lassen, und habe mit dem blutenden gespaltenen Fuß im Stiefel am Tresen gesessen und nach Opfern für seinen Zorn gesucht.

(Einmal lud mich am gleichen Tresen ein anderer Mann zu einem Drink ein. Er war sehr alt und sehr nett und erzählte mir, er habe noch erlebt, wie die Bar Schwingtüren gehabt habe und manchmal jemand auf dem Pferd hereingeritten sei. Das andere Lokal des Orts sei das Indianerreservat gewesen, das Gefängnis der Indigenen. Wir gingen dort am Wochenende manchmal tanzen, Bowie, „Let’s Dance“.)

Sandy Archer war meine Lehrerin im Fach Commedia dell’Arte. Ihre Lebensgeschichte erzählte sie mir so: Sie sei Ende der Fünfzigerjahre mit 19 zusammen mit einer Freundin nach Los Angeles gezogen, weil sie Filmstar werden wollte. Eines Tages öffneten sich ihr die Flügeltüren zum Büro eines großen Produzenten, und als er ihrer ansichtig wurde, rief er: „Du! Du wirst der Star meines neuen großen Films!“ Der Film sollte zwei Schauspieler als Jungstars lancieren, und zwar Sandy und William Shatner, der später als Captain Kirk des Raumschiffs Enterprise in einem lustigen Pyjamakostüm unsterblich werden würde.

Es gab aber Bedingungen. Der Produzent wollte mit ihr Essen gehen, sie heiraten etcetera. Sandy, kurz vor dem Ziel ihrer Träume, ergriff entsetzt die Flucht und wurde kein Filmstar.

Dies ist eine #MeeToo-Geschichte. Ich weiß nicht, ob Essen gehen und heiraten Wollen in Sandys Erzählung diskrete Umschreibungen anderer Vorgänge waren. Aber jeder wusste, wie es lief, natürlich. Sandy wusste es, als es ihr geschah, und ich wusste es, als sie es mir erzählte. Es war eben so. Es wird erst jetzt als kritisierbar und änderbar betrachtet.

Sandy politisierte sich und gründete mit ihrem Lebensgefährten R.G. Davis die „San Francisco Mime Troupe“, die Agit-Prop-Straßentheater machte, ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde. Der Legende nach wurden die Schauspieler*innen nach jeder zweiten Vorstellung verhaftet. 

(Das Foto stammt aus einem Nachruf, Link unten.) Zu der Zeit, als ich Sandy kennen lernte, lebte sie in dem kleinen Holzfällerort Westwood tief in der Sierra Nevada, in einer atemberaubenden Landschaft, und arbeitete therapeutisch mit misshandelten Kindern.

Aus Deutschland, wohin ich irrtümlich zurückgekehrt war, verwickelte ich sie in einen langen Briefwechsel. Mich quälte damals die Frage nach der Unterscheidung von Ideologie und Religion; sie hat immer freundlich geantwortet. 2010 ist sie zweiundsiebzigjährig an Krebs gestorben.

3. Buchtipps

Das nächste heiße Buch wird natürlich „Anfänge“ von David Graeber und David Wengrow, das auf Deutsch Ende Januar bei Klett-Cotta erscheint. Die Autoren, von denen einer schon nicht mehr lebt, wollen die ganze Menschheitsgeschichte durchschütteln und zerpflücken, was es an weiße Westmänner verherrlichenden Narrativen gibt. In einem Vorabdruck, den man schon im neuen „Merkur“ lesen kann, wird vorgeschlagen, die Aufklärung probeweise als eine Art frühen, von indigenen amerikanischen Denkern inspirierten Akt des Antikolonialismus zu verstehen.

Ich hatte 2021 noch ein paar Bücher auf meinem Stapel, die unsere Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen. In „Kindred“ sammelt zum Beispiel die Archäologin Rebecca Wragg Sykes Belege für die Möglichkeit, dass Homo sapiens nicht die Krone der Schöpfung ist, dass die Neandertaler eigene Zeugnisse von Kultur und künstlerischer Tätigkeit hinterlassen haben und dass sie nicht von den überlegenen Menschen ausgerottet wurden, sondern friedlich mit ihren koexistiert und sich mit ihnen gepaart haben.

Und in „Finding the Mother Tree“ erzählt die kanadische Ökologin Suzanne Simard die Geschichte ihrer Holzfällerfamilie und entwickelt ein Bild des Waldes als Nervensystem aus komplex miteinander verwobenen Elementen, dass man sich nicht unbedingt weniger intelligent denken muss als das menschliche Superhirn. (Die erzählte Familiengeschichte  führt mich natürlich wieder hart zurück in mein eigenes Holzfällerdorf.)

Auch diese beiden Bücher erscheinen im Frühjahr auf Deutsch, unten die Links. Jedenfalls: Die Pyramide der Schöpfung mit uns Menschen als Cherry on Top war wahrscheinlich nur unsere letztlich tödliche Wahnvorstellung.

4. Schlusswort

Danke fürs Lesen. Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht!

Dieser Newsletter entstand unter dem Einfluss starker Betäubungsmittel, die mir von meiner neuen Zahnärztin gespritzt wurden, war hoffentlich ok? Das heutige Newsletterschlüsselwort „neben“ heißt für mich jedenfalls „neben mir stehen“, und deshalb lege ich mich jetzt mal neben dem Sofa ab.

Links und Vids

Clara Cosmos im Louvre

http://claracosmos.de/mona-lisa/ (Si apre in una nuova finestra)

William Shatner

https://www.youtube.com/watch?v=CthW1MgWYuE (Si apre in una nuova finestra)

Ein Nachruf auf Sandy Archer

https://www.sfgate.com/bayarea/article/Sandra-Archer-Mime-Troupe-actress-in-60s-dies-3166728.php (Si apre in una nuova finestra)

Noch einer, mit Video

https://missionlocal.org/2011/03/the-san-francisco-mime-troupe-commemorates-actress-sandy-archer-1938-2010/ (Si apre in una nuova finestra)

Graeber, Wengrow: „Anfänge“, übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen

https://www.genialokal.de/Produkt/David-Graeber-David-Wengrow/Anfaenge_lid_45457868.html (Si apre in una nuova finestra)

Rebecca Wragg Sykes: „Kindred“

https://www.genialokal.de/Produkt/Rebecca-Wragg-Sykes/Kindred-Neanderthal-Life-Love-Death-and-Art_lid_45385151.html (Si apre in una nuova finestra)

auf Deutsch: „Der verkannte Mensch“, erscheint im April, übersetzt von Jürgen Neubauer:

https://www.genialokal.de/Produkt/Rebecca-Wragg-Sykes/Der-verkannte-Mensch_lid_46016398.html (Si apre in una nuova finestra)

Suzanne Simard: „Finding the Mother Tree“

https://www.genialokal.de/Produkt/Suzanne-Simard/Finding-the-Mother-Tree_lid_43890565.html (Si apre in una nuova finestra)

auf Deutsch: „Die Weisheit der Wälder“ (uff...), erscheint im April, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié:

https://www.genialokal.de/Produkt/Suzanne-Simard/Die-Weisheit-der-Waelder_lid_46016510.html (Si apre in una nuova finestra)

Während der Verfertigung dieses Newsletters habe ich für mich allein gekocht, weil die Abonnentin, die mitessen sollte, gerade anderswo Corona hatte: 

https://www.franzoesischkochen.de/boeuf-bourguignon-rindfleisch-burgunder-art/# (Si apre in una nuova finestra)

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